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Franz Mehring 19070306 Deutscher Liberalismus und russische Duma

Franz Mehring: Deutscher Liberalismus und russische Duma

6. März 1907

[Die Neue Zeit, 25. Jg. 1906/07, Erster Band, S. 761-764. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 236-240]

Wenn wir vor acht Tagen als fraglich bezeichneten, ob die Etatsdebatte des Reichstags die ganze Woche beanspruchen würde, die für sie vorgesehen war, so hat sie sogar zwei Tage darüber hinaus gewährt. Aber es ist deshalb doch richtig geblieben, dass sie schon nach den ersten Tagen erschöpft war und ihre überlange Fortsetzung keinen anderen praktischen Wert gehabt hat, als dass sie noch zwei sozialdemokratischen Rednern, den Genossen Singer und David, die willkommene Gelegenheit bot, zu zeigen, dass die angeblich Besiegten der letzten Wahlen so aufrecht stehen wie je und sowenig geneigt wie gezwungen sind, vor den angeblichen Siegern die Flagge zu streichen.

In der Tat hat die Etatsdebatte die ganze Hohlheit und Nichtigkeit des Geredes aufgezeigt, als seien die sozialdemokratischen Wahlverluste einer „Erfrischung" und „Erneuerung" des „nationalen" oder gar des „liberalen" Gedankens zu danken gewesen. Sie sind allein einer beispiellosen Wahldemagogie zuzuschreiben, die in einer bisher immer noch unerhört gewesenen Weise mit Lug und Trug gearbeitet und dadurch alles, was es in Deutschland noch an philisterhaftem Stumpfsinn gibt, zu einem bockbeinigen Ausschlagen gegen den „Umsturz" aufgepeitscht hat. Das soll keineswegs in einem beschönigenden und vertuschenden Sinne gesagt sein, etwa wie sich ehedem Eugen Richter, der bewährteste Organisator von Wahlniederlagen, nach jeder neuen Tracht Prügel damit zu trösten pflegte: Wenn die Gegner nur anständig kämpfen wollten, so würden wir schon siegen. Wir rechnen vielmehr damit, dass unsere Gegner immer unanständig und je länger, je unanständiger kämpfen werden, und wir sammeln aus dem augenblicklichen Erfolg ihres Verleumdungsfeldzugs eben nur neue Erfahrungen, um auch der unanständigsten Kampfweise der Gegner gewachsen zu sein. Aber gänzlich frei von jeder weinerlichen Auffassung der politischen Lage, wie wir sind, lassen wir uns durch die Rodomontaden des Hottentottenblocks auch nicht darüber täuschen, dass er auf hohlen Füßen steht.

Hierüber hat die Etatsdebatte des Reichstags ein blendendes Licht ergossen. Der ganze „Aufschwung" der „Volksseele" gegen das „schwarzrote Kartell" läuft auf die tiefste Selbsterniedrigung des Liberalismus hinaus, wenn er überhaupt auf etwas hinauslaufen soll: Gegen das eine oder das andere dürftige Trinkgeld soll die liberale Bourgeoisie die willige Dirne des ostelbischen Junkertums spielen. Dem Freisinn selbst oder wenigstens denjenigen Freisinnigen, die sich noch einen Rest von Selbst- oder auch nur Profitbewusstsein gerettet haben, wird dabei übel zumute; sie drücken sich mit verlegenen Gebärden um die Pforte zur Rennbahn des Ehrgeizes, die ihnen Fürst Bülow eröffnet hat, unter einem wahren Platzregen höhnischer Reden, mit denen ihre konservativen „Verbündeten" sie bewillkommnen, während ihr neuer Protektor für gut befand, schon am zweiten Tage von dem Kampfplatz zu verschwinden und nicht wieder zu erscheinen, trotz aller Herausforderungen, die es doch einem so tapferen Ritter hätten zur Pflicht machen sollen, sich zu zeigen und die handgreiflichen Unwahrheiten zurückzunehmen, womit er seine Philippika gegen die Sozialdemokratie gewürzt hatte. Er überließ es dem Grafen Posadowsky, das neue Programm der Regierung zu verteidigen, was dieser verhältnismäßig verständigste und dem Schaumschläger Bülow jedenfalls weit überlegene Minister nur mit skeptischem Achselzucken tat; „Geduld und viele Sessionen", meinte er, würden wohl nötig sein, ehe es dem „Geschick" des „leitenden Staatsmanns" gelänge, seine herrlichen Absichten zu verwirklichen.

Um die unendliche Kläglichkeit dieser Debatten zu verstehen, lohnt es sich wohl, einen Augenblick sechzig Jahre zurückzublicken, auf den Vereinigten Landtag in Berlin, wo die Bourgeoisie zum ersten Male ihre Lenden zum parlamentarischen Kampfe gürtete. Eine Heldengestalt war sie auch damals nicht, wie Karl Marx sie geschildert hat: „Ohne Glauben an sich selbst, ohne Glauben an das Volk, knurrend gegen oben, zitternd gegen unten, egoistisch nach beiden Seiten und sich ihres Egoismus bewusst, revolutionär gegen die Konservativen, konservativ gegen die Revolutionäre, ihren eigenen Stichworten misstrauend, Phrasen statt Ideen, eingeschüchtert vom Weltsturm, den Weltsturm exploitierend – Energie nach keiner Richtung, Plagiat nach allen Richtungen, gemein, weil sie nicht originell war, originell in der Gemeinheit – schachernd mit ihren eigenen Wünschen, ohne Initiative, ohne weltgeschichtlichen Beruf – ein vermaledeiter Greis, der sich dazu verdammt sah, die ersten Jugendströmungen eines robusten Volks in seinem eigenen altersschwachen Interesse zu leiten und abzuleiten – ohn' Aug! ohn' Ohr! ohn' Zahn, ohn' alles."1 Aber bei alledem verstand die damalige Bourgeoisie doch noch, den Daumen auf den Beutel zu halten, dem König- und dem Junkertum die Temporalien zu sperren, ehe denn ihr eigenes Recht gesichert war, lieber der königlichen Ungnade zu trotzen, als dem königlichen Bankrott dadurch abzuhelfen, dass sie ihr Erstgeburtsrecht opferte. Verglichen mit den heutigen Freisinnigen, waren die Liberalen des Vereinigten Landtags allerdings noch heller. Sie pfiffen auf das Geschwätz von der „positiven Arbeit" und ließen lieber ein so notwendiges Werk, wie damals der Bau der Ostbahn im Interesse der Landeswohlfahrt war, ins Stocken geraten, ehe sie sich dazu bequemten, auf ihr konstitutionelles Recht zu verzichten.

Die Erinnerung an die damalige Zeit liegt umso näher, als mit dem Schlusse der Etatsdebatte im Reichstag die Eröffnung der zweiten russischen Duma zusammenfiel. Unzweifelhaft hat die parlamentarische Geschichte der russischen Revolution bisher größere Ähnlichkeit gehabt mit der parlamentarischen Geschichte der preußischen Revolution von 1848 als mit der parlamentarischen Geschichte der Französischen Revolution von 1789; die Geschichte der ersten russischen Duma glich in mancher Beziehung auffallend der Geschichte der Vereinbarerversammlung berufenen Angedenkens, die einst im Berliner Schauspielhaus tagte, bis auf den wirkungslos ins Wasser klatschenden Aufruf zur Steuerverweigerung, den die konstitutionell-demokratische Mehrheit nach ihrer Sprengung erließ. Auch in Preußen kam damals die neue Versammlung, die die Regierung einberief, wie jetzt die russische Duma, mit stärkerer oppositioneller Färbung zurück, um dann nach Monatsfrist wieder durch Waffengewalt gesprengt zu werden, und es fehlt nicht an Stimmen, die der neuen Duma ein gleiches Schicksal vorhersagen, woran denn die liberalen Neunmalweisen den trefflichen Rat fügen, sie möge durch „positive Arbeit" ihr Leben zu erhalten und das Vertrauen des Volkes zu erwerben suchen, was im Sinne der Ratgeber ungefähr der sinnloseste Rat ist, der sich der neuen Duma geben lässt.

Die Geschichte liebt die Wiederholungen nicht, und die neue Duma ist in ganz anderem Sinne ein Geschöpf der Revolution, als es einst das zweite preußische Parlament war. Sie ist gewählt trotz eines Wahldrucks, gegenüber dessen Infamie und Nichtswürdigkeiten selbst der deutsche Reichslügenverband beinahe noch auf mildernde Umstände plädieren darf, und ihre Linke ist nicht mehr von der konstitutionellen Demokratie beherrscht, sondern durch eine starke sozialistische Fraktion gestählt. Zudem hat es mit ihrer baldigen Auflösung einen besonderen Haken. Der Zarismus hätte sich nicht erst die Mühe gemacht, einen gewaltsamen Wahldruck der mühseligsten nicht minder als der widerlichsten Art auszuüben, wenn es ganz in seinem Belieben stünde, die Duma auseinanderzujagen oder nicht. Er braucht aber seinen Gläubigern gegenüber eine Volksvertretung, die ihn vor dem finanziellen Bankrott rettet, und er hat nicht die geringste Möglichkeit – selbst wenn ihm das Feuer nicht auf den Nägeln brannte –, ein noch elenderes Wahlgesetz zu ersinnen und einen noch grausameren Wahldruck auszuüben. In dieser Beziehung hatte die preußische Reaktion im Jahre 1849 allerdings noch einen großen Trumpf auszuspielen, indem sie das allgemeine Wahlrecht kassierte, das Dreiklassenwahlrecht oktroyierte und sich so eine so genannte Volksvertretung verschaffte, die ihr keinen ernsthaften Widerstand entgegensetzte, aber den Staatsgläubigern noch die nötige Garantie bot.

Die russische Revolution hat gerade auch durch die Wahl dieser Duma bewiesen, dass sie einen ungleich längeren und tieferen Atem hat, als ehedem die deutsche Revolution hatte. Es ist auch ganz sicher, dass sie die neue Duma nicht um nichts und wieder nichts gewählt hat, sondern sich recht behaglich darin einzurichten gedenkt. Jedoch sie würde sich selbst betrügen, wenn sie sich auf die weisen Ratschläge der deutschen Liberalen einließe und in deren Sinne durch „positive Arbeit" das Vertrauen des Volkes zu gewinnen suchte; damit würde sie nur denselben Weg des Jammers und der Schande betreten, den der deutsche Liberalismus seit sechzig Jahren gewandelt ist. Was dieser sonderbare Held unter „positiver Arbeit" versteht, würde darauf hinauslaufen, dass die neue Duma dem Zarismus aus seiner finanziellen Klemme hülfe und sich dafür durch das eine oder das andere dürftige Trinkgeld von „Reformen" abspeisen ließe, wie sie ein Ministerium Stolypin auszuhecken versteht.

Oder um den Begriff der „positiven Arbeit" an einem historischen Beispiel zu erläutern: Wenn die französische Bauernbefreiung durch die Nationalversammlung in einer einzigen Sommernacht des Jahres 1789 vollbracht wurde, so war das nach dem geflügelten Worte des gefeiertsten Helden, den die konstitutionelle Demokratie je gehabt hat, des genial feilen Abenteurers Mirabeau, eine „widerliche Orgie", während es nach unserer Auffassung „positive Arbeit" war. Umgekehrt: Wenn sich die preußische Bauernbefreiung sechzig Jahre hinschleppte, von 1807 bis 1865, unter unsäglichem Hängen und Würgen und grausam-ruchlosem Erschlagen unzähliger Bauernexistenzen, so war das nach Ansicht unserer Liberalen „positive Arbeit", über die sie nicht genug in die Posaune blasen können, während es nach unserer Auffassung eine „widerliche Orgie" war.

Also – „positive Arbeit" wird die neue Duma gewiss leisten müssen, wenn sie ihrer historischen Aufgabe gerecht werden will. Darüber herrscht die erfreulichste Übereinstimmung. Es kommt nur darauf an, was für eine Art „positive Arbeit". Wir an unserem Teile hoffen und wünschen, dass sie sich als ein Werkzeug der russischen Revolution erweisen wird, wie sie als Geschöpf dieser Revolution geboren ist.

1 Karl Marx: Die Bourgeoisie und die Kontrerevolution. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 6, S. 109.

Lenin hielt diesen Artikel Mehrings für eine gute Begründung der Taktik der Bolschewiki. In dem Sammelband „Fragen der Taktik II" veröffentlichte Lenin 1907 unter der Überschrift „Franz Mehring über die zweite Duma" einen Artikel, in dem es u. a. heißt: „Eng und untrennbar verbunden damit ist die Einschätzung der ‚positiven Arbeit' und der ‚widerlichen Orgie' bei Mehring. Diese seine Parallele trifft so haargenau auf die russischen Liberalen, die Kadetten, zu, die jetzt in der zweiten Duma den Haushalt der standrechtlichen Selbstherrschaft verabschieden, dass den Worten Mehrings etwas hinzuzufügen im Grunde nur bedeuten würde, sie abzuschwächen." (W. I. Lenin: Werke, Bd. 12, S. 387.)

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