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Franz Mehring 19070227 Die Etatsdebatte

Franz Mehring: Die Etatsdebatte

27. Februar 1907

[Die Neue Zeit, 25. Jg. 1906/07, Erster Band, S. 721-724. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 232-235]

Es ist eine alte Erfahrung, dass parlamentarische Verhandlungen, denen alle Welt mit der größten Spannung entgegensieht, selten zu halten pflegen, was sie versprechen. Davon macht auch die Etatsdebatte, mit der sich der neue Reichstag gegenwärtig beschäftigt, keine Ausnahme. Sie war im Grunde schon am zweiten Tage erschöpft, und es ist sehr fraglich, ob sie wirklich das Maß von sechs Tagen erreichen wird, das man ihr allgemein prophezeit hat.

Die allgemeine politische Lage wird dadurch gekennzeichnet, dass sich überall das politische Interesse viel weniger darauf konzentrierte, was der Tross der Sieger als was die angeblich Besiegten sagen würden. Man kann nun nicht behaupten, dass sich Herr Spahn als Redner der Zentrumspartei schlecht mit seiner Aufgabe abgefunden hat, wenn er auch kein hinreißender Redner ist und die ultramontane Sache an und für sich nicht begeisternd zu wirken vermag. Allein gegenüber den Wahltricks der Regierung und des Hottentottenblocks1 hatte er immer noch gute Trümpfe in der Hand, und im Übrigen ist die Lage des „besiegten" Zentrums nichts weniger als ungünstig. Als „maßgebende" Partei hatte es so viele Sünden auf sich geladen, dass es ihm zur Wiederherstellung seiner politischen Reputation nicht unlieb sein kann, einmal wieder in die Rolle der Oppositionspartei gedrängt zu werden, zumal da es mit aller Sicherheit darauf rechnen kann, dass die Regierung sich über kurz oder lang doch wieder unter sein Joch bequemen muss.

Ganz anders freilich als die Rede Spahns für das „besiegte" Zentrum wirkte Bebels Rede für die „zerschmetterte" Sozialdemokratie. Er war ganz der alte, in seiner „ewigen Jugend", wie bürgerliche Blätter mit kaum verhehltem Neide sagen, und keines Zweifels leisester Hauch trübte das unerschütterliche Vertrauen auf die Zukunft, die Bebel in seiner Schlusswendung für die revolutionäre Arbeiterbewegung beanspruchte. Er rechnete gründlich mit den Gegnern ab, zerstäubte all den Schwindel, der im Wahlkampfe über die Sozialdemokratische Partei verbreitet worden war, vertrat das historische Recht des Proletariats mit so siegender Beredsamkeit wie je. Mochten die Gegner noch so eifrig mit dem kramen, was ein halb Dutzend Parteimitglieder in den letzten Wochen an unangebrachten Bedenken und unzeitigen Zweifeln geäußert hatten, ihnen allen wurde klar, dass die Stimme und die Stimmung der Massen allein aus Bebel sprach, dass die deutsche Sozialdemokratie aus ihrer angeblichen „Zerschmetterung" ungebeugter und ungebrochener hervorgegangen ist denn je. Es ist nichts mit den Hoffnungen auf ihre Mauserung, auf ihre innere Umwandlung, auf die Opferung ihrer revolutionären Prinzipien, und selbst der Reichskanzler gab diesen eitlen Illusionen, denen er ehedem gehuldigt zu haben gestand, den endgültigen Laufpass.

Er antwortete sowohl dem ultramontanen wie dem sozialdemokratischen Redner, beiden ungewöhnlich schwach. Das heißt: inhaltlich schwach, denn äußerlich gefiel sich Fürst Bülow in der Rolle des „Siegers", etwa im Stile des sprichwörtlichen Demagogen Kleon, so wie ihn die bürgerlichen Historiker darzustellen lieben: platzend vor protzenhaftem Übermut, als ihm ein Zusammentreffen unberechenbarer Zufälle den Sieg von Sphakteria2 in den Schoß geworfen hatte. Er fuhr das Zentrum in brüskem Tone an, uneingedenk dessen, was es für seine reaktionäre Politik getan hat, und uneingedenk auch dessen, wie bald er es wieder für seine reaktionäre Politik gebrauchen könne; er bekannte sich zu allen bonapartistischen Wahlkünsten, die in der Wahlbewegung gespielt haben, und versicherte in glaubhafter Weise, dass er sich bemühen werde, in diesem delikaten Punkte noch mehr zu leisten; er warf den Freisinnigen ein paar Brocken hin und trompetete die „Paarung des konservativen und des liberalen Geistes", die er schon in seinem Silvesterbrief verkündet hatte, als sein zukünftiges Programm aus.

So hochtrabend aber das alles klang, so wenig steckte dahinter. Selbst Herrn Liebermann v. Sonnenberg gelang ein ganz guter Witz über diese reichskanzlerische Politik; er verglich Bülow mit dem Mädchen aus der Fremde, das nach rechts hin Früchte, aber nach links hin nur Blumen ausstreue. Die „Paarung des konservativen und des liberalen Geistes" ist eine Redensart wie andere auch und wie sie der Reichskanzler ja freilich immer dutzendweise im Sacke hat. Der Junker denkt gar nicht daran, die liebliche Maid Bourgeoisie in sein eheliches Bett aufzunehmen, höchstens ist er bereit, sie in knauseriger Weise auszuhalten, und wenn Bülow mehr verlangt, ist er ein gelieferter Mann. Bei der Bourgeoisie freilich findet er ein willigeres Entgegenkommen, aber auch bei ihr gibt es einen Punkt, wo alle Gemütlichkeit aufhört, und dann hat sich Bülow mit seinen siegestrunkenen Drohungen an das Zentrum nur in die Nesseln gesetzt und muss in ungleich verbesserter und vermehrter Auflage alle die vermeintlichen oder wirklichen Übel auf sich nehmen, denen er durch seinen Geniestreich vom 13. Dezember v. J.3 entrinnen wollte.

Aber wie kläglich es um seine Politik gegen das Zentrum stehen mag, ungleich kläglicher steht es um seine Politik gegen die Sozialdemokratie. Bebel sagte in seiner Rede, Bismarck habe – im Gegensatz zu Bülow – der revolutionären Arbeiterbewegung doch immer objektiv oder objektiver gegenübergestanden, ein Satz, der in der bürgerlichen Presse mehrfach angefochten wird und sich, wenn man sich allzu eng ans Wort hält, auch wohl anfechten lässt. Eine „objektive" Stellung hat Bismarck nie zur modernen Arbeiterbewegung eingenommen, weder im Reichstag noch sonst wo; er hat ihre historischen Zusammenhänge nie verstanden und sich auch nie die Mühe gegeben, sie zu verstehen; er wusste schließlich keine Rettung vor ihr, als sie in Strömen von Blut zu ertränken. Aber gleichwohl hat Bebels Auffassung ihren guten Sinn. In der Furcht und dem Hasse, die Bismarck vor der Sozialdemokratie empfand, steckte ein gutes Stück, wenn nicht objektiven, so doch unbewussten Verständnisses für ihre historische Bedeutung; so entfremdet war er dem inneren Wesen der modernen bürgerlichen Gesellschaft nicht, dass er sich einbildete, die Arbeiterbewegung der Gegenwart könne „wie ein wüster Traum" überwunden werden, wenn nur alle braven Philister sich alle fünf Jahre durch die Lügentrompeten des Reichsverbandes an die Wahlurne tuten ließen.

Unter diesen braven Philistern nimmt Bülow allerdings einen hohen Rang ein; wenige von ihnen mögen die Litanei des Reichsverbandes so bis aufs Schnürchen auswendig gelernt haben und so schön herbeten können wie er. Dabei schreckte er selbst vor dem kleinen Malheur nicht zurück – freilich auch hierin ein echter Schüler des Reichsverbandes –, längst widerlegte Schnurren nochmals vorzutragen, mit einem edlen Pathos, als seien sie lautere Wahrheit, und indem er den so genannten „Sauherdenton" der Arbeiterpresse dem Unwillen der Mit- und Nachwelt denunzierte, schleuderte er selbst mit freigebiger Hand fein geschliffene Edelsteine diplomatischer Rede um sich, wie „heller Unsinn", „Rüpeleien", „niederträchtige Verleumdung", „Schurkereien". Nein, alles was recht ist und was sich sonst immer gegen Bismarck sagen lässt: In den Sumpf solcher faden Kindereien ist er nie getappt, und von keinem früheren Reichstag wären sie mit „stürmischem Beifall" aufgenommen worden wie nunmehr vom Hottentottenreichstag, der damit immerhin bewiesen hat, dass er eine menschliche Tugend in überschwänglicher Fülle besitzt: nämlich eine vom ästhetischen wie politischen Standpunkt gleich bewundernswerte Genügsamkeit.

Wir haben nie an das Märchen geglaubt, dass die Mandatsverluste der Sozialdemokratie verursacht worden seien durch irgendetwas, was man auch nur im entferntesten Sinne eine moralisch-politische Erneuerung der bürgerlichen Welt nennen könnte. Aber wer noch in irgendwelcher Beziehung an dies Märchen geglaubt haben sollte, der lese aufmerksam und gründlich die Rede, womit der Reichskanzler auf Bebels wuchtige Angriffe geantwortet hat, und er wird auch von der letzten Illusion geheilt sein. Dieser so genannte Staatsmann hat nicht einmal von den ersten Elementen der Arbeiterfrage eine blasse Ahnung; er operiert mit Schlagworten, die vor vierzig Jahren den Hohn selbst jedes kathedersozialistischen Professors erregten; er hat in dieser langen Zeit nichts gelernt, nicht so viel, wie ein Spatz auf seinem Schwanze davontragen könnte.

Missgönnen wir ihm deshalb seinen Triumph? Nichts weniger als das. Im Gegenteil, ein Verdienst, wenn auch nur ein unfreiwilliges, erkennen wir ihm gern zu: Was er, blind darauf lostappend, wirklich erreicht hat, die Mobilmachung aller Philisterreserven gegen die Sozialdemokratie, ist eine notwendige Phase der Entwicklung, von der wir nicht zu bedauern brauchen, dass sie früher eingetreten ist, als wir sie erwartet haben. Nachdem sich der schlaue Miquel mit der ganzen Zähigkeit seines ränkevollen Geistes ein Jahrzehnt lang an dieser „Sammelpolitik" abgearbeitet hatte, ohne sie doch zu erreichen, schien sie noch in ziemlicher Ferne zu liegen. Aber vielleicht hat sich diese täppische Politik von einer immerhin nicht täppischen Hand nicht entbinden lassen mögen; Fürst Bülow war ein geeigneterer Geburtshelfer, und sollen wir ihm den Stolz auf das Kind missgönnen, das er zur Weit gebracht hat?

Gewiss nicht! Die Redefluten, die er gegen die Sozialdemokratie auslaufen lässt, kosten der Menschheit nicht mehr als einen Haufen Makulatur, und die „Paarung des konservativen und des liberalen Geistes", die der geniale Politiker nun inszenieren will, wird eine politische Komödie werden, wie sie an zwerchfellerschütternden Wirkungen noch kein Aristophanes gedichtet hat. Seien wir froh, dass wir im Parterre sitzen und uns begnügen dürfen, Zuschauer zu sein! Erst wenn der Vorhang zum letzten Male gefallen sein wird, beginnt unsere Ernte, und sie wird reichlich genug sein, als dass wir dem Sämann grollen dürften, so prahlerisch er sich heut gegen uns gebärden mag.

1 Hottentottenblock – auch „Bülowblock" – die aus den Wahlen 1907 hervorgegangene Regierungsmehrheit von Konservativen, Nationalliberalen und Linksliberalen. Die Wahlen fanden statt, weil im Dezember 1906 u. a. auch das Zentrum eine Kolonialetat-Forderung für den Krieg in Südwestafrika nicht bewilligt hatte, die damit (zum letzten Mal im Deutschen Reichstag!) gefallen war.

2 Während des Peloponnesischen Krieges wurde die von den Spartanern 425 v. u. Z. besetzte Insel vor Pylos (Sphakteria: 5 km lang, schmal und felsig) von den Athenern nach 72-tägiger Belagerung zurückerobert.

3 Gemeint ist der zur Veröffentlichung bestimmt gewesene Brief Bülows an den Vorsitzenden des Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie zu den „Hottentottenwahlen" 1907. Der Reichskanzler solidarisierte sich darin in eindeutiger Weise mit einer speziellen Hetzorganisation gegen die stärkste deutsche Partei und machte den Reichslügenverband gewissermaßen zum „offiziösen Wahlrepräsentanten der Regierung".

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