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Franz Mehring 19060117 Moloch hat Durst

Franz Mehring: Moloch hat Durst

17. Januar 1906

[Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Erster Band, S. 537-540. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 127-131]

Toll geworden – das ist ein unhöfliches Wort, aber die Wahrheit geht über die Höflichkeit, und es hieße die Wahrheit vergewaltigen, wenn man die staatsmännischen Paroxysmen, denen „Besitz und Bildung" augenblicklich verfallen sind, mit einem höflicheren Worte kennzeichnen wollte.

Es ist schon Tollheit ohne jede Methode, dass „Besitz und Bildung" gerade die friedlichen und gesetzlichen Kundgebungen, die das preußische und sächsische Proletariat am nächsten Sonntag für das ihm geraubte Wahlrecht veranstalten will, dazu missbrauchen möchte, ihres Herzens lang gehegtes Sehnen zu stillen und sich einmal gründlich in Arbeiterblut zu baden. Denn unter allen Streitfragen zwischen den besitzenden und arbeitenden Klassen in Deutschland mag es keine geben, bei der das sonnenklare Recht so unzweideutig selbst für den vorurteilsvollsten Philister auf der Seite der arbeitenden Klassen ist, wie gerade diese. Reaktionäre, die sich noch im notdürftigen Besitz ihrer fünf Sinne befinden, müssten am Ende einsehen, dass eine Niedermetzelung von Arbeitermassen aus keinem anderen Grunde, als weil diese Massen für den preußischen und den sächsischen Landtag dasselbe Wahlrecht beanspruchen, das für den Reichstag seit bald vierzig Jahren besteht, in ihren Folgen auf einen Selbstmord der herrschenden Reaktion hinauslaufen würde.

Aber sie sind eben nicht mehr im notdürftigen Besitz ihrer fünf Sinne. Das geht schon aus den Mitteln hervor, womit sie das Massaker einzuleiten suchen, von dem sie sich einbilden, dass es den Befreiungskampf der Arbeiterklasse für immer im Blute der Arbeiter ersticken würde. Die „Tägliche Rundschau" – ein selbst für kapitalistische Begriffe ungewöhnlich unsauberes, aber von den reaktionären Scharfmachern gern für solche Streiche benutztes Organ, mit denen sich die „Kreuz-Zeitung" und die „Deutsche Tageszeitung" immerhin nicht besudeln mögen – verbreitete die holde Mär, die Teilnehmer an den achtzig sozialdemokratischen Massenversammlungen, die am nächsten Sonntag stattfinden werden, würden sich nach deren Schluss in einem Riesenzug vor das Schloss begeben, um das – Ordensfest zu stören. Gewiss, es hat immer reaktionäre Spitzel gegeben, aber so blödsinnig waren sie früher wirklich nicht. Die Ohm und Goedsche des Jahres 1848, die in dieser Beziehung bisher als Gipfel galten, können sich nunmehr begraben lassen; die Spitzel der „Täglichen Rundschau" haben ihnen den bis dahin unbestrittenen Lorbeer entrissen. Und jetzt greint die reaktionäre Presse über einen „blamablen" Rückzug der Sozialdemokratie, weil der Parteivorstand jedes Attentat auf die Kinkerlitzchen der Monarchie verleugnet hat!

Doch verlassen wir eine Presse, die in diesen Tagen vollauf Lassalles gescholtenes Wort rechtfertigt, man dürfe in solchen Kot nicht eintreten, weil man ihn mit keiner Kratzbürste der Welt mehr von seinem Stiefel bringen könne. Steigen wir höher hinauf, in das Geldsackparlament, das ebenfalls mit einer Orgie die Kundgebungen eingeleitet hat, die das deutsche Proletariat für nächsten Sonntag plant. Es waren namentlich drei Junker, die ein wildes Geheul gegen die Arbeiterklasse ausstießen: v. Erffa, v. Zedlitz und v. Arnim. Sie teilten sich so in ihre erhabene Aufgabe, dass Erffa nach dem schamlosesten Missbrauch der Klassenjustiz, Zedlitz nach einer Strangulierung des Reichstagswahlrechtes und Arnim nach einem neuen Sozialistengesetz brüllte. Der Grad der Tollheit, von der das edle Kleeblatt besessen war, mag wenigstens an einem Beispiel beleuchtet werden. Bekanntlich war durch das preußische Gesetz vom 8. April 1848, unter dem auch der Name eines Arnim stand, das allgemeine Wahlrecht verliehen, dann aber ein Jahr darauf durch einen Staatsstreich Friedrich Wilhelms IV. und seines edlen Handlangers Manteuffel kassiert worden. An diese Tatsache hatte ein sozialdemokratisches Blatt erinnert, und daraufhin verlangte der Junker v. Arnim ein neues Sozialistengesetz, um so „nichtswürdige" und „schamlose" Lügen, die mit dem Strafgesetzbuch nicht zu treffen wären, gebührend zu züchtigen. „Ich habe in den Berichten über die Ereignisse von 1848 auch nicht einen Schimmer von der Wahrheit dieser Behauptungen gefunden", tobte er, und die entzückte Junkermehrheit schrie dazu: Hipp hipp hurra! Was kann man zu solchem Gebaren aber anderes sagen als: toll geworden?

Gehen wir noch höher hinauf, so finden wir die preußischen Minister des Innern und der Justiz. Sie hatten natürlich zu den Ausbrüchen der edlen Junkerseelen nichts zu sagen als Ja und Amen. Mit heiligem Eifer erhoben sie ihre Finger zum Vernichtungsschwur gegen politische Gleichberechtigung der Arbeiterklasse. Herr v. Bethmann Hollweg hat schon seine ganze Polizei mobil gemacht zur hitzigen Jagd auf die sozialdemokratischen Flugblätter, die zu den Massenversammlungen des nächsten Sonntags vorbereiten sollen, und die Staatsanwälte haben das Hifthorn des Herrn Beseler gehört, sogar über die preußische Grenze hinaus. Unser Leipziger Parteiblatt allein hat mit einem Schub ein ganzes Viertelhundert Anklagen ins Haus gesandt bekommen, wegen Presssünden, die in etwa ebenso viel Tagen verbrochen sein sollen; nicht nur nach Kalendernotizen und Buchhändlerinseraten greift die rächende Justiz, sondern über die deutschen Grenzen hinaus sogar nach den feinen und rein theoretischen Aufsätzen, mit denen Genosse Pannekoek von Zeit zu Zeit die „Leipziger Volkszeitung" erfreut. Sind diese Leute wirklich noch bei Sinnen?

Aber zweifeln wir lieber nicht daran, um nicht auch noch ihrem strafenden Arme zu verfallen! Und Herr Beseler ist in seiner Art gewiss konsequent. Dieser preußische Justizminister hat sich sofort als würdiger Nachfolger der Lippe und Schönstedt eingeführt, indem seine erste Amtshandlung war, den Grafen Pückler zu dem angenehmen Vergnügen einer Festungshaft zu begnadigen, nachdem ihn ein preußisches Gericht wegen seiner jahrelangen Agitation für Beraubung und Ermordung der Juden zu einer empfindlichen Gefängnisstrafe verurteilt hatte, seine zweite Amtshandlung aber, den lärmenden Junkern des Geldsackparlaments heilig und teuer zu versichern, es solle „energisch und streng" gegen die Sozialdemokratie eingeschritten werden, obgleich er die unabhängigen Gerichte nicht direkt dazu anweisen könne. Wegen dieses Zusatzes wird Herr Beseler von liberalen Blättern als strenger Hüter des Rechtes gefeiert, auf dass sich abermals ein gescholtenes Wort Lassalles erfülle: „Wo werden denn diese Kalbsköpfe ein Wörtchen gegen ihr heiligstes Palladium, den ‚preußischen Richterstand' bringen, bei dessen bloßer Erwähnung sie vor Entzücken schnalzen – sie sprechen schon das Wort nie anders als mit zwei vollen Pausbacken aus – und vor Respekt mit dem Kopfe auf die Erde schlagen!"

Um überhaupt davon zu reden, so kann es nichts Erbärmlicheres geben als die Haltung der Liberalen gegenüber der reaktionären Tobsucht. Herr Lenzmann faselt im Reichstag von der „schändlichen Revolution im Osten", und Herr Brömel kennt im Geldsackparlament kein höheres Ziel seiner sittlichen Entrüstung als einen donnernden Protest gegen die junkerliche Neckerei, dass er durch einen königlichen Staatsstreich das durch einen königlichen Staatsstreich vernichtete allgemeine Wahlrecht wiederherstellen lassen möchte. Dazu das verlogene Gerede, der „entschiedene Liberalismus" sei stets der getreueste Eckart des allgemeinen Wahlrechtes gewesen – als ob kein Mensch mehr wüsste, weshalb Lassalle mit der Fortschrittspartei auseinander kam! –, und das feige Abrücken von der augenblicklichen proletarischen Agitation für ein Recht, das die Biedermänner des Fortschritts und des Freisinns früher heftig verleugnet und erst, als sie darüber hinschmolzen wie Schnee an der Sonne, in nichts sagender und verlegener Weise befürwortet haben. Es sind nur einzelne liberale Blätter, wie die „Frankfurter Zeitung", und nur einzelne liberale Politiker, wie Herr Barth, die anständig genug denken, anzuerkennen, dass die Arbeiter das gesetzliche Recht haben, für das allgemeine Wahlrecht zu agitieren, und dies Recht auch dann nicht verlieren würden, wenn sie es in Straßenkundgebungen betätigten.

Doch um auf Herrn Beseler zurückzukommen, so hat er die Lobgesänge der liberalen Presse zwar nicht verdient, aber immerhin das Muster, wonach er gearbeitet hat, einem liberalen Historiker entnommen. Wir lesen irgendwo bei Treitschke: „Mir ist der Geist der Gesellschaft Jesu selten so deutlich entgegengetreten, als in den Arbeiterreden des Herrn v. Ketteler! Zuerst flammende Zornreden gegen die hartherzige Geldgier der Besitzenden und dann ein züchtiges Niederschlagen der frommen Augen und die brünstige Versicherung, die anwesenden Arbeiter gegen ihre Unternehmer aufzuhetzen sei keineswegs die Absicht des sanften Gottesmannes." Hier haben wir den neuen preußischen Justizminister, wie er leibt und lebt: erst die flammende Versicherung, die Sozialdemokratie müsse durch die Gerichte mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden, und dann die brünstige Versicherung, der strenge Hüter des Rechtes beabsichtige keineswegs, die preußischen Richter gegen die Arbeiter aufzuhetzen.

Und nun immer höher hinauf bis zu dem Reichskanzler, der diese Tage für geeignet hielt, um im Reichstag das staatserhaltende Bekenntnis abzulegen: Der Duellmord steht über dem Gesetz als Vorrecht einer feudalisierten Offizierskaste! Es gibt Leute genug, die so gedacht haben und so denken, die danach gehandelt haben und danach handeln, aber diesen Satz als Staatsmaxime zu verkünden von der obersten Stelle des Reiches aus, zur Zeit, da dieses herrliche Reich sein ganzes offizielles Räderwerk spielen lässt, um eine friedliche und gesetzliche Arbeiterbewegung für die Wiederherstellung geraubter Rechte zu erdrücken – dazu gehört eine, sagen wir geniale Kraft und Kunst, die nur Einer unter den Lebenden besitzt, nur Er selber, nur der große Fürst Bülow. Und wir werden nicht undankbar sein gegen den gefälligen Mann …

Die Opfer aber der allgemeinen Tobsucht bleiben gelassen und kühl bis ans Herz hinan. Sie denken: Moloch hat Durst, und so mag er verdursten. Sie werden am nächsten Sonntag tun, was sie wollen, und nicht, was ihre Gegner wollen, deren Wahnwitz, sei er nun naturwüchsig oder staatsmännisch erkünstelt, spurlos abprallen wird an ihrer ehernen Disziplin. Aber umkommen soll er doch nicht, dieser Wahnwitz; an ihm lässt sich auch dem letzten Arbeiter trefflich demonstrieren, wie sehr er an seiner Ehre und seinem Leben frevelt, wenn er in den herrschenden Klassen je etwas anderes erblickt als unversöhnliche Todfeinde.

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