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Franz Mehring 19061212 Preußische Polenpolitik

Franz Mehring: Preußische Polenpolitik

12. Dezember 1906

[Die Neue Zeit, 25. Jg. 1906/07, Erster Band, S. 353-356. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 210-213]

Unter den vielen dunklen Seiten der preußischen Geschichte ist in mancher Beziehung vielleicht die dunkelste die Polenpolitik des preußischen Staates.

Der unversöhnliche Gegensatz, worin dies junkerliche Gemeinwesen zur menschlichen Kultur und Zivilisation steht, mag sich an anderen Orten und zu anderen Zeiten gelegentlich noch drastischer bekundet haben, aber eine so ununterbrochene Kette einerseits der niedrigsten Leidenschaften und andererseits der unergründlichsten Verbohrtheit, wie seine Polenpolitik darstellt, mag er sonst schwer aufzuweisen haben. Seine Agrarpolitik, seine Militärpolitik, seine Schulpolitik hat hier oder da noch eine lichte Episode, und sei sie auch nur unter der derbe zugreifenden Faust eines ausländischen Eroberers entstanden, aber seine Polenpolitik ist immer und überall schwarz in schwarz gemalt: von der Zeit an, wo der alte Fritz den Hetzhund der Zarin Katharina bei dem ersten Raubanfall an Polen spielte oder wo die Günstlinge des dicken Wilhelm bei der endgültigen Aufteilung Polens sich mit der schamlosen Plünderung der polnischen Domänen die Taschen füllten, bis zur schmählichen Nasführung der polnischen Patrioten im Jahre 1848 und der neuesten polnischen Land- und Schulpolitik der preußischen Bürokratie.

Die Landpolitik, die Vertreibung der Polen von ihrem heimischen Grund und Boden durch deutsche Ansiedler ist ein altes Motiv der preußischen Polenpolitik. In einer Kabinettsorder vom 18. September 1796 verfügte Friedrich Wilhelm II., „dass in den neuen Acquisitions auf gute deutsche Landwirthe gehalten werden solle und dass erbliche und auf adeliche Güter konferierte Güter nicht wieder in die Hände der vormahligen Pohlen kommen" dürften. Eben dieser herrliche „Germanisierungsgedanke" gab den Ehren- oder Schanddeckel her, unter dem sich die Günstlinge des Königs, vom Kammerdiener Rietz, dem angeblichen Gatten der königlichen Hauptmätresse, bis zum General Blücher, dem späteren preußischen Nationalhelden, mit schmählichem Lug und Trug der polnischen Domänen bemächtigten. Es war genau derselbe „Germanisierungsgedanke", auf dem die polnische „Ansiedlungspolitik" beruht, die Bismarck vor zwanzig Jahren einleitete, nur dass heute Hunderte von Millionen nicht mehr verschleudert werden, um eine Handvoll Höflinge tu bereichern, sondern nun in erster Reihe die Polen selbst, die man aus ihrer Heimat vertreiben will, darin erst recht sesshaft zu machen. Äußerlich ist die preußische Polenpolitik nicht mehr so unmoralisch wie in den Tagen der Blücher und der Rietz, aber dafür stellt sie die Genialität des Säkularmenschen und seine Nachfolger in desto helleres Licht.

Polnisches Land ist so gut wie überhaupt nicht mehr zu verkaufen, umso reichlicher geht deutsches Land in polnische Hände über." Dies Ergebnis der preußischen Ansiedlungspolitik in den polnischen Landesteilen stellt im Dezemberheft der „Deutschen Monatsschrift" nicht etwa ein Sozialdemokrat oder sonstiger Reichsfeind oder Schwarzseher fest, sondern der freikonservative Abgeordnete v. Dewitz. Als die Ansiedlungskommission im Jahre 1886 eingesetzt wurde, kaufte sie den Hektar für 560 Mark; im Jahre 1904 musste sie 1025 Mark geben, im Jahre 1905 1184 Mark. Für das Jahr 1904 konnte man noch berechnen, dass die staatlich aufgewandten Kapitalien mit 1¾ Prozent verzinst wurden, dass also der Staat jedem Ansiedler im Durchschnitt etwa die Hälfte seiner Aufwendung schenkt, für jede Familie 10.000 Mark. Dieser Verlust ist in schnellem Steigen begriffen, denn jetzt erst kommen die Güter, die mit den künstlich gesteigerten Ankaufspreisen haben bezahlt werden müssen, allmählich zur Aufteilung. Bei den zuletzt aufgeteilten zwölf Gütern betrug der Ankaufspreis im Durchschnitt 721 Mark für den Hektar. Das ergab für den Staat noch eine Rente von 1,70 Prozent. Aber wie soll es werden, wenn erst die Güter durchschnittlich mit einem Ankaufspreis von 1100 bis 1200 Mark zur Besiedlung kommen?

Auf diese bange Frage antwortet Herr v. Dewitz zunächst mit dem melancholischen Geständnis, der Wille des Gesetzgebers sei fast vollständig lahm gelegt, denn selbst die Güter, die man ankaufe und besiedele, seien so gut wie gar keine polnischen mehr, sondern deutsche; umgekehrt kaufen die Polen in steigendem Maße deutsche Güter an, allein im Jahre 1906 schon mehr als 7.000 Hektar Großgrundbesitz. Völlig aussichtslos und moralisch unzulässig sei das Verfahren und die Hoffnung, durch Appell an die deutsche Gesinnung die einzelnen deutschen Besitzer davon abzuhalten, an Polen zu verkaufen. Es sei aussichtslos, auf diesem Wege etwas zu erreichen, weil der wirtschaftliche Druck in einzelnen Fällen viel zu stark sei, und moralisch unzulässig, weil, wenn ein nationaler Kampf gekämpft werde, die Gesamtheit die Last tragen müsse und nicht dem einzelnen, um dessen Ackerstücke zufällig die Fehde tobe, das Opfer des wirtschaftlichen und sozialen Status seiner Familie vielleicht für alle Zukunft zugemutet werden könne. Viele kümmerten sich überhaupt nicht um den nationalen Kampf, drohten an einen Polen zu verkaufen, erpressten dadurch einen unerhörten Preis von der Ansiedlungskommission und zogen mit dem Gelde in der Tasche ab.

Soviel über die Landfrage der preußischen Polenpolitik! Hören wir nun eine andere freikonservative Stimme über ihre Schulpolitik, über das so brutale wie sinnlose Verlangen des preußischen Kultusministeriums, dass polnische Kinder den Religionsunterricht in deutscher Sprache empfangen sollen. Dagegen wendet Professor Delbrück im Dezemberheft der „Preußischen Jahrbücher" zunächst ein: „Jedes tiefere Eindringen in das Wesen der Religion lehrt, und es gibt in der deutschen Literatur eine ganze Literatur darüber, die doch auch im Kultusministerium bekannt sein sollte, dass auch die höchsten Religionen und Konfessionen, wennschon sie ihren Begriffen nach universal sind und sein müssen, doch in jedem Volke eine gewisse nationale Färbung annehmen … Sosehr der Katholizismus durch die lateinische Sprache und das einheitliche Regiment des Papstes zusammengehalten wird, so sind doch zwischen dem italienischen, spanischen, französischen, amerikanischen, deutschen und polnischen Katholizismus recht merkliche Verschiedenheiten … das Volksempfinden oder, wenn man will, die Agitatoren drücken das so aus, die Jungfrau Maria verstehe bloß Polnisch."

Noch schlimmer als vom religiösen ist das Ergebnis für Delbrück vom pädagogischen Standpunkt. Er sagt: „Jeder Religionsunterricht muss wertlos werden und auf jede tiefere Wirkung verzichten, der mit Verstand und Gedächtnis nicht auch das Gemüt in Anspruch nimmt. Was haben deutsche Dichter geredet und gesungen vom Zusammenhang des deutschen Gemüts mit der Muttersprache! Glaubt man, dass das bei den Polen anders ist? Es ist pädagogisch keine schlimmere Veräußerlichung der Religion denkbar, als wenn sie dem Kinde in der Fremdsprache gebracht wird. Wenn es unsere Schulleitung darauf angelegt hätte, in dem polnischen Nachwuchs die allerverstocktesten, ingrimmigsten, unversöhnlichsten Feinde heranzuziehen, es gäbe kein besseres Mittel, als sie mit Schulstrafen zu zwingen, deutsch zu beten. Weshalb in aller Welt tun wir das, und wie würden wir den Jungen feiern, der zu dem Lehrer gesagt hat: ,Prügelt mich, soviel ihr wollt, totschlagen dürft ihr mich nicht', und dann laut das Vaterunser in seiner Muttersprache gebetet hat – wenn es etwa ein deutscher Knabe in Siebenbürgen gegenüber einem magyarischen Lehrer getan hätte?" Und Delbrück fasst sein Endurteil über die preußische Polenpolitik dahin zusammen: „Hat der noch ein nationales Gewissen, der solchen Zuständen gegenüber die Augen verschließt und die Dinge laufen lässt, wie sie laufen? Ist es nicht offenbarer Verrat am Deutschtum, wenn man mit nationalen Kraftphrasen das deutsche Volk über die hereinbrechende Niederlage fort und fort hinwegtäuscht?"

Wir haben diese Kritiker aus dem Lager der Regierung selbst ausführlicher zu Worte kommen lassen, nicht nur, weil sie den ganzen historischen Widersinn der preußischen Polenpolitik in der Tat erschöpfen, sondern auch, weil es diesem schlechthin sinnlosen Treiben der preußischen Bürokratie allzu viel Ehre antun hieße, wenn wir es erst vom proletarisch-wissenschaftlichen Standpunkt aus kritisieren wollten. Man muss um einige Jahrhunderte zurück, in die Tage der Ketzerverbrennungen, der Seligmachungen und der Dragonaden zurückgehen, um historische Analogien zu der preußischen Polenpolitik zu finden, und vielleicht findet man sie selbst dort nicht. Der hoffnungslose Krieg einer Großmacht gegen streikende Schulkinder steht unseres Wissens einzig da in der Geschichte der europäischen Bildung.

So vernichtend wie die Kritik jener freikonservativen Politiker an der preußischen Polenpolitik ist, so anfechtbar sind freilich ihre praktischen Schlussfolgerungen. Sie bemühen sich, aus dem Unsinn an sich einen Unsinn mit Vorbehalt zu machen, aus dem von ihnen selbst angegebenen Grunde, dass jedes Fortschreiten auf dem Wege, den die preußische Polenpolitik beschritten hat, zum völligen Zusammenbruch der preußischen Staatsautorität in den polnischen Landesteilen führen müsse. Darauf brauchen wir aber nicht näher einzugehen, aus dem doppelten Grunde nicht, weil sich aus einem Unsinn an sich niemals ein Unsinn mit Vorbehalt machen lässt, dann aber auch, weil es an der gesitteten Menschheit freveln hieße, wenn man sich bemühen würde, den Zusammenbruch der preußischen Staatsautorität, sei es in den polnischen Landesteilen, sei es sonst wo, zu hindern. Vielmehr ist jeder Verlust dieser Staatsautorität ein Gewinn für die menschliche Kultur und Zivilisation.

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