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Franz Mehring 19060221 Wahlrechtskämpfe

Franz Mehring: Wahlrechtskämpfe

21. Februar 1906

[Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Erster Band, S. 705-708. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 148-151]

An drei Schwerinstagen hat sich der Reichstag mit dem Wahlrechtsantrag der sozialdemokratischen Fraktion beschäftigt, ihn schließlich aber gegen die Stimmen der drei freisinnigen Parteien, der Polen, der Elsässer und der Sozialdemokraten selbst abgelehnt. Es war nichts anderes zu erwarten, und vielleicht sind sogar die großen bürgerlichen Parteien, die gegen den Antrag gestimmt haben, ehrlicher gewesen als die bürgerlichen Fraktionssplitterchen, die ihm zustimmten.

Auch den freisinnigen Fraktionen darf man in dieser Beziehung nicht über den Weg trauen, und ihnen am wenigsten. Nichts törichter als ihr gegenwärtiges Gerede, sie und ihre Vorfahren wären stets für das allgemeine Wahlrecht eingetreten und ohne ihre Unterstützung würde dies Ziel niemals zu erreichen sein. Es ist bekannt, kann aber gar nicht oft genug gegenüber dem freisinnigen Lug und Trug wiederholt werden, dass der Verrat des allgemeinen Wahlrechtes durch die ehemalige Fortschrittspartei, die gemeinsame Mutter aller heutigen liberalen Fraktionen, eine historische Tatsache gewesen ist, die gerade zum politischen Bruche zwischen der deutschen Bourgeoisie und dem deutschen Proletariat geführt hat. Unbeschämter sogar als heute die ostelbischen Junker pochten im Jahre 1863 die preußischen Bourgeois darauf, dass ihnen das Dreiklassenwahlrecht eine ihrem Klasseninteresse durch und durch gefügige Kammer beschert hätte; eben hieraus folgerten sie, das allgemeine Wahlrecht müsse in den Rauchfang gehängt werden, und schlugen den Arbeitern ab, die Forderung dieses Wahlrechtes ins fortschrittliche Programm aufzunehmen. Daran ist nun einmal nichts zu drehen und zu deuteln.

Freilich hätte es keinen politischen Zweck, den Freisinnigen diese historischen Erinnerungen vorzuhalten, wenn sie sich wirklich bekehrt hätten und nunmehr mit einigem Nachdruck für das allgemeine Wahlrecht einträten. Allein daran denken sie gar nicht. Erst als ihre Anhänger wie Schnee an der Sonne zusammenschmolzen, nicht zuletzt wegen Verleugnung des allgemeinen Wahlrechtes durch die fortschrittlichen Führer, haben sie sich eines anderen besonnen, jedoch sehr im Widerspruch mit ihren Bourgeoisinstinkten, durch die sie denn auch stets verhindert worden sind, je einen Tropfen Schweiß im Kampfe um das allgemeine Wahlrecht zu vergießen. In der proletarischen Wahlrechtsbewegung der letzten Monate war ihr Hauptaugenmerk nicht darauf gerichtet, diese Bewegung zu unterstützen, sondern im Gegenteil soweit wie möglich von ihr abzurücken und sie durch hässliche Schimpfereien zu hintertreiben. Es sei nur an den freisinnigen Streber Mugdan erinnert, der, im mosaischen Glauben aufgewachsen und erst im reiferen Mannesalter von den christlichen Heilswahrheiten ergriffen, auf der Reichstagstribüne über die angebliche Entheiligung des Weihnachts-Festes durch den „Vorwärts" und die „Leipziger Volkszeitung" so denunziatorisch heulte, dass der – ganz harmlose – Weihnachtsartikel der „Leipziger Volkszeitung" inzwischen wegen angeblicher Aufreizung zur Gewalttätigkeit mit sechs Monaten Gefängnis bedacht worden ist.

Die Freisinnigen wollen das allgemeine Wahlrecht so, wie es niemals zu haben sein wird, nämlich durch platonische Liebeserklärungen, die sie von Zeit zu Zeit vor sich her murmeln oder aufs geduldige Papier schreiben. Sie wollen es aber nicht so, wie es allein zu haben ist: durch den Druck von außen, durch den allein Wahlrechtsreformen durchzusetzen sind. Es gibt nicht ein Beispiel in der Geschichte, wo herrschende Klassen sich anders als unter einem Druck von außen dazu bequemt hätten, Zugeständnisse zu machen, und es wird diesmal nicht anders sein. Die Junker, die sich in dem preußischen Geldsackparlament verschanzt haben, werden nicht eher kapitulieren, als bis ihnen das Feuer auf den Nägeln brennen wird, und ein Feuer, das ihnen auf den Nägeln brennt, werden ihnen die Freisinnigen niemals anzünden.

Insofern ist es kein unerfreuliches Ergebnis, dass der sozialdemokratische Antrag auf Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechtes in allen Bundesstaaten und in Elsass-Lothringen die bürgerliche Mehrheit des Reichstags zu einer kompakten Gegnerschaft zusammengeballt hat. Dadurch wird den Arbeitern ein richtigeres Bild der ganzen Lage gegeben als durch die Zustimmung der paar bürgerlichen Fraktionssplitterchen, hinter der nichts von jener energischen Entschlossenheit steckt, von der die Mehrheit in ihrem Kampfe gegen die Volksrechte allerdings beseelt ist. An eine Wahlrechtsreform in den deutschen Einzelstaaten, namentlich in Preußen und Sachsen, denken die herrschenden Klassen in absehbarer Zeit nicht: Diese Tatsache ist das Ergebnis der mehrtägigen Verhandlung, die der Reichstag über den sozialdemokratischen Wahlrechtsantrag geführt hat, und es wäre ein verhängnisvoller Fehler, wenn sich die Arbeiterklasse darüber täuschen und etwa annehmen wollte, dass sie durch freisinniges Leisetreten auch nur um die Breite eines Strohhalmes vorwärts kommen könne.

Die wirklichen Reaktionäre sehen die Sache denn auch sehr richtig an. Es fällt ihnen gar nicht ein, sich um die freisinnige Förderung des allgemeinen Wahlrechtes nur ein graues Haar wachsen zu lassen, wohl aber sind sie bedacht, den Druck von außen zu lähmen, ehe er seine unwiderstehliche Gewalt auf sie ausübt. Hieraus erklären sich die Aufreizungsprozesse gegen die Arbeiterpresse, die jetzt überall in Deutschland wie Pilze aus dem Boden schießen, namentlich nachdem die Urteile von Breslau und Leipzig gezeigt haben, was sich mit den kautschukigsten Kautschukparagraphen des Strafgesetzbuches alles erreichen lässt. Die Arbeiterpresse ist dadurch gewissermaßen vogelfrei geworden, was beiläufig auch keinen freisinnigen Helden im geringsten bekümmert; es ist klar, dass der Druck von außen aufhören muss, wenn nach gerichtlichen Entscheidungen nichts mehr gesagt oder geschrieben werden darf, das „beunruhigend" auf die besitzenden Klassen wirken könnte. Indessen tatsächlich läuft die Wirkung dieser reaktionären Kampagne doch nur darauf hinaus, die Kampfbereitschaft und die Kampflust in den arbeitenden Klassen immer noch zu steigern; mundtot zu machen sind sie bei alledem nicht, mag die Klassenjustiz auch immer mehr zur bloßen Verteidigung der Klassenherrschaft werden. Sosehr wir die einzelnen Opfer beklagen, die auf diesem Felde der Ehre fallen, so fallen sie doch nicht umsonst; wir wissen aus unserer eigenen Geschichte, wie es alle andere Geschichte lehrt, dass kein Spaten die Kluft zwischen den besitzenden und den arbeitenden Klassen so tief höhlt wie die Klassenjustiz, und eben die Entfremdung, die sie völlig von den Massen der Nation trennt, sie gewissermaßen nur noch in der denkbar dünnsten Luft atmen lässt, ist das sicherste Mittel, die herrschenden Klassen um all ihre Gottähnlichkeit bange zu machen.

Eine wertvolle Lehre enthält die kategorische Ablehnung des sozialdemokratischen Wahlrechtsantrags durch den Reichstag auch insofern, als sie die proletarische Wahlrechtsbewegung vor jeder allzu engen und einseitigen Auffassung der Gesamtlage sichert. Davor war diese Bewegung insofern nicht völlig geschützt, als wenigstens viele bürgerliche Ideologen ganz gut einsehen, dass die besitzenden Klassen sich mit der Fortdauer der preußischen und sächsischen Klassenwahlwirtschaft selbst ins Fleisch schneiden, und als sie zwar nicht das allgemeine Wahlrecht, aber doch irgendeine „Reform" wünschen, die den arbeitenden Klassen die Tür des preußischen und des sächsischen Landtags wenn auch beileibe nicht ganz, so doch halb und halb öffnet. Wäre eine solche „Reform" das Ergebnis unserer Wahlrechtsbewegung, so wäre damit tatsächlich nichts erreicht als eine Befestigung und Sicherung der Klassenherrschaft, und es wäre zugleich eine nicht ungefährliche Verschleierung der Machtverhältnisse eingetreten. Daran kann uns aber nichts gelegen sein, und so ist es mit aufrichtigem Danke zu begrüßen, dass die große Mehrheit des Reichstags mit aller Feierlichkeit ein für allemal erklärt hat: Wir verweigern den arbeitenden Klassen das allgemeine Wahlrecht für die Einzellandtage.

Der Streit ist damit auf die historische und die politische Höhe erhoben, die ihm gebührt. Wie auf der einen Seite die Gefahr droht, dass durch einen halben Scheinerfolg eine gefährliche Selbsttäuschung in den arbeitenden Klassen hervorgerufen werden kann, so droht auf der anderen Seite die Gefahr, dass wegen der Möglichkeit, auf die Sandbank eines halben Scheinerfolges zu geraten, die Lust und Liebe zur Beteiligung an der Wahlbewegung gelähmt wird. Man hört wohl: Lohnt es denn wirklich, die ganze Kraft einer Dreimillionenpartei mobil zu machen und alle die schweren Opfer auf sich zu nehmen, die mit einer solchen Mobilmachung verbunden sind, bloß um einiger Mandate willen, die wir im günstigsten Falle für den preußischen und sächsischen Landtag gewinnen werden? Diese Argumentation ist nur halb berechtigt und deshalb ganz unberechtigt; wir kämpfen wirklich nicht um einen Plunder von „Wahlreform", wie er zu haben wäre, wenn es nach der „wohlmeinenden Absicht" der bürgerlichen Ideologen ginge, sondern wir kämpfen auch in dieser Wahlrechtsbewegung um die politische Herrschaft des Proletariats, und es kann uns schon recht sein, wenn die Gegner selbst dies Ziel unseres Kampfes enthüllen, indem sie uns die Waffe des allgemeinen Wahlrechtes vorenthalten.

Bei der Höhe, die der proletarische Klassenkampf in Deutschland erreicht hat, dürfen wir auf namhafte Teilerfolge nicht mehr rechnen. Die besitzenden Klassen sind schon viel zu bedrängt, um sich nicht mit trutziglicher Beschränktheit an die Parole zu klammern: Ihr oder wir! Aber je unmöglicher Teilerfolge werden, umso näher rückt der entscheidende Erfolg heran, umso möglicher wird die völlige Isolierung der besitzenden Klassen, die sie schließlich zur Kapitulation zwingen muss. In dieser Beziehung sind die gegenwärtigen Wahlrechtskämpfe und wenn sie selbst nicht den geringsten „praktischen" Erfolg haben sollten, trotzdem oder auch ebendeshalb von der größten Bedeutung für die politische Entwicklung der Arbeiterklasse.

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