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Franz Mehring 19070102 Bülows Wahlparole

Franz Mehring: Bülows Wahlparole

2. Januar 1907

[Die Neue Zeit, 25. Jg. 1906/07, Erster Band, S. 449-452. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 214-218]

Immer fahriger, leichtherziger und abenteuerlicher": Mit diesen Worten kennzeichnete Kautsky im vorigen Hefte der „Neuen Zeit" die Politik des Fürsten Bülow, und kaum waren die Worte gedruckt, als der Reichskanzler seinen Wahlaufruf vom Stapel ließ, der in der Tat an Fahrigkeit, Leichtherzigkeit und Abenteuerlichkeit alles überbietet, was dieser Herr bisher geleistet hat.

Sicherlich: Die Sozialdemokratie konnte sich nichts Besseres wünschen als eine derartige Kundgebung des leitenden so genannten „Staatsmannes"; wir müssten die unbescheidensten Leute der Welt sein, wenn wir insoweit nicht völlig befriedigt wären. Aber gleichwohl kann man die Wahlparole Bülows nicht ohne ein Gefühl der Erbitterung und Scham lesen: der Erbitterung und Scham darüber, in welchen Händen sich tatsächlich die deutschen Geschicke befinden. Wenn es richtig ist, dass jedes Volk die Regierung hat, die es verdient, so ist die deutsche Nation durch Bülows Brief an den Reichsverband zur Bekämpfung der Sozialdemokratie1 bis auf die Knochen bloßgestellt.

Schon die Adresse dieses Briefes ist eine Blamage ersten Ranges. Es will zwar viel sagen, aber ist dennoch nur die nackte Wahrheit: In den mehr als vierzig Jahren ihrer Geschichte ist die Sozialdemokratie noch nie auf einen so elenden und verächtlichen Gegner gestoßen wie diesen Verband. Er ist eine Missgeburt, die der Blödsinn mit der Lüge erzeugt hat; er lebt allein von der Verleumdung, die echte und rechte Hyäne des Schlachtfeldes, auf dem Kapital und Arbeit miteinander kämpfen. Man muss auf die bonapartistische Lumpengarde zurückgehen, die Marx im „18. Brumaire"2 mit ehernem Griffel gezeichnet hat, um in der modernen Geschichte eine Erscheinung zu finden, die sich dem Reichsverband zur Bekämpfung der Sozialdemokratie an die Seite stellen ließe.

Und an diese Gesellschaft adressiert der Reichskanzler seinen Wahlaufruf und datiert ihn gar noch vom Silvestertag! Als ob jeder Wähler mit der Nase darauf gestoßen werden müsste, dass es sich bei dieser feierlichen Kundgebung um einen – freilich blutigen – Silvesterscherz handelt! Es ist eine Satire auf alles, was man bisher unter Diplomatie und Politik verstanden hat, die sich Fürst Bülow mit seinem Briefe geleistet hat. Statt die Gegner zu entwaffnen und die Freunde zu stärken, was nach der sinnlichen Kutscherauffassung des profanen Lebens der Zweck jeder politischen Agitation ist, stärkt er die Gegner und entwaffnet die Freunde.

Wir denken dabei gar nicht einmal an seine Tiraden über die Sozialdemokratie. Dies Gefasel steht in der Tat auf dem Niveau des Reichsverbandes, das heißt intellektuell und moralisch so tief, dass es überhaupt nicht mehr ins politische, sondern ins pathologische Gebiet fällt. Der Reichskanzler denunziert die Sozialdemokratie als Schrittmacherin „alles dessen, was sich irgendwo in Deutschland an reaktionärer Gesinnung finde, was Kraft und Recht gewinne durch die sozialistische Unterwühlung der Begriffe von Obrigkeit, Eigentum, Religion und Vaterland". Und wie herrlich ist der Beweis, den Fürst Bülow für diese Behauptung führt! „Auf den wild gewordenen Spießbürger und phrasentrunkenen Gleichmacher Robespierre folgte der Degen Bonapartes. Er musste kommen, um das französische Volk von der Schreckensherrschaft der Jakobiner und Kommunisten zu befreien." Lassen wir einmal allen Widersinn beiseite, der in der „Schreckensherrschaft der Jakobiner und Kommunisten" steckt, und bewilligen wir dem Reichskanzler alle mildernden Umstände angeborener junkerlicher Beschränktheit, aber ist es wirklich erlaubt, nur an blöde Unwissenheit zu glauben, wenn der „Degen Bonapartes" auf die „Schreckensherrschaft der Jakobiner und Kommunisten" zurückgeführt wird? Die fürchterlichen Prügel, die Bülows junkerliche Vorfahren vor hundert Jahren durch diesen Degen erhielten, hätten doch wohl selbst in ostelbischen Junkergehirnen die Erkenntnis wach halten sollen, weshalb der „Degen Bonapartes" kommen „musste". Nämlich nicht wegen der so genannten „Schreckensherrschaft der Jakobiner und Kommunisten", die seit Jahren verschwunden war, als der „Degen Bonapartes" kam, sondern wegen der feigen und verräterischen Tücke, womit die feudalen Mächte Europas die bürgerlichen Errungenschaften der Französischen Revolution bedrohten, Mächte, unter denen keine so viel an feiger und verräterischer Tücke aufbrachte wie der altpreußische Staat, der denn auch, zum Heil und Segen der zivilisierten Menschheit, durch den „Degen Bonapartes" völlig zertrümmert wurde.

Doch, wie gesagt, über die trödelhaften Ausfälle des Bülowschen Briefes gegen die Sozialdemokratie wollen wir nicht viele Worte verlieren. Wir stellen in diesen Fragen, wie überhaupt in allen wirklichen Kulturfragen, keine höheren Ansprüche an ihn als an einen beliebigen Agitator des Reichsverbandes, den er mit seiner Zuschrift beglückt hat. Was man aber billigerweise von ihm beanspruchen könnte, das wäre, dass er im Verkehr mit den bürgerlichen Parteien wenigstens die durchschnittliche Geschicklichkeit eines Pferde- oder Kuhhändlers entwickelte. Statt dessen ist er so liebenswürdig, dem Zentrum, das er bekämpfen will, die Parole zu bestätigen, womit es in den Wahlkampf zieht, und so unliebenswürdig, den Liberalismus, den er gewinnen will, sozusagen an den Haaren von dem halb schon vollbrachten Umfalle zurück zu reißen.

Das Zentrum verteidigt in dem gegenwärtigen Wahlkampf angeblich nichts als das parlamentarische Budgetrecht, und ebendies ist der Reichskanzler so gütig, ihm zu bestätigen. Er sagt, das Zentrum habe „positive Arbeit" geleistet – nämlich im Sinne der herrschenden Reaktion —, es habe die wichtigsten Aufgaben gelöst, die Verstärkung der Seewehr, die Handelsverträge, die Finanzreform. Alles das sind vom nationalen Standpunkt aus ebenso viele Schuldtitel des Zentrums, aber vom Standpunkt des Reichskanzlers aus sind es Ruhmestitel, wie er auch selbst anerkennt, und obendrein rühmt er die uneigennützige Art, womit sich die Ultramontane Partei diese Verdienste erworben habe; er will dem Zentrum zuliebe keine staatlichen Hoheitsrechte preisgeben oder sich in kulturellen und religiösen Fragen schwach gezeigt haben. Was hat also das Zentrum in den Augen des Reichskanzlers gesündigt? Nicht mehr und nicht weniger als dass es die sinnlosen und verschwenderischen Ausgaben für die durch und durch korrupte Kolonialpolitik an einigen mehr nebensächlichen Punkten gekürzt hat, obgleich die abgelehnten Forderungen von der Regierung für „dringend notwendig" erklärt worden waren. Darin sieht Fürst Bülow einen Versuch des Zentrums, „seine parlamentarische Stärke zu missbrauchen", „und es reifte in ihm der Entschluss, jedem neuen Versuch solcher Machtproben mit aller Kraft entgegenzutreten". Deshalb wurde der Reichstag aufgelöst.

Man kann das parlamentarische Budgetrecht nicht dreister bestreiten, das persönliche Regiment nicht offenherziger proklamieren. Wenn es nicht das gute Recht des Reichstags ist, jede Geldforderung der Regierung zu verwerfen, sobald er sie für schädlich oder überflüssig hält, gänzlich unbekümmert darum, ob die Regierung sie für „notwendig" halte oder nicht, so ist das parlamentarische Budgetrecht keinen Fidibus wert. Gewiss könnte der Reichskanzler auch argumentieren: Da die abgelehnte Forderung der Regierung nach deren Ansicht so notwendig ist, dass ihre Verweigerung die wichtigsten Reichsinteressen gefährdet, so habe ich von dem irrigen Urteil des aufgelösten an das zutreffende Urteil eines neu zu wählenden Reichstags appelliert. Allein so argumentiert Bülow nicht, schon aus dem triftigen Grunde nicht, weil ihm inzwischen die Unterwerfung der Bondelswarts3 diese Karte aus der Hand geschlagen hat. Er deklariert vielmehr mit dürren Worten den Gebrauch des parlamentarischen Budgetrechts als einen Missbrauch, als ein Parteiregiment, von dem die große Mehrheit des Volkes nach seiner – natürlich höchst unmaßgeblichen – Ansicht nichts wissen wolle; er unterschreibt höchst eigenhändig den Wahlaufruf des Zentrums, wonach die Wahrung des parlamentarischen Budgetrechtes der Gegenstand des Streites im gegenwärtigen Wahlkampf sein soll.

Die ganze Genialität dieser Politik tritt aber erst ins volle Licht, wenn man den Fürsten Bülow erklären hört, bei diesem Kampfe gegen das parlamentarische Budgetrecht rechne er auf den Zulauf der Partei, in deren Programm das parlamentarische Budget sozusagen das A und O ist, nämlich die Partei, die sich „um die Vertreter des liberalen Bürgertums" sammelt. Der Reichskanzler nimmt an, der blöde Sozialistenhass dieser Partei habe sie schon hinreichend verdummt, um sie zu willigen Stiefelputzern der Regierung zu machen, zu so willigen Stiefelputzern, dass sie gar nicht einmal mehr durch kleine Trinkgelder gewonnen, sondern nur noch durch derbe Fußtritte angespornt zu werden brauchen. Er spricht dem Freisinn „den klaren Willen und die Fähigkeit" ab, „positive Politik zu treiben"; er wirft ihm „innere Uneinigkeit" vor, dazu „negativen Doktrinarismus, Übertreibung der Prinzipien und Unterschätzung des praktisch Erreichbaren"; er vermisst an ihm „Maßhalten, richtiges Augenmaß und Blick in die Nähe, Sinn für historische Kontinuität und reale Bedürfnisse". Selbst in dem spärlichen Lobe, das der Reichskanzler dem Freisinn erteilt, tritt er ihm empfindlich auf die Hühneraugen: Er beschränkt „Eugen Richters Kampf gegen die Sozialdemokratie" aufs „letzte Jahrzehnt", während es der ganze Stolz Eugen Richters war und seiner Myrmidonen noch ist, dass Lassalle schon diesen Thersites in seinen Spuren gehabt hat, mit ähnlichen Waffen, wie sie heute der Reichsverband zur Bekämpfung der Sozialdemokratie schwingt.

Es ist vielleicht der einzige Schimmer von Licht in dem Wahlaufruf des Reichskanzlers, dass er die verdummenden Wirkungen des Sozialistenhasses außerordentlich hoch einschätzt, und den „steigenden Widerwillen gegen das sozialdemokratische Treiben" für einen tüchtigen Feldwebel hält, der den braven Freisinn zur willenlosen Hilfstruppe der Regierung gedrillt hat. Es mag deshalb dahingestellt bleiben, ob Bülow sich in diesem Punkte nicht auch verrechnet hat, ob die gehäuften Ohrfeigen, womit er den Freisinn in seinen Dienst pressen will, in dieser wackeren Partei nicht noch einen Rest von Scham und Stolz auslösen werden. Die Frage ist deshalb verhältnismäßig nebensächlich, weil, wenn der Freisinn auf diese Bedingung hin kapitulierte, der letzte Boden, den er etwa noch in den Volksmassen haben mag, ihm unter den Füßen weg schwinden würde.

Nichts weniger als nebensächlich für den Fürsten Bülow ist aber die Tatsache, dass er mit seiner Absicht, sich im Freisinn eine sklavische Hilfstruppe gegen die Roten und Schwarzen zu schaffen, bei seinesgleichen, nämlich den ostelbischen Junkern, arg ins Fettnäpfchen getreten ist. Von einem Vertrage zwischen Freisinn und Regierung, und mag es auch ein so ausschweifender Löwenvertrag zugunsten der Regierung sein, wie ihn Bülow plant, wollen diese braven Patrioten schlechterdings nicht wissen. Sie denken: besser bewahrt als beklagt; kommt der Freisinn überhaupt in die Nähe der Krippe, und sei es selbst in der demütigsten Knechtsgestalt, wer weiß, ob er uns nicht manches Maul voll Heu wegrauft. Sie sind darin äußerst penibel, diese biederen Stützen von Thron und Altar, zumal sie längst dahinter gekommen sind, dass ihr Herz, will sagen, ihr Interesse in bar, sie weit mehr zu den ultramontanen Brot- und Fleischwucherern zieht als zum Freisinn, der bei aller Demütigung in diesen delikaten Punkten doch immer ein unsicherer Kantonist bleibt.

So rollt der Wahlaufruf des Reichskanzlers wie ein Erisapfel in die bürgerliche Wahlbewegung und steigert eine Konfusion, die noch zu steigern nur einem so genialen Staatsmann gegeben sein konnte.

1 Der Reichsverband gegen die Sozialdemokratie wurde unter Vorsitz des Generals von Liebert am 9. Mai 1904 von führenden Vertretern der Schwerindustrie, der Banken und schon bestehender imperialistischer Propagandaorganisationen (Alldeutscher Verband) gegründet. Wegen der Verlogenheit und Skrupellosigkeit seiner Agitation wurde er von den Arbeitern Reichslügenverband genannt.

3 Bondelswart – aufständischer Stamm der Nama (;Hottentotten') im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika.

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