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Franz Mehring 19060110 Zum 22. Januar

Franz Mehring: Zum 22. Januar

10. Januar 1906

[Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Erster Band, S. 505-508. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 123-126]

Mit jener Mischung von feiger Angst und brutalem Trotze, die ihr eigentümliches historisches Kennzeichen ist, sehen die herrschenden Klassen in Deutschland der ersten Wiederkehr des Tages entgegen, an dem die russische Revolution begann. Sie wissen, dass die deutsche Arbeiterklasse diesen Tag feiern wird, nicht nur, indem sie ihrer russischen Brüder gedenkt, die seit einem Jahre die Preiskämpfer des internationalen Proletariats gewesen sind, sondern auch, indem sie die Rechte wiederfordert, die ihr von ihren heimischen Unterdrückern geraubt worden sind. Und da treibt diese Unterdrücker denn ihr böses Gewissen um und um.

Bald stellen sie sich hin als die erhabenen Geister, die den „zwecklosen Radau" gar nicht zu beachten brauchen, als die großen Staatsmänner, die über die „sozialdemokratische Spektakelsucht" vornehm die Achseln zucken. Bald wieder verraten sie die heimliche Sorge ihres Herzens durch die großmäulige Drohung, mit den Kleinkalibrigen unter den demonstrierenden Arbeitern zu wüten. Dies aber ist ihr wahres Gesicht und jenes nur die Maske. Den schlagendsten Beweis dafür bildet die Mobilmachung der Klassenjustiz auf der ganzen Linie. Damit ist eingestanden, dass sich die herrschenden Klassen in ihrem Innersten bedroht fühlen. Zu den Schreckensurteilen, die von den Dresdener Gerichten seit Wochen gefällt worden sind, hat sich jetzt auch ein ungeheuerliches Urteil in Breslau gesellt, die Verurteilung eines sozialdemokratischen Redakteurs zu einem ganzen Jahre Gefängnis, weil er zum Kampfe gegen das Dreiklassenwahlrecht aufgerufen hatte. Nach einer anderen Richtung verrät sich der bebende Jammer dadurch, dass eine Kommission des sächsischen Landtags beschlossen hat, wegen Beleidigung dieses Landtags den Strafantrag gegen ein sächsisches Parteiblatt zu stellen. Man muss anerkennen, dass sich selbst das preußische Herrenhaus zu einer solchen Würdelosigkeit bisher nicht erniedrigt hat, aber umso charakteristischer ist das Heldenzeugnis, das die sächsischen Wahlrechtsräuber sich selbst damit ausstellen.

Sosehr wir die Opfer beklagen, die dieser Klassenjustiz schon gefallen sind und noch fallen werden, sosehr wird sie sich auch diesmal erweisen als das, was sie seit einem Menschenalter wieder und wieder gewesen ist: als ein gewaltiger Hebel des proletarischen Fortschritts. Es hat nicht an Warnungen aus den besitzenden Klassen selbst gefehlt, als die Praxis begann, den Ruf der arbeitenden Klasse nach den Rechten, die ihr geraubt sind, durch den Knebel der Klassenjustiz zu ersticken. Vor dreißig Jahren schrieb ein nationalliberaler Schriftsteller, der sogar Redakteur der „Nationalzeitung" war: „In den Tiefen grollt es, wie von leisen Erdstößen erzittert der Boden, auf dem unser ganzer gegenwärtiger Gesellschaftszustand aufgebaut ist, die politische Atmosphäre riecht sozusagen nach Petroleum, und aus der Ferne wetterleuchtet noch mit unheimlichem Glänze der Aufstand der Kommune. Will die bestehende Gesellschaftsordnung sich mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln gegen einen Umsturz wehren, der sie im innersten Kern ihres Wesens betrifft, so weiß ich nicht, was sich dagegen einwenden ließe. Sie verteidigt und verwahrt ihren Besitzstand und vielleicht auch den Besitzstand einer höheren Kultur, wenigstens wird ein schwacher Gegenbeweis in dieser Beziehung doch immer erst durch die Erfahrung erbracht werden können. Aber eine dringendste Aufforderung liegt doch in den gegenwärtigen Verhältnissen, die Aufforderung, die Schärfe der Gegensätze wenigstens dadurch zu mildern, dass der politische Gegner mit wirklicher Achtung behandelt und dass auch in dem politischen Verbrecher noch der Charakter des politischen Gegners rückhaltlos und gewissenhaft geachtet wird. Schlimmer als alle Exzesse der Kommunekämpfe hat die hassentbrannte Vergeltung der französischen Ordnungspartei gewirkt. Der Schreck, den sie verbreitet hat, erblasst mit der Zeit, während gerade umgekehrt der Hass, den sie ausgesät hat, zunimmt und die unheilvollsten Gegenwirkungen in den Gemütern vorbereitet." Man sieht: Bäume riss dieser Warner der herrschenden Klassen auch nicht gerade aus, was man am Ende von einem Redakteur der „Nationalzeitung" auch nicht beanspruchen durfte, aber er besaß doch noch das bescheidene Maß historischer Bildung, um die unvermeidlichen Folgen der Klassenjustiz vorherzusehen.

Davon ist heute keine Rede mehr. Der deutsche Patriot wärmt seine Hände am Feuer der Klassenjustiz; er ist politischer Dickhäuter genug, um nicht einmal zu spüren, wie er sich dabei die Finger versengt, so dass sie schließlich doch nicht mehr die Couponschere werden regieren können. Dem „Volke der Dichter und Denker" ist die „schießende Flinte und der hauende Säbel" zum Ideal geworden, und darüber ist ihm jede Spur von Logik abhanden gekommen. Seitdem die Arbeiter in Preußen und Sachsen sich unter dem Eindruck der russischen Revolution mit regem Eifer um das ihnen geraubte Wahlrecht für die Landtage in Berlin und Dresden rühren, schreit das bürgerliche Pressgeschwister, unter Führung des dickbäuchigen Tintenkulis, den sich die ostelbischen Brotwucherer als feilen Marktschreier gemietet haben: Nun erst recht nicht; mit Gewalt lassen wir uns nichts abtrotzen. Als ob die edle Gesellschaft sich in den zehn Jahren, seitdem den sächsischen Arbeitern ihr bisschen Wahlrecht geraubt oder selbst in den mehr als fünfzig Jahren, seitdem das preußische Geldsackswahlrecht durch einen elenden Staatsstreich oktroyiert worden ist, je darum gekümmert hätte, das Unrecht wieder gut zu machen, das sie mit Wissen und Willen angerichtet hat.

Will man das blöde Geschrei vom bürgerlichen Standpunkt ernsthaft nehmen, wie es hier oder da ein weißer Rabe tun mag, so muss man darauf mit Herrn Delbrück in den „Preußischen Jahrbüchern" antworten: „Es ist eine der ältesten Erfahrungen der Weltgeschichte, die Historie von den Sibyllinischen Büchern, dass nötige Reformen, die man hinausschiebt, dadurch nur um so teurer werden." Von unserem Standpunkt aus dürfen wir sehr viel kürzer und sehr viel ungelehrter antworten: Na, denn nicht! Als ob die Arbeiter etwas dadurch verlören, dass sie wie Heloten zurückgewiesen werden, sobald sie die friedliche und gesetzliche Forderung auf Wiederherstellung der ihnen geraubten Rechte stellen; als ob ihre Muskeln für den proletarisch-revolutionären Klassenkampf durch irgend etwas anderes so gestählt werden könnten als dadurch, dass ihnen die kapitalistischen Presssöldner alle Tage in die Ohren schreien: Ein Recht zu beanspruchen habt ihr kein Recht; wartet in geduldigem Gehorsam ab, was euch die Gnade eurer Unterdrücker freiwillig spendet oder auch nicht spendet.

Wenn sich die herrschenden Klassen an der unermüdlichen Proklamierung einer so glorreichen Auffassung berauschen, so gönnen wir ihnen gern dies Vergnügen, von dem schwer zu sagen ist, ob es wohlfeil oder kostspielig für sie genannt werden muss. Wohlfeil ist es, weil nur das Gehirn eines Starmatzen dazu gehört, um in eintöniger Wiederholung die vier Worte zu kreischen: Nun erst recht nicht; kostspielig aber, weil es gar kein gründlicheres Mittel gibt, auch den noch unentwickeltsten Schichten der Arbeiterklasse die Lehre einzuprägen, dass die herrschenden Klassen ihre Todfeinde sind, die ihnen nicht einmal das einfachste Menschenrecht gönnen. Denn eben jene Auffassung, wonach den Arbeitern ein geraubtes Recht nicht zurückerstattet werden darf, weil sie diese Rückerstattung beanspruchen, sieht in den Arbeitern nur gezähmte Tiere, denen man nie den Willen tun darf, wenn sie fürderhin noch der Peitsche gehorchen sollen.

Mit einer Parole, die Hunderttausende und aber Hunderttausende ehrliebender, wenn auch sozialpolitisch bisher noch nicht aufgeklärter Arbeiter sozusagen gewaltsam in den proletarischen Klassenkampf stößt, ist diesem Klassenkampf ungleich mehr gedient als mit irgendeiner Reform des preußischen oder des sächsischen Landtagswahlrechtes, die unter den heute obwaltenden Umständen zurechtgemacht werden könnte und sicherlich nichts weniger lohnen würde als eine Aktion der Kleinkalibrigen. Zu einer solchen Aktion gehören immer zwei, und es ist ein weiteres Zeugnis für die wachsende Geist- und Geschmacklosigkeit der kapitalistischen Großmäuler, dass sie gar nicht merken, wie lächerlich sie sich mit ihren mordspatriotischen Drohungen machen. Die Frage steht nicht so, wie sie selbst Herr Delbrück stellt: Landtagswahlreform oder Straßenemeute, sondern vielmehr: Landtagswahlreform oder die Einreihung eines neuen Heeres in die sozialdemokratische Organisation. Und da lassen wir uns die Entscheidung der kapitalistischen Bramarbasse gern gefallen. Eine ganze oder auch nur eine halbe Million Stimmen mehr bei den nächsten Reichstagswahlen ist für die gründliche Emanzipation des deutschen Proletariats unendlich viel wichtiger als einige Dutzend sozialdemokratischer Mandate in der Berliner und Dresdener Landstube.

Verfolgt die deutsche Arbeiterklasse konsequent und kühn den Weg, den ihr die historische Entwicklung vorschreibt, so schlägt alle Dummheit und alle Gehässigkeit, womit die herrschenden Klassen sie von diesem Wege drängen wollen, stets zu ihren Gunsten aus. Selten hat sich diese Dummheit und Gehässigkeit so plump gezeigt wie gegenüber dem frischen Hauche, womit die russische Revolution die deutsche Arbeiterbewegung beseelt, aber selten mag sie auch so völlig wie dieses Mal das Gegenteil von dem erreicht haben, was sie erreichen möchte. Ihr verzweifelter Versuch, die deutsche Autokratie aufzudonnern, zur Zeit, wo die russische Autokratie hoffnungslos zusammenbricht, soll und wird ihr übel bekommen.

Indem die deutsche Arbeiterklasse den Helden und Märtyrern der russischen Revolution ihre Bewunderung und ihren Dank spendet, wird sie zugleich ein gewaltiges Stück des Bodens zertrümmern, auf dem die deutschen Gesinnungsgenossen der Plehwe und Sergius sich annoch mit falstaffischer Gebärde spreizen.

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