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Franz Mehring 19060307 Trügende Zahlen

Franz Mehring: Trügende Zahlen

7. März 1906

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung Nr. 55, 7. März 1906. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 152-155]

Genosse August Müller, der zu den Redakteuren der „Magdeburgischen Volksstimme" gehört, hat das dringende Bedürfnis gefühlt, den Gegnern der Partei eine Freude zu machen. Er hat heraus gerechnet, dass die Sozialdemokratie seit den Juniwahlen von 1903 an 22 Nachwahlen beteiligt gewesen sei, aber nur in 5 Wahlkreisen an Stimmen gewonnen, in 17 Wahlkreisen an Stimmen verloren habe. Dagegen hätten die bürgerlichen Parteien in 7 Wahlkreisen Stimmen verloren, in 15 aber gewonnen. Speziell in den 13 Wahlkreisen, in denen die Sozialdemokratie Stimmen verloren, die bürgerliche Gegnerschaft Stimmen gewonnen habe, betrage der Verlust jener 14933, der Gewinn dieser 17807 Stimmen.

Dies beispiellos ungünstige Wahlergebnis sei eingetreten, so argumentiert Genosse Müller weiter, trotz des Königsberger Hochverratsprozesses1, trotz des Bergarbeiterstreiks, trotz Crimmitschau, trotz der Scharfmacherreden im preußischen Landtage, trotz der Fleischnot, trotz der allgemeinen Teuerung, trotz der russischen Revolution, trotz des Hamburger Wahlrechtsraubes usw. Die Schuld daran trage der kleinliche, persönliche Gehässigkeit gegen die eigenen Parteigenossen mit Vorliebe pflegende Geist intoleranten starren Dogmatismus, der unser ganzes Parteileben vergifte und an die Stelle sachlicher Bekämpfung von Meinungsverschiedenheiten die persönliche Insulte gesetzt habe. Darauf sei es zurückzuführen, dass wir nicht mehr Erfolge ernteten, sondern nur Spott und Hohn. Die Perioden der Selbstzerfleischung, die mit der Regelmäßigkeit von Mondwechseln von Zeit zu Zeit in unseren Reihen ausbrächen, bildeten das Arsenal, woraus die Gegner ihre Waffen holten, und sie wirkten so ausgezeichnet, dass all das Wasser, das Regierung und Parteien freiwillig auf unsere Mühle leiteten, nicht ausreiche, ihre Räder zu drehen.

Endlich führt Genosse Müller aus, dass der Verlust, den die Partei bei den Nachwahlen an Stimmen erlitten habe, sich nicht aus der Arbeiterklasse rekrutiere, sondern aus den Mitläufern der Partei, aus bürgerlichen Elementen, die nicht durch das Bestreben, die eigene materielle Lage zu verbessern, sondern durch menschlich schöne, ideale Motive ins sozialdemokratische Lager geführt worden seien und sich nunmehr abgestoßen fühlten durch die Dissonanzen, die seit einigen Jahren im Chore der Sozialdemokratie ertönten. Darin sieht Genosse Müller ein Unglück für die Partei; nach seiner Meinung sollen wir diese Kreise nicht abschrecken, sondern heranziehen.

Wir wollen nun nicht bestreiten, dass Genosse Müller die Ursache der sozialdemokratischen Stimmenverluste am richtigen Orte sucht. Aber wir bestreiten ihm, dass er sie im richtigen Grunde gefunden hat. Seit Dresden mag eine gewisse Fahnenflucht aus der Partei begonnen haben, aber die bürgerlichen Mitläufer haben sich dieser Fahnenflucht nicht schuldig gemacht, weil sie durch „kleinliche persönliche Gehässigkeit", durch „persönliche Insulten" in ihren „menschlich schönen, idealen Motiven" verletzt worden sind, sondern als enttäuschte Pfiffikusse, die seit Dresden endlich begriffen haben, dass die deutsche Sozialdemokratie nicht daran denkt, sich verbürgerlichen zu lassen, auch nicht durch die idealsten und schönsten Menschenfreunde. Gerade diejenige Richtung der Partei, auf die diese Menschenfreunde ihre Hoffnungen gesetzt hatten, hat bedauerlicherweise die Kampfmittel der „kleinlichen, persönlichen Gehässigkeit", der „persönlichen Insulte" in die Partei eingeführt, was die „menschlich Schönen" mit allen ihren Kräften unterstützt haben. Dafür gibt es von dem Auftreten der Harden-Freunde in Dresden bis zu den nichtsnutzigen Parteiskandalen, die die „Mannheimer Volksstimme" eben jetzt vom Zaune gebrochen hat2, eine ununterbrochene Kette schlagender Beweise. Wir wollen damit keineswegs bestreiten, dass auch auf der Gegenseite gesündigt sein mag; es gibt Angriffe, denen gegenüber es für die Verteidigung schwer oder ganz unmöglich ist, die richtige Grenze innezuhalten. Allein die gehässig-persönliche Kampfmethode fällt den Gegnern des „intoleranten starren Dogmatismus" zur Last, wie denn gleich diese kleinlich-gehässige Umtaufe des Parteiprogramms eine klassische Probe der Methode ist. Daran haben sich die „menschlich Schönen" aber nie gestoßen, sondern sie haben der Partei erst den Rücken gekehrt, als sie nach Dresden und Jena einsahen, dass auf diese Weise der alte revolutionäre Geist der deutschen Sozialdemokratie nicht umzubringen sei. Viele von ihnen sind auch offener gewesen als Genosse Müller, und haben in der „Hilfe", in der „Nation" und [in] andern Blättern ihre Abkehr von der Partei unumwunden damit begründet, dass der Revisionismus ein totgeborenes Kind und an eine Verbürgerlichung der deutschen Arbeiterpartei ein für allemal nicht zu denken sei.

Ob der Verlust solcher Elemente die tragischen Gebärden des Genossen Müller rechtfertigt, das scheint uns recht zweifelhaft zu sein. Nicht als ob wir nunmehr die Trauben, die unsrer Hand entrückt sind, sauer schelten möchten. Wir haben uns über den Dreimillionensieg so gefreut, wie sich nur immer Genosse Müller darüber gefreut haben kann. Aber am Morgen nach diesem Siege haben wir der verwirrenden Parole von der „Weltenwende", die von der damaligen Redaktion des „Vorwärts" ausgegeben wurde, sofort den Satz entgegengestellt, dass die Welt mit dem Stimmzettel nicht erobert werden könne. Wir haben nie an der rage du nombre, an der Zahlenwut, gelitten, die in der Politik ebenso gefährliche Selbsttäuschungen zu wecken vermag wie im Kriege. Die Zahl ist ein entscheidendes, aber nicht das entscheidende Element des Sieges, ein Satz, für den wir uns von Bebel bis Bismarck auf alle namhaften Politiker berufen können. Besonnenheit, Energie, Entschlossenheit, Klarheit sind nicht minder wichtige Voraussetzungen des Sieges; ein kleineres Heer, das über diese moralischen Kräfte verfügt, leistet immer mehr als ein größerer Haufe, der nicht eine gleichartige und gleichgesinnte und gleichwertige, in sich gegliederte Masse ist.

Deshalb ist die deutsche Sozialdemokratie niemals besser beraten gewesen, als da sie dem Tage des Dreimillionensieges die Tage von Dresden und von Jena folgen ließ. Dem großen Werbungstage mussten die großen Exerziertage folgen, damit sich erprobe, wer von den neu gewonnenen Truppen die Muskete zu schultern wirklich bereit und fähig sei. Je schärfer die Probe war, umso besser, denn umso gründlicher schied sich das Korn von der Spreu. Und es ist der unbegreifliche Fehler des Genossen Müller, nur die Versprengten zu zählen, nicht aber die fest und treu Gebliebenen. Er müsste, wollte er unparteiisch verfahren, den Stimmenverlusten bei den Nachwahlen das Wachstum der Parteiorganisation und der Parteiblätter (nach der Zahl ihrer Abonnenten) entgegenstellen. Da er selbst zur Parteipresse gehört, so ist namentlich unbegreiflich, wie er achtlos an dem kolossalen Aufschwung der Abonnentenziffern vorbeigehen konnte, den, soviel wir wissen, seit Dresden jedes Parteiblatt zu verzeichnen in der erfreulichen Lage gewesen ist. Wir sind allerdings der Ansicht, dass jeder einzelne Arbeiter, der in seiner Organisation tätig und auf sein Parteiblatt abonniert ist, für den proletarischen Emanzipationskampf mehr bedeutet als eine ganze Kompanie der bürgerlichen Mitläufer, die alle fünf Jahre einmal einen Stimmzettel für die Partei abgeben oder auch nicht abgeben, je nachdem sie sich – wenn wir einmal die allzu rosenfarbene Annahme des Genossen Müller gelten lassen wollen – in ihren „menschlich-schönen, idealen" Empfindungen verletzt fühlen oder nicht.

Somit sind die angeblich „sprechenden Zahlen" des Genossen Müller durchaus trügende Zahlen. Daran ändert am wenigsten etwas die satte Behaglichkeit, womit sie von der kapitalistischen Presse wiedergekäut werden.

1 Der Königsberger Hochverratsprozess fand vom 12. - 25. Juli 1904 statt. Deutsche Sozialdemokraten, die gemeinsam mit russischen Revolutionären Propagandamaterial der russischen Sozialdemokratie illegal ins Zarenreich geschmuggelt hatten, waren deshalb der „Geheimbündelei, des Hochverrats gegen Russland und der Zarenbeleidigung" angeklagt worden. Ähnlich wie der Kölner Kommunistenprozess schlug jedoch auch dieser Prozess auf seine Urheber, die mit dem Zarismus verbündete preußische Reaktion, zurück. Dank dem klassenbewussten Auftreten der Angeklagten und ihrer hervorragenden Verteidigung durch Karl Liebknecht wurde im Verlauf des Verfahrens auch den reaktionären Kräften in Deutschland ein schwerer Schlag versetzt.

2 Gemeint sind die revisionistischen Ausfälle gegen die „Leipziger Volkszeitung" und den „Vorwärts" sowie die persönlichen Verunglimpfungen Luxemburgs und Kautskys in der Polemik über den Massenstreik vor und während des Mannheimer Parteitages.

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