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Franz Mehring 19060207 Drückeberger

Franz Mehring: Drückeberger

7. Februar 1906

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung, Nr. 31, 7. Februar 1906. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 140-142]

Kaum hatten die preußischen Mitglieder des sozialdemokratischen Parteivorstandes ihre unseren Lesern bekannte Petition an den preußischen Landtag veröffentlicht1, als die Notwendigkeit dieser Petition aufs schlagendste durch die Gegner bewiesen und ihr Zweck, nämlich die braven Freisinnigen und die nicht minder braven Ultramontanen endlich auf dem Rhodus der preußischen Wahlreform tanzen zu lassen, vollkommen gerechtfertigt wurde. Ein liberales Blatt, die „Weserzeitung", meint, so weit seien die Dinge denn doch noch nicht gediehen, dass die Sozialdemokratie nur die Erwartung auszusprechen hätte, um alle Parteien marschbereit zu machen und nach Wunsch und Geheiß der Sozialdemokratie einschwenken zu lassen. Die Wahlrechtsreform in Preußen sei schon gefordert worden, noch ehe die Sozialdemokratische Partei ihre Stimme erhoben hätte oder sich auch nur darüber schlüssig geworden wäre, ob sie überhaupt auf eine Verbesserung des preußischen Wahlrechts und auf eine Beteiligung an den Landtagswahlen Gewicht legen sollte.

Denselben Ton schlägt die „Kölnische Volkszeitung" an, das bedeutendste Blatt der Ultramontanen Partei; nur dass sie um so gröber wird, in dem Maße, wie das Gewicht größer ist, das die Zentrumspartei in die Waagschale der preußischen Wahlreform werfen könnte, wenn sie anders wollte. Das Kölner Blatt meint, der sozialdemokratischen Presse sei die tönende Phrase so zur zweiten Natur geworden, dass sie auch dann nicht anders als mit eitler Prahlerei, überspannten Drohungen und grotesker Beschimpfung der Gegner zu arbeiten wisse, wenn sie ganz auf diese angewiesen sei, um ihre Wünsche auch nur teilweise zu erreichen. Die Sozialdemokratie erwecke mit diesem Spiele, das doch nur geeignet sei, ihren Forderungen entgegenzuwirken, den Verdacht, dass es ihr gar nicht so ernst gemeint sei mit den Forderungen, die sie angeblich im Arbeiterinteresse erhebe. Alles, was sie tue und treibe, mache den Eindruck, dass damit nur agitatorische Zwecke verfolgt würden; nicht das Arbeiter-, sondern das Parteiinteresse scheine für die gegenwärtige Führung der Sozialdemokratie oder mindestens für ihre Presse maßgebend zu sein. Wenn infolgedessen an manchen Stellen eine recht flaue Stimmung für eine Wahlrechtsreform in Preußen zu herrschen scheine, so habe die Sozialdemokratie dies zum größten Teil ihrem eigenen Gebaren zuzuschreiben.

Wir haben die ganze Litanei, so abgeschmackt und abgestanden sie ist und gerade deshalb, etwas ausführlicher wiedergegeben, damit unsre Leser selbst prüfen können, wie gründlich die Petition der sechs Vorstandsmitglieder sowohl die freisinnigen wie die ultramontanen Füchse aus dem Bau geräuchert hat. Diese Drückeberger sind ganz auf den Ton des Ministers Puttkamer mit dem großen Zitatensack geeicht, der die jeweilige Verlängerung des Sozialistengesetzes zu begründen pflegte, indem er sagte: Das Gesetz hat so vortrefflich gewirkt, dass seine Abschaffung ein Verbrechen wäre, oder indem er sagte: Das Gesetz hat gar nicht gewirkt, so dass es verlängert werden muss, um die gewünschte Wirkung zu erreichen. Genau nach demselben Rezepte verfahren die freisinnigen und die ultramontanen Drückeberger mit der preußischen Wahlreform. Solange sich das Proletariat nicht darum zu kümmern schien, legten sie einfach die Hände in den Schoß, aber wenn die Arbeiter dafür eintreten, so schreien sie: Stört uns nicht in unserm segensreichen Wirken durch eure „eitle Prahlerei", eure „überspannten Drohungen", eure „groteske Beschimpfung der Gegner" ; sonst machen wir in „flauer Stimmung" für die Wahlreform.

Es ist nichts als ein abstoßender Humbug, wenn die freisinnigen und die ultramontanen Helden behaupten, diese Wahlreform sei in ihren Händen gut aufgehoben, und es ist, gelinde gesagt, eine Entstellung der Tatsachen, wenn die Arbeiter sich gleichgültig gegen sie verhalten haben sollen. Wir haben schon einmal daran erinnert, dass gerade der proletarische Widerstand gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht den äußeren Anstoß zur ersten Organisation der deutschen Sozialdemokratie gegeben hat. Die Weigerung der Fortschrittler in der preußischen Konfliktszeit, die Wiederherstellung des allgemeinen, den Massen durch einen Staatsstreich geraubten Wahlrechts auf ihr Programm zu setzen, rief die Agitation Lassalles hervor, und mit den Fortschrittlern stießen die Ultramontanen damals in dasselbe Horn; man lese nur in den Merkwürdigkeiten Peter Reichenspergers, auf wie intimem Fuße dieser damals angesehenste Führer der Ultramontanen mit Ehren-Manteuffel stand, dem Vater des Dreiklassenwahlrechts. Also „auf eine Verbesserung des preußischen Wahlrechts" hat die deutsche Sozialdemokratie vom ersten Augenblick ihres Bestehens an „Gewicht gelegt", und ihre „Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen" ist ihr nur insofern zweifelhaft gewesen, als sie sich keinen Nutzen davon versprach, solange eben das von ihr stets bekämpfte Dreiklassenwahlrecht besteht.

Erst ihrer „eitlen Prahlerei", ihren „überspannten Drohungen" und ihrer „grotesken Beschimpfung der Gegner" ist es zu danken, dass den Freisinnigen und den Ultramontanen ein platonisches Interesse für eine preußische Wahlrechtsreform eingeflößt wurde. Erst seitdem die Sozialdemokratie das Proletariat mit der Erkenntnis von der unerlässlichen Notwendigkeit des allgemeinen Wahlrechts durchdrungen hatte, wurde es für diejenigen Parteien, die ohne eine gewisse Fühlung namentlich mit der industriellen Arbeiterschaft nicht auskommen können, zu einer unerlässlichen Notwendigkeit, wenigstens mit dem Munde oder auf dem Papier das allgemeine Wahlrecht für den preußischen Landtag zu fordern. Aber mit solch einem platonischen Interesse ist kein Hund hinter dem Ofen hervorzulocken, geschweige denn ein ostelbischer Junker aus einem Vorrechte zu vertreiben. Und wenn die Freisinnige Partei hundert Resolutionen zugunsten einer preußischen Wahlreform fasst und die Ultramontane Partei deshalb zehn demonstrative Interpellationen einbringt, was sie übrigens schon seit Jahrzehnten nicht mehr getan hat, so ist es eben das, und den Verteidigern der Dreiklassenwahl ist damit noch nicht einmal Terrain von der Breite eines Strohhalmes abgewonnen.

Noch niemals ist eine Wahlreform anders durchgesetzt worden als durch den „Druck von außen". Das wissen auch die bürgerlichen Parteien sehr gut; im Jahre 1832 hat die englische Mittelklasse, im Jahre 1847 hat die französische Bourgeoisie danach gehandelt. Wenn jetzt aber die Freisinnigen und die Ultramontanen sagen: Wir wollen auch die preußische Wahlreform, aber wir wollen sie nicht, wie die Sozialdemokratie, durch eine Massenagitation durchsetzen, so heißt das in ehrlichem Deutsch: Wir wollen die preußische Wahlreform, aber wir wollen sie nicht auf dem einzigen Wege, auf dem sie möglich ist. Wenn nun gar die Arbeiter die geringste Miene machen, die Biedermänner bei ihrem feierlichen Worte zu nehmen, so erheben diese ein gewaltiges Geschrei über angebliche Vergewaltigungen ihrer antiken Charaktere. Was uns anbetrifft, so haben wir von solchen Drückebergern nie etwas anderes erwartet. Sollen wir warten, bis wir aus ihren Händen das allgemeine Wahlrecht für den preußischen Landtag empfangen oder es auch nur mit ihrer Hilfe erobern, so werden wir noch am Sankt-Nimmerleins-Tag die Geprellten sein. Es gibt nur ein Mittel, den Trotz der ostelbischen Junker zu brechen, und dies Mittel besteht darin, dass die deutsche Arbeiterklasse allen bürgerlichen Arbeiterfreunden den Abschied gibt und sich in immer dichteren Scharen um das sozialdemokratische Banner sammelt.

1 Gemeint ist der Antrag Nr. 9 an die XVI. Kommission des Hauses der Abgeordneten, „zu empfehlen: Das Haus der Abgeordneten wolle beschließen: unter Ablehnung des vorgelegten Gesetzentwurfs, betr. Vermehrung der Mitglieder des Hauses der Abgeordneten und Änderung der Landtagswahlbezirke und Wahlorte, die Königliche Staatsregierung aufzufordern, baldmöglichst einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch welchen für die Wahlen zum Abgeordnetenhause das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht zur Einführung gelangt." Sammlung der Drucksachen des Preußischen Hauses der Abgeordneten (Anlage zu den stenographischen Berichten). 20. Legislaturperiode, II. Session 1905/06, Bd. 5, Berlin 1906, Drucksache 203, S. 2599.

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