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Franz Mehring 19060627 Spotten ihrer selbst.

Franz Mehring: Spotten ihrer selbst.

27. Juni 1906

[Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Zweiter Band, S. 441-444. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 167-170]

Im neuesten Hefte der „Preußischen Jahrbücher" spricht ein Artikel von den „wütendsten Brandreden des Herrn Mehring und seiner Genossen", in einem anderen Artikel aber, der ebenfalls von dem Herausgeber Delbrück geschrieben ist, wird der so übel Gekennzeichnete als „der bedeutendste Vertreter der so genannten materialistischen Geschichtsauffassung in Deutschland" genannt. Das Lob ist so unverdient wie hoffentlich auch der Tadel, doch soll es sich hier sowenig um das Lob wie um den Tadel handeln, sondern nur um die Konfusion der bürgerlichen Geschichtsschreibung, die von sich mit Heinrich Heine sagen kann:

So in holden Hindernissen

Wind' ich mich mit Lust und Leid,

Während andre kämpfen müssen

In dem großen Kampf der Zeit.

Herr Delbrück bespricht eine Schrift, die Rudolf Springer über die Grundlagen und Entwicklungszeiten der österreichisch-ungarischen Monarchie veröffentlicht hat. Wir kennen die Schrift noch nicht und behalten uns vor, auf sie zurückzukommen, sobald wir sie gelesen haben. Genug, dass Herr Delbrück sie mit dem höchsten Lobe überschüttet, aber dann schließt:

Eine wunderliche Entgleisung des sonst so gescheiten Buches verdient schließlich noch erwähnt zu werden: Der Verfasser erklärt gelegentlich, er habe seine Ergebnisse auf Grund der materialistischen Geschichtsauffassung gefunden. Das erinnert mich daran, dass mir einmal der bedeutendste Vertreter dieser so genannten materialistischen Geschichtsauffassung in Deutschland sagte, ich gehörte eigentlich auch dazu, da ich ja in meinen kriegsgeschichtlichen Untersuchungen allenthalben das Wirtschaftliche an die Spitze stellte. Es ist die bekannte Verwechslung, dass die Herausarbeitung der wirtschaftlichen und sozialen Elemente im Zusammenhang der historischen Entwicklung Materialismus bedeute. Materialismus ist aber erst diejenige Geschichtserklärung, die alle anderen Erscheinungen ausschließlich aus den wirtschaftlichen abzuleiten unternimmt. Ganz abgesehen davon, dass jeder Versuch dieser Art, der noch je unternommen, stets kläglich gescheitert ist, so ist gerade diese Studie Springers über die habsburgische Monarchie ein schöner Beweis, dass es die politischen Bedingungen des inneren und des äußeren Staatslebens sind, die in erster Reihe die Geschicke der Völker bestimmen. Das Wirtschaftliche und auch das Soziale (das keineswegs mit dem Wirtschaftlichen identisch ist) ist nur ein einzelner Faden in dem komplizierten Gewebe. Es ist Springer gelungen, das Soziale noch mehr als das Wirtschaftliche in der jüngsten Entwicklung des Donaustaats sehr anschaulich und einleuchtend darzustellen – und da hat er sich selber eingeredet, er sei Materialist. Schade, dass die künstlerisch musterhafte Zeichnung durch diesen Klecks in der Signatur entstellt ist.

Wozu wir nur bemerken möchten: Schade, dass Herr Delbrück diese schöne Tirade nicht fertig bringen konnte, ohne die Signatur des historischen Materialismus in einem Kleckse zu suchen. Wir glauben ihm aufs Wort, dass alle – uns unbekannten – Versuche einer Geschichtserklärung, die alle anderen Erscheinungen ausschließlich aus der wirtschaftlichen zu erklären unternimmt, kläglich gescheitert sind, aber was hat das mit dem historischen Materialismus zu tun, der niemals die wechselseitige Verknüpfung der ökonomischen, politischen, religiösen, philosophischen und sonstigen Fäden in dem „komplizierten Gewebe" bestritten, sondern nur gesagt hat, dass die ökonomische Produktionsweise in letzter Instanz der entscheidende Faktor der geschichtlichen Entwicklung sei, dass es die ökonomische Struktur einer gegebenen Gesellschaft sei, auf der sich ihr politischer, juristischer, philosophischer usw. Überbau erhöbe. Es ist auch Herrn Delbrück nicht gesagt worden, dass er „eigentlich dazu gehöre", sondern vielmehr nur, dass der unaufhaltsame Siegeszug des historischen Materialismus gerade auch daraus hervorgehe, dass die bürgerliche Geschichtsschreibung, soweit sie noch wissenschaftlich wertvolle Ergebnisse liefere, nach historisch-materialistischer Methode arbeite, wofür seine kriegsgeschichtlichen Untersuchungen ein schlagender Beweis seien.

Als vor einer Reihe von Jahren der bekannte Historiker Bernhardi ein dickes zweibändiges Werk darüber schrieb, dass der alte Fritz kraft eines beispiellosen Genies schon die napoleonische Strategie und Taktik angewandt habe, und nicht nur andere gelehrte Historiker, wie Max Duncker, sondern auch eine ganze Masse Generalstäbler auf den Unsinn hineinfielen, wies Herr Delbrück an der ökonomischen Struktur der Gesellschaft, worin der preußische König lebte, eingehend nach, dass dieser Heros unmöglich eine Strategie und Taktik habe anwenden oder auch nur kennen können, die erst nach großen ökonomischen Umwälzungen möglich geworden sei. Das heißt also: Herr Delbrück erklärte für sein Spezialfach, die Kriegsgeschichte, die Produktionsweise einer Zeit für die in letzter Instanz entscheidende Triebfeder der historischen Entwicklung. Oder in seinem großen Werke über die Geschichte der Kriegskunst weist Herr Delbrück mit zwingenden Gründen nach, dass die Perser bei Marathon unmöglich die kolossale Überlegenheit über die Griechen gehabt haben könnten, die ihnen Herodot zuschreibt. In einleuchtender Weise erklärt er die historische Bedeutung der Schlacht bei Marathon als den Sieg eines Bürgeraufgebots über ein Berufsheer und sagt dann, selbst mit einer äußerlichen Anlehnung an hegelisch-marxistische Sprechweise, für Herodot und seine Nachbeter, die den wirklichen historischen Zusammenhang nicht erkannt hätten, habe sich die Qualität in die Quantität umgesetzt, und sie hätten aus dem Siege der athenischen Bürger über die persischen Ritter einen Sieg der wenigen über die vielen gemacht. Wie die objektive Legende des alten Herodot, so zerstört Herr Delbrück die subjektiven Prahlereien des biederen Cäsar über den gallischen Krieg; nicht Soldaten und Waffen hätten der römischen Kriegskunst den Sieg über die tapferen Barbaren verschafft, sondern „der Quästor und sein Heer von Beamten und Kontrolleuren, Ingenieuren mit ihren Werkzeugen, geschickt Brücken, Wälle, Blockhäuser, Sturmblöcke, Geschütze, Schiffe zu bauen, Intendanten mit ihren Fuhrparks, Ärzte mit ihren Lazaretten, Magazine, Zeughäuser, Feldschmieden usw.", genug, also die höher entwickelte Produktionsweise.

Überall wo Herr Delbrück in seinen kriegsgeschichtlichen Untersuchungen der historischen Wahrheit zu ihrem Rechte verhilft, arbeitet er nach historisch-materialistischer Methode, versäumt jedoch nie, den historischen Materialismus für einen Klecks, Marx für eine wissenschaftliche Null und die Marxisten für wütende Brandredner zu erklären. Wäre es nur moralische Feigheit, so wäre es überflüssig, darüber zu reden, denn dann läge kein wirkliches Problem vor. Vor diesem Verdacht ist Herr Delbrück aber vollkommen gesichert, zumal da seine kriegsgeschichtlichen Untersuchungen oft genug die interessierten Vorurteile der herrschenden Klassen verletzen. Da er und seine Schüler wissenschaftlich wirklich etwas leisten, so stehen sie trotz ihrer Bannflüche gegen Marx und die Marxisten weit über jenen bürgerlichen „Marxisten", die scheinbar das gehässige Odium eines Namens auf sich nehmen, aber tatsächlich nur bestrebt sind, kraft dieser „Autorität" dem Marxismus alle Knochen aus dem Leibe zu lösen. Entscheidend ist vor allen Dingen, dass Herr Delbrück in seinen historischen Arbeiten durch die Tat beweist, dass er vom Marxismus keine blasse Ahnung hat. Neben den überzeugendsten Beweisführungen finden sich darin die drolligsten Schnurren, die kein Marxist je aus der Feder bringen würde. So wenn Herr Delbrück den preußischen Landrat als letzten Rest der altgermanischen Freiheit historisch zu rubrizieren unternimmt, oder wenn er den Untergang des Römischen Reichs aus dem Untergang des römischen Heeres, den Untergang des römischen Heeres aber aus dem Mangel an Edelmetallen herleitet, der im dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung eingetreten sei.

Die tatsächliche Lösung des Problems ist einfach genug für den, der den historischen Materialismus wirklich kennt. Marx und Engels haben niemals beansprucht, ihn aus freier Faust erfunden zu haben, was ja schon an und für sich eine unsinnige Vorstellung ist, so sehr sie in den Kreisen unserer „Gebildeten" grassieren mag. Sie haben immer wieder darauf hingewiesen, dass sich seit der großen Revolution in Frankreich und seit der Entwicklung der großen Industrie in England den Historikern der beiden westeuropäischen Kulturvölker die Erkenntnis aufgedrängt habe, der eigentliche Schlüssel zum Verständnis der geschichtlichen Entwicklung sei auf dem Gebiet der politischen Ökonomie zu suchen. Ihr Verdienst besteht nun darin, diese bei den bürgerlichen Historikern erst in mehr oder minder unvollkommener Form auftretende Erkenntnis zu einer wissenschaftlichen Forschungsmethode erhoben, aus ihr ein Werkzeug geschaffen zu haben, womit die kapitalistische Gesellschaft nicht nur erkannt, sondern auch umgewälzt werden kann.

Das versteht kein bürgerlicher Historiker und wird auch nie einer verstehen. Aber deshalb können sie, soweit sie noch wissenschaftlich arbeiten wollen, sich der Erkenntnis nicht entziehen, die sich einst, lange vor Marx und Engels, schon den englischen und französischen Historikern, bei einem viel weniger entwickelten Stande der kapitalistischen Gesellschaft, unaufhaltsam aufdrängte. Jedoch ist es für sie unmöglich, sich damit in der unbefangenen Weise dieser ihrer Vorläufer abzufinden, denn sie müssen sich mit dem revolutionär umwälzenden Charakter der wissenschaftlichen Forschungsmethode auseinandersetzen, zu der Marx und Engels den historischen Materialismus erhoben haben. Die einen versuchen es auf dem Wege, dass sie sich als „Marxisten" verkleiden, um aus dem historischen Materialismus ein allgemeines Wischiwaschi zu machen, die anderen aber, die innerhalb ihrer bürgerlichen Vorurteile historisch-materialistisch forschen, rächen sich für diese Beschränkung und Beschränktheit, indem sie den historischen Materialismus für einen Unsinn erklären, was sie dadurch glaubhaft zu machen suchen, dass sie ihn aus eigener Machtvollkommenheit in unsinniger Weise erläutern.

Sie alle aber spotten ihrer und wissen nicht wie.

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