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Franz Mehring 19060418 Zum Maitag

Franz Mehring: Zum Maitag

18. April 1906

[Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Zweiter Band, S. 105-108. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 159-162]

Der Maitag des internationalen Proletariats hat zwei Seiten, die sich äußerlich scheinbar scheiden, aber innerlich unlösbar zusammenhängen; er ist eine Kundgebung für den Achtstundentag, und er ist eine Kundgebung gegen den Krieg. Derselbe Klassengegensatz, der zur maßlosen Verwüstung der Arbeitskraft führt, erzeugt auch die Kriege, die verheerend durch die Völker des Erdballs fahren; man kann die eine Geißel der Menschheit nicht aufheben ohne die andere.

Aber im Wechsel der Zeiten tritt bald die eine, bald die andere Seite des Maitags in den Vordergrund. Vor zwei Jahren, als ein gewaltiger Krieg entbrannt war und das Maifest auf einen Sonntag fiel, womit sich die Frage der Arbeitsruhe erledigte, drängte sich vor allem der Ruf auf: Krieg dem Kriege; vor einem Jahre, als die herrschenden Klassen über das heldenhafte Ringen der Bergarbeiter mit der berufenen Trutznovelle quittierten, war es an der Zeit, in erster Reihe die niederziehenden Tendenzen der kapitalistischen Produktionsweise zu brandmarken und mit allem Nachdruck die Umkehr zu verlangen, deren erster bedeutsamer Anfang der Achtstundentag ist.

In diesem Jahre aber treten die Tendenzen des Maitags gleichmäßig heischend an die Arbeiterklasse heran. Gewiss, gegenwärtig tobt kein großer Krieg, und es mögen keine Gewitterwolken über der gesitteten Welt hängen, deren vernichtende Entladung für heute oder morgen zu fürchten ist. Jedoch die abgeschmackte und frivole Posse der Konferenz von Algeciras1 hat den unterdrückten Klassen gezeigt, in wie unfähige Hände die kapitalistische Welt die Entscheidung über Krieg und Frieden gelegt hat, und die kompromittierteste unter den kompromittierten ist die deutsche Diplomatie gewesen. Ohne jedes wirkliche Interesse auch nur der kapitalistischen Klassen, geschweige denn der Nation, hat sie mit dem Kriegsfeuer gespielt und hat dann abziehen müssen wie der ertappte Fuchs vom Hühnerstall. Nachdem sie alle Welt immer umschichtig angebiedert und angeschnauzt hat, wird sie von aller Welt verlacht; die Säbelrasselei, die sie in der Todesangst um ihr „Prestige" unternahm, hat damit geendet, unzweideutig zu offenbaren, dass sie längst jedes „Prestige" verloren hat und dass sogar der nach allen Noten zusammengedroschene Zar sich über die deutsche Diplomatie noch immer erhaben genug dünkt, um ihr derbe Nasenstüber zu erteilen.

Und die beispiellose Niederlage – beispiellos wenigstens seit Jena und Olmütz2 – hat ihr keineswegs ein Gefühl ihrer Nichtigkeit einzuflößen vermocht. Sie versteht sich nicht einmal auf den abgegriffensten Kunstgriff aller Blamierten, wenigstens öffentlich keinen Ärger über ihre Blamage zu verraten. Und wie genial sie die Gelegenheit zu ergreifen weiß, diesen Ärger zu zeigen! Das furchtbare Unglück, das ein Naturereignis, der Ausbruch des Vesuvs, über blühende Landschaften Italiens gebracht hat, muss dazu dienen, hehren Unwillen darüber zu bekunden, dass die italienische Regierung verständig genug gewesen ist, die Sprünge der Ära Bülow in der Marokko-Frage nicht mitzumachen. Von der frumben „Germania" bis zum freisinnigen „Berliner Tageblatt" ergehen sich die bürgerlichen Blätter darüber in Ausbrüchen einer Begeisterung, die unter Botokuden als der Ausfluss einer ungewöhnlichen Geistes- und Herzensrohheit gelten würde. Ja, dieses Reiches Herrlichkeit offenbart sich in überwältigender Weise! Alle Elemente beugen sich ihr, und selbst die Vulkane rächen die gekränkte Ehre der deutschen Diplomatie, so dass freisinnige wie fromme Patriotenhände keine würdigere Aufgabe kennen, als Kränze des Dankes um Feuer speiende Krater zu winden.

Die praktische Wirkung dieser herzerhebenden Huldigungen ist nun freilich die, zu zeigen, dass es mit dem schönen Dreibund nichts mehr ist, jenem unzerbrechlichen Anker, an dem angeblich seit zwei Jahrzehnten der Frieden und die Zivilisation Europas sicher behütet lagen. Es scheint nun nicht, dass Trauernde um seine Bahre stehen, und wir weinen ihm zuletzt eine Träne nach. Aber deshalb darf der deutschen Arbeiterklasse die völlige Isoliertheit des Reiches nicht gleichgültig sein, denn sie ist es in letzter Instanz, die mit ihrem Blute und ihren Knochen die Zeche bezahlen muss, die eine leichtherzige und unfähige Diplomatie angerichtet hat. Und am wenigsten darf sie sich durch das törichte Geschwätz betören lassen, womit die bürgerliche Presse ihren Verrat beschönigt, dass man nämlich um der „nationalen Ehre" wegen entschuldigen oder totschweigen müsse, was die Bülow und Genossen gesündigt haben. Die Nation, deren weitaus größter und wichtigster Bestandteil die Arbeiterklasse ist, hat diese Herren nicht beauftragt, auswärtige Politik zu treiben, und wenn sie ihren Beruf dazu von Gottes Gnaden ableiten, so mag man ihren Gott gern nach dem bekannten Worte als guten Mann passieren lassen, aber als weisen Mann kann man ihn unmöglich ästimieren. Sicherlich hat die deutsche Nation alles Interesse daran, ihre entwürdigte Stellung im Reigen der Kulturvölker wieder auf den einer zivilisierten Nation gebührenden Rang zu heben, aber dann gebietet das nationale Interesse und die nationale Ehre nicht, den Urhebern des Marokko-Rummels in den Sumpf zu folgen, wohinein sie getappt sind, sondern möglichst weit von ihnen wegzurücken. Nur so lässt sich das internationale Ansehen Deutschlands wiederherstellen. Dies kann aber nicht wirksamer geschehen, als wenn die deutschen Arbeiter am Weltenfesttag des internationalen Proletariats mit dreifach verstärktem Nachdruck erklären: Krieg dem Kriege! Das heißt: Krieg den abenteuerlichen Streichen einer Diplomatie, die mit dem Kriegsfeuer spielt! Krieg dem Weltmachtkitzel winziger Persönlichkeiten, die sich überall auf der Erdenrunde lästig machen, ob sie nun den segnenden oder den donnernden Wettergott spielen! Krieg der müßigen Drohnenpolitik, die das Blut und den Fleiß unzähliger Millionen aufs Spiel setzt, weil sie sich nicht genügend geachtet fühlt und am Ende auch – gerade als müßige Drohnenpolitik – auch wenig geachtet ist!

Allein nicht minder als die antimilitaristische tritt die antikapitalistische Seite des Maientages in diesen Tagen hervor. Kaum zwei Monate besteht der Wuchertarif, den die Arbeiter denselben Leuten verdanken, die auch für das Fiasko der auswärtigen Politik verantwortlich sind, und schon flutet eine mächtige Streikwelle durchs Land, um den Hunger von der Türe der Arbeiterklasse zu scheuchen. Die langsamen Errungenschaften jahrzehntelanger Kämpfe sind ihr mit einem Streiche geraubt worden; soweit sie sich überhaupt schon eine bescheidene Höhe der Lebenshaltung erworben hatte, muss sie von neuem darum kämpfen, und es ist abermals nicht nur ein einseitiges Klassen-, sondern ein allgemeines Interesse der gesamten Nation, dass sie sich auf der mühsam erreichten Kulturhöhe behauptet. Aber das nationale Interesse wird wiederum allein von der Arbeiterklasse verfochten, und sie muss ihre äußerste Kraft zusammennehmen, wenn sie nicht doch mehr zurück gleiten als vordringen oder auch nur feststehen will. Diejenigen Schichten der besitzenden Klassen, die dem Hungertarif einen platonischen Widerstand entgegengesetzt haben, denken deshalb doch nicht daran, den Kampf der Arbeiter gegen seine verwüstenden Wirkungen zu unterstützen. Am letzten Ende vertragen sie sich lieber mit den Wucherern als mit den Ausgewucherten.

In dem Kampfe gegen den Brotwucher ist die Arbeiterklasse somit auf sich selbst angewiesen, und sie wird ihn umso siegreicher führen, je enger und fester sie ihre Reihen schließt. Auch für diesen Zweck muss ihr das nahende Maifest ein großer Werbetag sein, und sie kann nicht nachdrücklicher werben, als wenn sie zeigt, dass sie entschlossen ist, klare Rechnung mit ihren Bedrückern und Verfolgern zu machen. Ist gegen den Maitag je mit einem Schatten oder auch nur mit einem Scheine von Recht der Vorwurf erhoben worden, dass er zu einer bloßen Belustigung entartet sei, zu einer Kundgebung ohne politischen und sozialen Wert, so muss in diesem Jahre jeder verdunkelnde Schatten, jeder trügende Schein dieser Art vermieden werden. Schwerer denn je sinkt in die Waagschale dieses Maitags die Mahnung, dass seine würdigste Feier die Arbeitsruhe ist. Wäre es wahr, dass die besitzenden Klassen sich umso nachgiebiger erwiesen, je friedlicher sich die Arbeiter gebärden – weshalb quälen sich ihre Soldschreiber denn ab, das proletarische Maifest als ein Kaffeekränzchen und einen Bierskatnachmittag zu verhöhnen? Wäre dem so, so müssten sie ja froh sein und Triumpheslieder darüber anstimmen, dass die Arbeiter friedlich genug denken, um sich an ihrem Feiertag nur gedankenlosen Zerstreuungen hinzugeben.

Nein, gerade der schale Spott der kapitalistischen Soldschreiber zeigt, dass, je nachgiebiger sich die Arbeiter erweisen, sie nicht um so mehr auf das Entgegenkommen als auf den blutigen Hohn ihrer Ausbeuter zu rechnen haben. Diese praktischen Leute geben nichts freiwillig, und die schönen Augen der Ausgebeuteten sind ihnen nicht einmal einen Pfifferling wert; sie verzichten nur auf das, was ihnen abgetrotzt und abgerungen wird, und anders wird das Proletariat niemals etwas von ihnen erlangen. Seinen Maitag feiert es wirksam und würdig nicht mit dem ängstlichen Bestreben, alle Opfer zu vermeiden, die sich irgend vermeiden lassen, sondern mit dem Entschluss, ihn zu einer wuchtigen Kundgebung zu machen, die den Feinden gehörigen Respekt einflößt, unbeschadet der Opfer, die diesem Zwecke gebracht werden müssen.

Vorausgesetzt natürlich, dass der Verlust den Gewinn nicht übersteigt. Diese Voraussetzung gilt für alle Kriegführung, und im einzelnen Falle wird immer zu untersuchen sein, ob und inwieweit sie zutrifft. Eine allgemeine Regel, die ja ein Katechismus aller Strategie und Taktik sein würde, lässt sich darüber nicht aufstellen. Aber wohl gilt als allgemeine Regel aller Kriegführung, dass kein Sieg ohne Kampf errungen werden kann und dass noch jeder Feldzug am letzten Ende verloren worden ist, bei dem die Sorge um den Verlust die Sorge um den Gewinn überwog.

Einem solchen Feldzug darf die Geschichte des internationalen Maifestes nimmermehr gleichen, und wenn es demnächst zum siebzehnten Mal wiederkehrt, wird es allen Krittlern und Zweiflern zum Trotze zeigen, dass es lebt und zu leben wert ist.

1 Die Konferenz von Algeciras (16. Januar - 7. April 1906) beendete die erste Marokko-Krise. Sie war einberufen worden als Antwort auf die Drohung Deutschlands, koloniale Eroberungen Frankreichs mit Krieg zu beantworten. Die K. wurde das erste sichtbare Zeichen der Isolierung Deutschlands vor dem ersten Weltkrieg. Die Algeciras-Akte deklarierte die Unabhängigkeit Marokkos und das Prinzip der „offenen Tür" für die wirtschaftliche Expansion aller Mächte; sie wurde u. a. von Deutschland, Österreich-Ungarn, Italien, Frankreich, Großbritannien, den USA und Russland unterzeichnet.

2 In der Schlacht bei Jena am 14. Oktober 1806 bereiteten die Franzosen unter Napoleon I. dem preußischen Korps Hohenlohe eine entscheidende Niederlage. Gleichzeitig wurde bei Auerstädt (Naumburg) die preußische Hauptarmee vernichtet. Die Doppelschlacht von J. und A. entschied das Schicksal des morschen feudalabsolutistischen preußischen Staates.

In der Olmützer Punktation vom 29. November 1850 fand die preußische Unionspolitik – der erste Versuch, die nationale Vereinigung von oben durchzusetzen – ihr Ende. Auf Verlangen des Zaren und Österreichs musste Preußen nicht nur die schon erklärte Mobilmachung (gegen Kurhessen – der Kurfürst appellierte an den Schutz Österreichs) zurücknehmen, sondern auch auf die Durchsetzung seiner Hegemoniebestrebungen in Deutschland verzichten. Alle entscheidenden Bestimmungen der Verhandlungen fielen zuungunsten Preußens aus.

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