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Franz Mehring 19070925 Die Komödie von Norderney

Franz Mehring: Die Komödie von Norderney

25. September 1907

[Die Neue Zeit, 25. Jg. 1906/07, Zweiter Band, S. 849-851. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 297-300]

Es sind einundachtzig Jahre her, als Heinrich Heine einige Wochen auf Norderney verweilte, das damals ein adliges Modebad zu werden begann, und in sein Tagebuch diese Zeilen schrieb: „O! wie oft habe ich lachen müssen, wenn ich bemerken musste, wie viel man sich auf diese Formen zugute tat; als sei es so überaus schwer zu erlernen, dieses Repräsentieren, dieses Präsentieren, dieses Lächeln, ohne etwas zu sagen, dieses Sagen, ohne etwas zu denken, und all diese adligen Künste, die der gute Bürgersmann als Meerwunder angafft und die doch jeder französische Tanzmeister besser inne hat als der deutsche Edelmann … Und in der Tat, den Proben, die er von seiner Kunst ablegte, konnten die armen Bestien ihre Bewunderung nicht versagen."

Da soll man noch fragen, ob Dichter auch Seher seien! Sieht man doch heute – und es ist die rechte Sensation dieses Herbstes – die „armen Bestien" auf Norderney sich drängen im Vorzimmer eines deutschen Edelmanns, seine adligen Künste, die den glatten Manieren eines französischen Tanzmeisters nachgebildet sind, als Meerwunder angaffen und was sie an bürgerlichem Selbstbewusstsein noch besitzen willig opfern um den Preis eines gnädigen Lächelns. Sie stürzen begierig in die Knechtschaft, alle die „Ganzen und Vollen", die „Unentwegten", die „Sturmerprobten", und selbst Herr Naumann, der große Idealist, der noch einmal um einen verlorenen Augenblick Fanfare blasen wollte, findet nicht den Entschluss eines sanften und seligen Märtyrertodes, sondern klappt wie ein Taschenmesser zusammen, sobald er sieht, dass die edle Genossenschaft, in die er sich eingereiht hat, Schamade schlagen will und nichts als Schamade.

Am deutschen Liberalismus wird auch der ärgste Pessimismus zuschanden. Man mag ihn noch so niedrig einschätzen, er selbst weiß sich viel mehr zu erniedrigen. Wie er's heute als Blockbruder treibt, das hätte ihm noch vor Jahr und Tag sein ärgster Widersacher nicht nachzusagen gewagt. Er weiß sehr wohl, dass die ganze Blockpolitik ein Verlegenheitsmanöver des Reichskanzlers ist, um sich an der Macht zu erhalten, aber um die Aussicht, dieses oder jenes Brosamlein vom Junkertisch zu erhaschen, prostituiert er sich selbst und seine Grundsätze, soweit er sich und sie überhaupt noch prostituieren kann. Und ehe er das kleinste Brosamlein geschnappt hat, lässt ihn der Zauberer von Norderney – ein Zauberer wenigstens in den Augen der „armen Bestien", die sich willig verzaubern lassen – auf den glühenden Eisen einer wahrhaft kindisch-reaktionären Politik tanzen.

Denn nirgendwo anders her als aus Norderney kommt der neueste Schlag, der gegen die Sozialdemokratie geführt wird. Wir denken nicht allzu hoch von den geistigen Fähigkeiten des Reichskanzlers, aber wir möchten ihm ungern unterstellen, dass er geglaubt haben sollte, der sozialdemokratischen Parteischule oder gar der Sozialdemokratischen Partei irgendeinen Schaden zuzufügen, indem er zwei ihrer Lehrer, die Genossen Hilferding und Pannekoek, als Ausländer mit der Ausweisung aus dem Gebiet der schwarzweißroten Grenzpfähle bedrohen ließ, falls sie ihren Unterricht an der Schule fortsetzten. Gewiss ist diese Maßregel mit jenem plumpen Raffinement ausgeheckt, das die preußische Polizei auszeichnet, das aus einer Mischung von sehr viel Bosheit und sehr wenig Geist besteht. Einen vollen Kursus hindurch haben Hilferding und Pannekoek unbehelligt an der Parteischule unterrichtet, dann ist der ganze Sommer darüber hingegangen, und nur acht Tage, ehe der zweite Kursus eröffnet werden soll, zuckt der Wetterstrahl aus Norderney. Aber es war ein kalter Schlag, soweit er die Parteischule treffen sollte; sie hat ihn spielend überwunden und wird am 1. Oktober ihren zweiten Kursus eröffnen, nur dass jetzt nicht acht, sondern neun Lehrer an ihr tätig sein werden, und darunter mehr als einer, der von polizeilichem Standpunkt aus ungleich anrüchiger ist als die beiden vertriebenen Genossen.

Begreiflich genug, dass die Parteischule den Gegnern der Arbeiterbewegung ein Dorn im Auge ist; fürchten sie doch nichts so sehr als die geistige Aufklärung der Massen! Aber sollte sich Fürst Bülow wirklich nicht gesagt haben, dass die polizeiliche Schikanierung der Parteischule das wirksamste Mittel sei, ihren Einfluss auf die Arbeiterklasse, ihr Ansehen in den Arbeiterkreisen zu steigern? Vor einigen Wochen schrieben wir an dieser Stelle: Die Parteischule „gehört zu jenen Bäumchen, die des Sturmes nicht minder bedürfen als des Sonnenscheins, um feste und unzerstörliche Wurzeln zu schlagen, zu jenen Erscheinungen, von denen Rodbertus einmal sagte, dass sie sich durchkämpfen müssen, ehe sie anerkannt werden". Wir glaubten damals, auf dem Essener Parteitag werde sich eine gewisse Opposition gegen die Parteischule geltend machen, die verhältnismäßig große Mittel beansprucht, während ihre Früchte doch nur langsam heranreifen können. Diese Befürchtung hat sich glücklicherweise als grundlos erwiesen, aber in viel willkommenerer Weise ist der Sturm über das Bäumchen hereingebrochen und hat es in seinen Wurzeln viel kräftiger zurecht gerüttelt; die Arbeiter wissen jetzt, was sie an ihrer Parteischule besitzen, und in ihren Kreisen wird sich fortan kein Zweifel mehr regen an der Notwendigkeit und Nützlichkeit dieses Parteiinstituts.

Alles das muss sich Fürst Bülow gesagt haben, ehe er die Polizei auf die Parteischule losließ. Denn wenn er gewiss kein Genie ist, so ist er gewiss auch kein Trottel. Er wusste im Voraus, dass die Sozialdemokratie nur ein spöttisches Lächeln für diese neue Attacke haben, dass sie nicht einmal ein Atom sittlicher Entrüstung daran wenden werde, und um dieses negativen Erfolges willen riskiert ein so erleuchteter Staatsmann doch nicht eine neue – und was für eine! – Blamage vor dem In- und Ausland. So bleibt nur die Annahme übrig, dass der Reichskanzler mit der Androhung der polizeilichen Ausweisung an die Genossen Hilferding und Pannekoek eine Belastungsprobe des Blockes hat vornehmen wollen. Vielleicht haben die freisinnigen Staatsmänner, die sich im Vorzimmer von Norderney mit den antisemitischen Kumpanen und ähnlichen Geistern gegenseitig die Hühneraugen zertraten, in einer flüchtigen Aufwallung des Schmerzes noch eine leise Anwandlung von Opposition empfunden, und Fürst Bülow hat sich gesagt: Stellen wir die „braven Bestien" auf eine Probe, die jeden Zweifel daran ausschließt, ob sie mich wie ein „Meerwunder angaffen" oder nicht.

Dies ist natürlich nur eine Vermutung. Tatsache ist aber, dass die liberalen Blockgenossen auf eine gründlichere Probe ihrer Blockuntertänigkeit nicht leicht gestellt werden konnten. Man erwäge nur die Tatsachen! Karl Marx hat eine wissenschaftliche Methode geschaffen, die hermetisch von den deutschen Hochschulen abgesperrt wird, obgleich sie revolutionierend auch auf die bürgerliche Gelehrsamkeit, namentlich ihre historischen und ökonomischen Fächer, gewirkt hat; die bahnbrechende, wissenschaftliche Bedeutung von Marx wird kaum noch von den beschränktesten Zunftgelehrten bestritten, und mindestens seit einem Jahrzehnt ist kein namhaftes historisches oder ökonomisches Werk herausgegeben worden, das nicht seines Geistes eine Spur trüge. Aber gleichwohl darf die marxistische Methode an keiner deutschen Universität gelehrt werden, eine Tatsache, die wir nur deshalb nicht eine Schmach für den deutschen Namen nennen, weil wir nicht einmal den Schein des Verdachtes erwecken möchten, als bedauerten wir sie vom Parteistandpunkt aus.

Nun aber gründete die Partei eine Schule, um fähigen Köpfen der Arbeiterklasse die wissenschaftliche Methode von Marx vertraut zu machen, und berief als Hauptlehrer jene ausländischen Genossen, die den deutschen Parteikämpfen mehr oder weniger fern standen und ihre Befähigung wesentlich auf theoretischem Wege erwiesen hatten. Sie handelte so aus Achtung vor den hohen Zielen, die sie der neuen Schule steckte. Der Reichskanzler, der große Verehrer Kants und Fichtes, sieht darin nur die Möglichkeit, sein polizeiliches Mütchen an ein paar ausländischen Genossen zu kühlen. Er bleibt nun einmal der moderne Staatsmann, wie er leibt und lebt. Jedoch ein blutigerer Hohn ist nicht denkbar auf den Satz, der selbst in die preußische Verfassung seinen Eingang gefunden hat: Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei, und wenn die freisinnigen Staatsmänner auch diesen allen liberalen Grundsätzen ins Gesicht schlagenden Hieb noch verwinden, so hat Fürst Bülow die beseligende Gewissheit, dass solche Mollusken ausgeweidet sind bis aufs letzte Knöchelchen und als würdige Genossen eingehen können in des Blockes ganze Herrlichkeit.

Glücklich, wer wie wir der Entwicklung dieser Komödie von Norderney in aller Seelenruhe zuschauen kann!

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