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Franz Mehring 19071016 Der Prozess Liebknecht

Franz Mehring: Der Prozess Liebknecht

16. Oktober 1907

[Die Neue Zeit, 26. Jg. 1907/08, Erster Band, S. 81-84. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 308-312]

Der brave Block hat wirklich Pech! Er soll eine neue Ära des Glückes über das deutsche Vaterland heraufführen, aber ehe er davon auch nur den leisesten Schimmer zu verwirklichen vermag, flattert ihm ein Schwärm des dunkelsten Nachtgevögels vorauf; die guten Liberalen müssen segnen, was sie mit allen Registern unentwegter Gesinnungstüchtigkeit verflucht haben in der Ära Manteuffel, über der in der Tat noch so etwas wie grönländischer Sonnenschein liegt im Vergleich mit der glorreichen Ära Bülow, in der wir leben.

Die riesigste Eule in dem nächtlichen Schwarme ist bisher der Prozess Liebknecht. Nichts überflüssiger, als an dieser Stelle noch ein Wort der Kritik über die Anklage oder über das Urteil zu verlieren. Der Oberreichsanwalt Olshausen hat in dem Prozess selbst erklärt, er sei von einer bestimmten Stelle aus veranlasst worden, die Anklage zu erheben, nachdem die angeklagte Schrift Liebknechts monatelang unbeanstandet verbreitet worden sei, und es ist nicht schwer, diese Stelle zu ahnen; sie wird da zu suchen sein, wo das lebhafteste Interesse an der Erhaltung des heutigen Militarismus vorhanden ist. Man erzählt sich hier, der Oberreichsanwalt sei im Reichsjustizamt erschienen mit der flehentlichen Bitte, ihn von der Erhebung dieser Anklage zu entbinden, eine Anekdote, die, wenn sie falsch sein sollte, wie wir annehmen, die Lage noch schärfer beleuchten würde, als wenn sie wahr wäre. Denn sie würde dann nur in drastischer Form die allgemeine Überzeugung widerspiegeln, dass ein namhafter Jurist, der sich bis zur Erhebung dieser Anklage bequeme, vorher die allerschärfsten Gewissensqualen niedergekämpft haben müsse. Diese Überzeugung mag sehr irrig sein, und sie beweist nichts gegen den Oberreichsanwalt Olshausen, der ja mit frischem und fröhlichem Mute an die Anklage gegangen sein mag, aber sie spiegelt treffend den Eindruck wider, den die weitesten Volkskreise, und nicht zuletzt auch bürgerliche, von der gerichtlichen Prozedur gegen den Genossen Liebknecht erhalten haben.

Ebenso wenig wie die Anklage kann das Urteil eine besondere Würdigung beanspruchen. Es ist charakteristisch genug, dass auch diejenigen Blätter, die ihm ihren Beifall spenden, nicht einmal den Versuch machen, es juristisch zu rechtfertigen; sie feiern es vielmehr als eine politische Aktion, als einen nach ihrer Meinung vernichtenden Schlag gegen die antimilitaristische Agitation. Juristisch und logisch bricht das Urteil auf den ersten Blick zusammen, den ihm der einfache gesunde Menschenverstand spendet, mag es auch nach der ehrlichen Überzeugung von fünfzehn Reichsgerichtsräten gefällt sein. Wenn das Urteil die Vorbereitung zum Hochverrat darin entdeckt, dass Liebknecht theoretisch den verfassungsmäßigen Anspruch des Kaisers auf den unbedingten Gehorsam des Heeres angezweifelt hat, so erklärt es für hochverräterisch auch solche Lehren, die bisher selbst von den Kathedern deutscher Universitäten durch die unzweifelhaft – nach Ansicht der herrschenden Klassen unzweifelhaft – gesetzes- und staatstreuesten Lehrer verkündet worden sind.

Wir wollen nur aus Treitschkes Vorlesungen über Politik folgende Sätze zitieren, und zwar aus dem Kapitel über das Heerwesen: „Wenn man unter Menschen von Verpflichtungen spricht, so kann man, ohne Gott zu lästern, nicht vergessen, dass es hier absolute Verpflichtungen nicht gibt noch geben soll. Jeder menschlichen Verpflichtung ist eine letzte Schranke gesetzt, die des Gewissens. Absolute Hingebung an einen sterblichen Menschen kann es nicht geben. Man soll nicht zu unseren Soldaten sprechen, als ob sie auch Vater und Mutter auf Befehl ihrer Vorgesetzten totschlagen müssten. Sind denn die Soldaten eines stehenden Volksheers gleichzustellen den kindermordenden Söldnern des Königs Herodes? Hieran hat uns Studenten schon unser lieber guter Lehrer Dahlmann in Bonn erinnert. Sein Gewissen kann kein denkendes Wesen opfern, darum gilt auch vom Fahneneid, dass der Fall eintreten kann, dass einer um seines Gewissens willen nicht mehr gehorcht." Entweder sind diese Sätze Treitschkes auch hochverräterisch, oder Liebknecht ist unschuldig wegen Hochverrats verurteilt worden; ein Drittes gibt es nicht. Und wie viel milder war noch Liebknecht als Treitschke, denn er begrüßte Anklage und Urteil als „Gottesgeschenk", während Treitschke nach seinen obigen Ausführungen „Gotteslästerung" in der Ansicht erblickte, dass es eine absolute Verpflichtung des Heeres zum Gehorsam gegen alle Befehle des Kriegsherrn geben soll.

Eine etwas größere Beachtung als Anklage und Urteil verdient der Widerhall, den beide in der bürgerlichen Welt gefunden haben. Man muss hier unterscheiden zwischen der bürgerlichen Presse und den bürgerlichen Massen. Die bürgerliche Presse zeigt sich, wie schon angedeutet wurde, in ihrer ganzen Gesinnungslosigkeit, die nirgends abstoßender hervortritt als in der liberalen Presse, mit ganz wenigen Ausnahmen, wie der „Frankfurter Zeitung", die dieses Mal, wie gern anerkannt sei, den alten Überlieferungen des bürgerlichen Liberalismus treu geblieben ist und das Urteil des Reichsgerichtes als einen „schweren Justizirrtum" zurückgewiesen hat. Sonst aber hat die liberale Presse all die schönen Melodien, die sie noch aus den Tagen der Prozesse Waldeck, Ladendorf, Wiggers usw. auf der Walze hatte, schimpflich kassiert, zur höheren Ehre des Blockes, dem sie zunächst ihre Seele opfern muss, auf die dämmerhafte Aussicht hin, diesen oder jenen schmalen Bissen für ihres Leibes Hunger aufzuschnappen. Ob es ihr leicht oder schwer geworden ist, auf die alten angestammten Tiraden zu verzichten, können wir nicht wissen, aber gründlich aufgeräumt hat sie mit ihnen. Sie hat sich damit auf eine noch tiefere Stufe gestellt, als worauf die junkerliche Presse steht, die wenigstens niemals geheuchelt, die niemals ein Hehl daraus gemacht hat, dass sie in den Gerichten nur willige Werkzeuge der Klassenherrschaft sieht.

Doch liefert die bürgerliche Presse in diesem Falle nur ein unzureichendes Bild der Stimmungen, die der Leipziger Hochverratsprozess in den bürgerlichen Kreisen ausgelöst hat. Es gibt viel Kopfschütteln auf den Bänken der Philister, wobei vielleicht nicht weniger als ein stumpfer Rest von Rechtsbewusstsein, ein ästhetisches Missbehagen mitwirkt, ein ästhetisches Missbehagen an der höchst bescheidenen Rolle, die der Oberreichsanwalt und der Vorsitzende des Gerichtshofs gegenüber der so klugen wie kühnen Haltung des Angeklagten zu übernehmen hatten. Bis zu einem gewissen Grade wird dadurch freilich das Selbstbewusstsein des braven Spießbürgers verletzt, aber auch auf sein dumpfes Gemüt verfehlt es nicht des Eindrucks, wenn eine gute Sache, von übermächtiger Gewalt bedrängt, so freimütig und geschickt und unerschrocken verteidigt wird, wie Genosse Liebknecht seine Sache vertrat. So kann man in den bürgerlichen Kreisen sehr ketzerische, vom patriotischen Standpunkt aus sehr ketzerische Ansichten über diese große Haupt- und Staatsaktion hören, und das wirkt ein wenig auch auf die liberale Presse zurück, die hier und da in allem Blockfanatismus doch schon schüchtern andeutet, eine gräulichere Torheit als dieser Prozess hätte nicht leicht inszeniert werden können.

In der Tat gehörte die Ära Bülow dazu, um eine solche Leistung zu vollbringen. Caprivi hätte sie nicht vollbracht, wenigstens nicht, wenn er seines geflügelten Wortes eingedenk gewesen wäre, bei jeder politischen Aktion die Wirkung zu berechnen, die sie auf die Sozialdemokratie haben werde. Und über diese Wirkung konnte doch von vornherein kein Zweifel sein, auch wenn der Angeklagte seine Klinge minder glänzend geführt hätte, als er sie tatsächlich geführt hat. Selbst wenn die Urheber des Hochverratsprozesses gegen Liebknecht Sohn, mögen sie nun sitzen, wo sie wollen, wirklich so polizeiwidrig borniert sein sollten – was wir aus rein menschlichem Mitgefühl nicht gern annehmen möchten –, um sich nicht selbst zu sagen, wohinaus ihr Beginnen laufen würde, so hätten sie es von Liebknecht Vater lernen können, der schon vor 35 Jahren, als er, ebenfalls wegen Hochverrats, für zwei Jahre auf die Festung spazieren musste, diese Sühne des angeblich verletzten Rechtes mit Vergnügen auf sich nahm, um der riesigen Propaganda willen, die der gegen ihn geführte Prozess für die von ihm vertretene Sache machte. Gibt es wirklich reaktionäre Hohlköpfe, die sich einbilden, diesmal werde die Wirkung eine andere sein?

In der Tat, es gibt deren. Die Ankündigung des Parteivorstandes, die Verhandlungen des Leipziger Prozesses in einer wohlfeilen Massenbroschüre zu verbreiten, wird von dem offiziösen Hauptorgan Bülows mit der Drohung beantwortet, Gerichtsverhandlungen ständen nicht unter demselben Schutze wie Parlamentsverhandlungen; gegen jene Broschüre werde eingeschritten werden, wenn ihre Wiedergabe der gerichtlichen Verhandlungen einen strafbaren Inhalt enthalte. Gestehen wir also offen, wenn auch vielleicht mit patriotischer Scham: Die Dummheit unserer Reaktionäre ist unergründlich. Wir wollen uns gar nicht einmal dabei aufhalten, dass es nur der verfassungsmäßig verbürgten Öffentlichkeit des gerichtlichen Verfahrens entspricht, öffentlich geführte Gerichtsverhandlungen auch öffentlich zu verbreiten; über solche Strohhalme, wie verfassungsmäßige Bürgschaften, stolpert die offiziöse Presse Bülows nicht. Aber die brennende Begierde, die Blamage dieses Hochverratsprozesses noch zu potenzieren, verdient nach der negativen Seite hin alle Anerkennung und Bewunderung.

Indessen nur immer zu! Wir sind dankbar für jeden neuen Beweis, dass der brave Moloch den Boden unter seinen Füßen zittern fühlt und wachsende Angst in seinen Gebeinen zu spüren beginnt. Das gibt der Bewegung der Massen gegen ihn einen Nachdruck und Schwung, den wir umso lebhafter begrüßen, je weniger wir selbst fähig wären, in gleichem Maße die Massen gegen ihn aufzuwühlen. Auch hier vollzieht sich das alte historische Gesetz, dass überlebte Mächte sich selbst umbringen, gerade in dem heißen Bestreben, sich selbst im Widerspruch mit der historischen Entwicklung zu erhalten. Und wenn es auch harte Schläge sein mögen, die er den einzelnen noch zuzufügen vermag, so bieten die Sympathien von Millionen, die den Genossen Liebknecht in die Festungszelle begleiten, doch genügende Sicherheit dafür, dass die zerstörende Kulturarbeit am kulturfeindlichen Militarismus in den Tagen seiner unfreiwilligen Muße umso rüstigere Fortschritte machen wird.

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