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Franz Mehring 19060105 Vaterlandslose Gesellen

Franz Mehring: Vaterlandslose Gesellen

5. Januar 1906

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung Nr. 4, 5. Januar 1906. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 120-122]

Seitdem die deutsche Arbeiterklasse durch ihre Organe den Anspruch erhoben hat, in der Frage über Krieg und Frieden mitzureden – einen Anspruch, von dem sie niemals lassen kann und wird –, hat das Gerede von den „vaterlandslosen Gesellen" in der bürgerlichen Presse seine fröhliche Urständ gefeiert, und man kann ziemlich jeden Tag darüber die wundervollsten Tiraden in den Organen des patriotisch geeichten Mordspatriotismus lesen. Am heitersten nehmen sich diese Tiraden in den liberalen Blättern aus, die daneben von dem „Volke der Denker und Dichter" schwatzen und Namen wie Kant, Fichte, Lessing, Klopstock, Herder, Schiller, Goethe nie anders als mit Schauern heiliger Ehrfurcht nennen.

Hat es nämlich jemals „vaterlandslose Gesellen" gegeben, so sind es diese Denker und Dichter. Lessing entbehrte recht gern die Liebe zum Vaterlande und wollte sie höchstens als heroische Schwachheit gelten lassen; Kant schwor mitten im Siebenjährigen Kriege1 der versoffenen Zarin Elisabeth den Huldigungseid und dozierte als Königsberger Professor fünf Jahre ruhig an der russifizierten Universität; Klopstock und Herder sind in den Akten des preußischen Kriegsministeriums als Militärflüchtlinge verzeichnet; Schiller erklomm als desertierter Militärmedikus den Gipfel des Parnasses, und Goethe verspottete noch im Jahre 1813 den Freiwilligen Theodor Körner, der das Schwert für das deutsche Vaterland zog. Noch ärger trieb es Fichte, der im Jahre 1799 schrieb: „Es ist nichts gewisser, als das Gewisseste, dass, wenn nicht die Franzosen die ungeheuerste Übermacht erringen und in Deutschland, wenigstens in einem beträchtlichen Teile desselben eine Veränderung durchsetzen, kein Mensch mehr, der dafür bekannt ist, in seinem Leben einen freien Gedanken gedacht zu haben, eine Ruhestätte finden wird."

Derselbe Fichte nannte nach der Schlacht bei Jena die Deutschen „Toren", für den Fall, dass sie das Joch des französischen Weltdespoten abwürfen, um sich wieder das Joch eines deutschen Teildespoten aufzuladen – leider ließen sich die Deutschen diese große Eselei doch zuschulden kommen –, und sagte ausdrücklich, wenn man nicht im Auge behielte, was Deutschland zu werden habe, so läge nicht so viel daran, ob ein französischer Marschall, wie Bernadotte, an dem früher wenigstens begeisternde Bilder der Freiheit vorüber gezogen seien, oder ein deutscher Edelmann ohne Sitten und mit Rohheit und frechem Übermute über einen Teil von Deutschland gebiete. Unter dem, was Deutschland noch zu werden habe, verlangt Fichte aber keineswegs so ein rückständig verzopftes Gemeinwesen, wie das neudeutsche Reich von heute ist, sondern vielmehr das, was der Philister als „sozialdemokratischen Zukunftsstaat" zu verfemen liebt: nämlich „ein wahrhaftes Reich des Rechts, wie es noch nie in der Welt erschienen ist, in aller der Begeisterung für Freiheit des Bürgers, die wir in der alten Welt erblicken, ohne Aufopferung der Mehrzahl der Menschen als Sklaven, ohne welche die alten Staaten nicht bestehen konnten"; er verstand darunter die Gleichheit alles dessen, was Menschengesicht trägt.

Um dieses Zieles willen hielt Fichte die nationale Unabhängigkeit Deutschlands für notwendig und war darin vollkommen einig mit der heutigen Sozialdemokratie, nicht aber mit denen, die seinen Namen unnütziglich im Munde führen, vom Zitatenjunker Bülow bis zum Käseblättchen des Herrn Eugen Richter. Jede nationale Arbeiterklasse braucht heute, um sich zu emanzipieren, die Unabhängigkeit der Nation, der sie angehört, und sie ist bereit, diese Unabhängigkeit mit ihrem Blut und ihren Knochen zu verteidigen. Aber keine ausgebeutete und unterdrückte Klasse ist verpflichtet, für die auswärtige Politik einzustehen, die, um mit Fichte zu sprechen, „aufgeblasene Edelleute" über ihren Kopf weg treiben. Dies und nichts andres ist der Grundsatz, den die bürgerlichen Klassiker der deutschen Nation hinterlassen haben. Es ist also nur eins von beiden möglich. Entweder sind die Kant und Lessing und Fichte und Schiller und Goethe ebenso „vaterlandslose Gesellen" wie die heutigen Sozialdemokraten, oder die liberalen Blätter schlachten ihre eigenen Heroen auf dem Götzenaltar des Mordspatriotismus, indem sie die klassenbewussten Arbeiter als „vaterlandslose Gesellen" verhöhnen, nur weil sie in der Kriegs- und Friedensfrage vollkommen mit den bürgerlichen Klassikern übereinstimmen.

Diese Übereinstimmung liegt in dem Gedanken: Wir sind mündige Menschen und keine Kälber, die sich zur Schlachtbank treiben lassen, ohne zu wissen, weshalb: Wo wir nicht mit raten, da brauchen wir auch nicht mit zu taten. Der Unterschied besteht nur darin, dass in den Tagen der Kant und Lessing die herrschenden Klassen allerdings noch Kriege führen konnten, wie zum Beispiel den Siebenjährigen Krieg, ohne dass die Völker zu wissen brauchten, weshalb sie sich für die Könige die Schädel einschlügen, während sich heute kein Krieg mehr siegreich führen lässt, ohne dass die Masse der Kämpfer weiß, weshalb er geführt wird, und ohne dass sie mit seinem Zwecke einverstanden ist. Die Arbeiter wären, um mit Fichte zu reden, „Toren", wenn sie diesen für die Unterdrückten günstigen Unterschied der Zeiten nicht ausnutzen und sich nach dem glorreichen Vorbilde der Bourgeoisie selbst den Mund verbinden wollten in der Kritik der auswärtigen Politik. Zumal nachdem alles, was über den Marokko-Konflikt des vorigen Jahres bisher bekannt geworden ist, einen wahrhaft beschämenden Beweis dafür geliefert hat, dass sich die Frage über Krieg und Frieden in keinen unfähigeren Händen befinden kann als in den Händen der internationalen Diplomatie.

Die bürgerliche Presse aber schlägt nur sich selbst rechts und links ins Gesicht, wenn sie über „vaterlandslose Gesellen" schimpft. Sie verweist uns damit in die Gesellschaft der Kant und Fichte, der Lessing und Schiller, wo wir uns in der Tat sehr behaglich befinden. Wir rechnen es uns gern zur Ehre an, dass wir die einzig erhabenen und die einzig erhebenden Überlieferungen der deutschen Nation – denn den borussischen Kriegsruhm treten wir mit Vergnügen den bürgerlichen Mordspatrioten ab – hochzuhalten und zu wahren wissen; das ist nicht die schlechteste und nicht die schwächste Bürgschaft unsres nahenden Sieges.

1 Siebenjähriger Krieg – Friedrich II. führte gegen Österreich drei Kriege um den Besitz Schlesiens. Der dritte schlesische Krieg – bekannter als Siebenjähriger Krieg – wurde von Preußen mit Hilfe Englands 1756-1763 gegen Österreich, Russland, Frankreich, Sachsen, Schweden und die Reichsarmee geführt. Durch das nach dem Tode Elisabeths von Russland erfolgte Umschwenken Russlands vor dem Zusammenbruch bewahrt, rettete Preußen im Frieden von Hubertusburg (15. Februar 1763) seinen Besitzstand.

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