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Franz Mehring 19060103 Revolutionsphilister

Franz Mehring: Revolutionsphilister

3. Januar 1906

[Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Erster Band, S. 473-476. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 116-119]

Denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein." Ein solches Wort ist die Phrase von der Revolutionsromantik:, die augenblicklich grassiert, nicht nur in der feudal- oder bürgerlich-reaktionären Presse, sondern ihr gerade apportiert von dieser oder jener Seite, von der man wirklich Vernünftigeres hätte erwarten können.

Freilich kann man sagen, dass dies Wort auch einen Begriff hat oder doch gehabt hat. Um uns nur auf deutsche Verhältnisse zu beschränken, so gehören zum Beispiel Klopstocks Oden auf die Französische Revolution oder Schillers „Räuber" zur Revolutionsromantik. Sie redeten rein ins Blaue hinein und warfen mit gewaltigen Phrasen um sich, hinter denen auch nicht die Spur einer greifbaren Wirklichkeit stand. Sie waren nur geeignet, die reaktionären Scharfmacher zu reizen und alle besonnen-staatsmännischen Bestrebungen für eine gründliche Reform an Haupt und Gliedern zu durchkreuzen. Wie tief durchdacht waren dagegen Goethes Urteile über die Französische Revolution, wie gründlich fertigte sein „Bürgergeneral" alle unreifen Empörungs- und Teilungsgelüste ab!

Eines dabei ist nun freilich wunderbar. Man kann nicht einmal die philiströseste Literaturgeschichte aufschlagen, ohne Klopstocks Oden auf die Französische Revolution und Schillers „Räuber" ehrenvoll erwähnt zu finden, während der „Bürgergeneral" und ähnlicher Galimathias dem Genius Goethes im günstigsten Falle gerade nur noch verziehen sind. Das historische Urteil hat schließlich eine Macht, der sich selbst der Philister beugt. Aber deshalb hört der Philister nicht auf, Philister zu sein, und der werdenden Geschichte redet er ebenso dummdreist drein, wie er sich schließlich in die gewordene Geschichte fügt. Erweckt heute die russische Revolution in den deutschen Arbeitermassen eine Begeisterung, wie einst die Französische Revolution in den erlauchtesten Geistern der deutschen Dichtung, so ist ihm das eitel Torheit und Verbrechen, so ist ihm das eine „Revolutionsromantik", vor der sich jeder echte und gerechte Staatsmann dreimal bekreuzigen muss.

Tatsächlich steckt in solcher Staatsmännerei aber nichts als das reine und unverfälschte Philistertum, als die kurzsichtige Spießbürgerei, die den Deutschen durch eine dreihundertjährige Knechtschaft eingeprägt worden ist. Unsere klassische Literatur war der erste Versuch, sich aus diesem intellektuellen und moralischen Elend zu erheben, und hätte sie nicht ihre „Revolutionsromantik" gehabt, so würde heute das unbestechliche Urteil der Geschichte lauten: So tief war am Ende des achtzehnten Jahrhunderts die deutsche Nation gesunken, dass nicht einmal ein Funken aus dem Flammenmeere die Revolution in ihr zu zünden vermochte. Nach der Absicht der Philister, die jetzt über die „Revolutionsromantik" das Blaue vom Himmel herunter zu reden versuchen, soll dermaleinst über die deutsche Arbeiterklasse im Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts das historische Urteil lauten: Mit vollendetem Stumpfsinn sah sie dem Heldenkampf ihrer russischen Brüder zu und hütete sich vor jedem kecken Worte, das die verrottete Bande der Scharfmacher hätte reizen können.

Es kann und es wird dahin ja gewiss nicht kommen. Aber eine hässliche Erscheinung bleibt deshalb doch dies Gefasel von der „Revolutionsromantik", das nichts hinter sich hat als ein vollständiges Lexikon sämtlicher Philisterphrasen. Dass deutsche Zustände nicht russische Zustände sind, dass man den Kopf nicht an der Mauer einrennen solle, dass Bürgerblut nicht ohne Not vergossen werden dürfe, dass die Hunde, die am lautesten bellen, am schlechtesten beißen – die beseligende Gewissheit solcher Binsenwahrheiten spricht aus den empörten Reden der erhabenen Denker, die von der „Revolutionsromantik" ein für allemal nichts wissen wollen. Dass alle diese Redensarten wie die Faust aufs Auge passen, dass kein Mensch daran denkt, deutsche Zustände mit russischen Zuständen zu verwechseln oder mit dem Kopfe gegen die Mauer zu rennen usw. – kümmert sie weiter nicht. So sinnlose Absichten werden ohne alles Federlesen denen unterstellt, die in der glücklichen Lage sind, gegenüber einer weltgeschichtlichen Erscheinung, wie der russischen, noch andere Empfindungen und Gedanken zu haben, als in den leeren Lamentationen des Spießbürgertums enthalten zu sein pflegen.

Irren wir nicht, so war es Lassalle, der einmal sagte, das ganze Unrecht der Philister bestehe darin, recht zu haben. Mit anderen Worten: Der Philister vermag nur die platteste Wahrheit zu erkennen, die dem oberflächlichsten Blicke offen liegt, und ebendeshalb begreift er niemals den wirklichen Zusammenhang der Dinge, weil dieser Zusammenhang niemals auf der Oberfläche zu finden ist. Er beweist euch mit der dürftigen Weisheit des Einmaleins, dass man niemals eine stärkere Macht angreifen dürfe, wenn man sich nicht einer Niederlage aussetzen wolle, aber er begreift nie, er kann und wird nie begreifen, dass damit das Kapitel der revolutionären Strategie und Taktik nicht erschöpft ist. Geblendet durch den äußeren Schein der Dinge, fragt er sich nie, ob sich unter diesem äußeren Scheine das wirkliche Machtverhältnis nicht völlig umgewälzt haben kann, sieht er nie ein, dass die revolutionäre Entladung ebenso die Wirkung wie die öffentliche Proklamation eines solchen Umschwunges sein kann. Jede revolutionäre Erhebung greift eine Macht an, die ihr nach allen äußeren Merkmalen überlegen ist; soll der Grundsatz entscheiden, den die Revolutionsphilister jetzt mit so gewaltigem Pathos predigen, dann wäre es nie zu einer revolutionären Bewegung gekommen, dann säßen wir heute noch in den germanischen Urwäldern und äßen Eicheln.

Und was ist denn nun an „Revolutionsromantik" in Deutschland passiert, um die Revolutionsphilister auf die Schanzen zu rufen? Die deutschen Arbeiter haben ihren russischen Brüdern ihre Sympathie bekundet; sie haben die mächtige Waffe der russischen Revolution, den politischen Massenstreik, einer eingehenden, aber rein theoretischen Betrachtung unterzogen; sie haben in einigen sächsischen Städten gegen den an ihrem Wahlrechte begangenen Raub durch friedliche Straßenkundgebungen demonstriert. Das ist alles, und man könnte danach höchstens nur fragen, ob es genug sei. Aber den Revolutionsphilistern ist es schon viel zu viel. Sie rufen: Stille, stille, kein Geräusch gemacht! Die deutsche Sozialdemokratie soll nach ihnen gar kein Gelüste verraten, auch einmal den Pfad ihrer russischen Brüder zu gehen; sie soll immer nur, zur Besänftigung aller Scharfmacher, erklären: Deutsche Zustände sind keine russischen Zustände; wir denken nicht daran, uns den Kopf an der Mauer zu zerschellen; wir verabscheuen jeden gewaltsamen Aufstand, wir wollen auch nichts vom politischen Massenstreik wissen, bei dem die Arbeiterklasse niemals Seide spinnen kann.

Sehen wir selbst von der Würde dieser Taktik ab, so ist es nicht einmal um ihre Pfiffigkeit gut bestellt. Die herrschenden Klassen wissen sehr gut, woran sie mit der deutschen Arbeiterklasse sind, und lassen sich kein X für ein U machen. Den neuesten Beweis dafür liefern die empörenden Strafen, die über einzelne Teilnehmer an den Dresdener Straßenkundgebungen verhängt wurden, Strafen, die das landläufige Gerede von den deutschen Zuständen, die nicht russische Zustände seien, zu einer sehr fragwürdigen Phrase machen, wie denn die Ähnlichkeit dadurch noch wächst, dass gleichzeitig der Graf Pückler für seine Aufforderung, die Juden totzuschlagen und zu berauben, zum Vergnügen einer kurzen Festungshaft begnadigt wird. Aber man kann den Dresdener Richtern nicht bestreiten, dass sie die getreuen Dolmetscher ihrer Klasse sind, und dieser Klassenjustiz durch eine demütig-vorsichtige Taktik ausweichen zu sollen, das wäre nicht nur die entwürdigendste, sondern auch die törichteste Politik, die der deutschen Arbeiterklasse zugemutet werden könnte. Würde sie befolgt, so würden die Scharfmacher nicht eher ruhen, bis sich das deutsche Proletariat zu einer völligen Hammelherde entmannt hätte, und über diese Hammelherde würden sie dann erst recht ihre Peitsche knallen lassen.

Erzogen durch die Lehre großer Denker, hat die deutsche Arbeiterklasse seit vierzig Jahren niemals eine tollkühne Politik getrieben, die mehr aufs Spiel gesetzt hätte, als sich nach reiflicher Erwägung ihrer Interessen rechtfertigen ließ. Es liegt auch nicht der geringste Anlass zu der Befürchtung vor, dass sie, nachdem sie nunmehr das Schwabenalter hinter sich hat, sich auf politischen Leichtfertigkeiten ertappen lassen wird. Aber deshalb hat sie doch niemals eine Politik getrieben, die aus ängstlicher Vorsicht sich die Gelegenheiten entschlüpfen ließ, die sie ergreifen konnte, um ihre Sache zu fördern. Solche Gelegenheiten warten im Kriege nicht, wie schon Perikles den Athenern auseinandergesetzt hat; sie wollen beim Schopfe ergriffen sein, und von ihnen gilt das Dichterwort: Was du von der Minute ausgeschlagen, bringt keine Ewigkeit zurück. Wie wir vor acht Tagen an dieser Stelle ausführten, so gibt es für die deutsche Arbeiterklasse im gegenwärtigen Augenblick keine andere und keine höhere Politik, als sich zu rüsten, um jeder Lage gewachsen zu sein, die der revolutionäre Lauf der Dinge schaffen mag.

Das ist keine „Revolutionsromantik", sondern es ist die revolutionäre Politik, die, seit dem ersten Tage ihres Daseins, die deutsche Sozialdemokratie getrieben hat. Revolutionsromantik im wirklichen, im historischen Sinne des Wortes ist in deutschen Arbeiterkreisen nirgends zu finden, es sei denn bei den Revolutionsphilistern, die sich, in gemütlicher Abgeschiedenheit von der revolutionären Entwicklung der Dinge selbst, eine revolutionäre Macht sammeln wollen, die stark genug sei, um von vornherein jeden Widerstand zu brechen. Diese Politik mag man, wenn man sonst höflich sein will, eine revolutionsromantische Schrulle nennen.

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