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Franz Mehring 19070308 Die Parteidebatten nach den Wahlen

Franz Mehring: Die Parteidebatten nach den Wahlen

März 1907

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung, Nr. 55, 56, 7., 8. März 1907. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 241-245]

I

Jeden neuen Dienstag kann man das erbauliche Schauspiel erleben, dass die bürgerliche Presse eine oder einige Stimmen aus der Sozialdemokratischen Partei veröffentlicht, in denen an ebendieser Partei eine sehr unerbauliche Kritik geübt wird. Die Quelle, aus der die tendenziöse Weisheit bezogen wird, ist die „Neue Gesellschaft", eine Wochenschrift, die angeblich sozialdemokratische Tendenzen verficht, aber sich der Kontrolle durch die Partei entzieht und im durchbohrenden Gefühle ihres politischen Mangels an Verantwortlichkeit einer durchaus nicht wählerischen Sensationsjagd frönt.

Nachgerade wird die Geschichte selbst der bürgerlichen Presse zu langweilig; sie meint bekümmert, das helfe ja doch zu nichts, der „Vorwärts" und die „Leipziger Volkszeitung" und überhaupt die „Dogmatiker" und ,,Marxisten" blieben obenauf. Das ist sehr richtig, und es wäre nur zu wünschen, dass die bürgerliche Presse die inneren Zustände unsrer Partei immer so zutreffend beurteilte wie in diesem Falle. Sie würde sich dadurch schmerzliche Enttäuschungen ersparen. Indessen, das ist schließlich ihre Sache, und wir sind schon zufrieden mit dem Anfange ihrer Besserung, wobei wir ihr auch nachsehen wollen, dass sie auf einzelne Organe oder Personen zurückführt, was tatsächlich die Schuld oder vielmehr das Verdienst der Arbeiterklasse ist, die sich in der Sozialdemokratischen Partei organisiert hat.

Die bürgerliche Presse plappert darin nur nach, was ihr vorgeplappert wird. Diesmal ist nicht sowohl, wie ehedem, die „Leipziger Volkszeitung", sondern der „Vorwärts" das Karnickel, das angeblich angefangen haben und tatsächlich abgeschlachtet werden soll. Wir könnten unserm Berliner Bruderblatte diesen Vorzug beinahe neiden, wenn wir nicht ehrlicherweise gestehen müssten, dass es ihn redlich verdient hat. Die klare und prinzipientreue Haltung, die der „Vorwärts" seit seinem bekannten Redaktionswechsel beobachtet hat, ist zweifellos im höchsten Grade geeignet, den Zorn der „Neuen Gesellschaft" zu erregen. Und wenn die Gelehrten dieses Organs oder verwandte Seelen sich nun gar über die geistigen und technischen Redaktionsleistungen des „Vorwärts" zu Richtern aufwerfen, aus einer Sachkenntnis heraus, die sie entweder gar nicht oder nur in ganz unzureichendem Maße besitzen, so ist der „Vorwärts" deshalb nicht weniger ein fleißiges und tüchtiges Arbeiterblatt, wie es die Partei seit der Aufhebung des Sozialistengesetzes als Zentralorgan noch nicht besessen hat.

Dies ist nicht etwa nur unsre Meinung, sondern die Meinung der Arbeitermassen, die sich deutlich in dem Zuwachs von 38 000 Abonnenten bekundet, die der „Vorwärts" unter seiner neuen Redaktion erworben hat. Das ist gewiss nicht ausschließliches Verdienst dieser Redaktion, aber doch immerhin ein Beweis dafür, dass ihre Tätigkeit den Arbeitermassen ebenso gefällt, wie sie den drei oder acht Parteimitgliedern, die um die „Neue Gesellschaft" wimmeln, unverdaulich sein mag. Auch bei der denkbar höchsten Einschätzung dieser intellektuellen Kräfte ist es tausendmal besser so, als wenn es umgekehrt wäre. Aus diesem Grunde braucht man sich über den Krieg, der dem „Vorwärts" von dieser Seite her gemacht wird, auch nicht groß aufzuregen, und unsre Leser werden uns bezeugen, dass wir uns durchaus nicht darüber aufgeregt haben. Deshalb wollen wir es jedoch nicht tadeln, dass unser Bremer Parteiblatt kürzlich ein sehr derbes Wort gegen das Treiben der „Neuen Gesellschaft" geäußert hat, das Genossen von halbwegs lebhaftem Temperament allerdings die Galle ins Blut zu jagen geeignet ist.

Die „Bremer Bürgerzeitung" appelliert an den Parteivorstand und die Parteiorganisationen, dem groben Unfug zu steuern. Der Appell an den Parteivorstand wendet sich wohl kaum an die richtige Adresse; nach der Parteiorganisation fehlt dem Vorstande jede Handhabe, mit einem: Wart', ich will euch! dazwischenzufahren. Umso richtiger ist der Appell an die Organisationen, denen die Krakeeler angehören. Wenn die Arbeiter einen Widerwillen gegen das „Literatengezänk" hegen und ihn auch da äußern, wo es sich um eine kritische Auseinandersetzung über wichtige Probleme handelt, so nimmt es sich nicht gut aus, wenn sie schweigend diesen sich nun schon manche Woche hinziehenden Skandalen zusehen. Die „Dogmatiker" und „Marxisten" haben dem Widerwillen der Arbeiter gegen „Literatengezänk" diesmal alle Rechnung getragen, was wir ihnen nicht weiter zum Ruhme anrechnen wollen, da es ihnen keine besondere Selbstüberwindung gekostet haben kann, den immer wieder aufgewärmten Kohl der Braun und Bernhard passieren zu lassen. Aber wenn sie dem Wunsche der Arbeiter gern entgegengekommen sind und an ihrem Teil jedem „Literatengezänk" vorgebeugt haben, so sollten nun allerdings die Arbeiter einen Zustand zu beseitigen wissen, von dem sie am wenigsten behaupten können und werden, dass er der Partei zur Ehre oder zum Vorteil gereiche.

Man kann nun freilich sagen: Der ganze Spuk ist nicht der Rede wert; er hängt ja selbst schon der bürgerlichen Presse zum Halse heraus, und wenn er noch ein paar Wochen andauert, so kräht nicht einmal mehr der letzte Kuli des Reichsverbands danach. Das ist allerdings ein ganz beachtenswertes Argument und ein sehr tröstliches dazu: Wenn es den Bernhard und Braun nach den Wahlen von 1903 noch gelang, mit Hilfe des Herrn Harden eine große Parteihetze zu veranstalten, so fallen ihre gleichen Bemühungen nach den Wahlen von 1907 platt zu Boden, was denn ein neuer und nicht am wenigsten triftiger Beweis für die erfreulichen Fortschritte ist, die die Partei seit 1903 gemacht hat. Aber die Sache hat doch noch eine Kehrseite, die von unserm Dortmunder Bruderblatte hervorgehoben worden ist: Hätte ein proletarisches Parteimitglied sich den zehnten Teil von dem geleistet, was sich die Bernhard und Braun seit den letzten Wahlen geleistet haben, so wäre ihm längst die Stelle gewiesen worden, wo der Zimmermann das Loch gelassen hat. Insofern hinterlässt diese ganze Episode doch einen peinlichen Eindruck.

Indessen großen Schaden richtet sie trotz alledem nicht an, und zwar um so weniger, als die Kritik der Partei an den letzten Wahlen und speziell an unsern Mandatsverlusten sich sonst durchaus auf sachlichem Boden bewegt und mehr und mehr demselben Ziele zustrebt, als dem einen, was not tut. Hierüber in einem zweiten Artikel.

II

Die überwiegende Mehrzahl der Parteigenossen und Parteiorgane, die sich über die Lage nach den letzten Reichstagswahlen öffentlich ausgelassen haben, sind weit entfernt, in die misstönenden Schmerzensschreie einzustimmen, die aus der verlorenen Ecke der „Neuen Gesellschaft" erschallen. Im geraden Gegensatze zu dieser ziehen sie aus den Mandatsverlusten der Partei die Schlussfolgerung: Wir müssen auf die Urquelle unsrer Kraft zurückgehen, auf unsre großen, klaren weltumwälzenden Prinzipien; wir müssen unser revolutionäres Banner offener denn je entfalten; wir müssen in ungleich größerem Maße als bisher auf die theoretische Durchbildung der Parteigenossen bedacht sein.

Indem wir diese Ansicht auch zur unsrigen machen, verfallen wir keinem Treppenwitze. Es sind jetzt nahezu zehn Jahre her, seit wir in einer Reihe von Artikeln über den Stuttgarter Parteitag denselben Gedanken an dieser Stelle eingehender darlegten. Wir sagten damals, der Schwerpunkt der Partei müsse immer in dem großindustriellen Proletariat liegen, das mit allen seinen Lebensinteressen auf die völlige Umwälzung der kapitalistischen Gesellschaft gestellt sei; so willkommen uns alle Elemente aus andern Bevölkerungskreisen seien, so müsse doch immer die proletarisch-revolutionäre Fahne hoch in den Lüften flattern. Damals verkannten wir die historische Bedeutung der „Mitläufer" sowenig wie heute. Um siegen zu können, muss die Partei über Millionen gebieten, und wenn sie über Millionen gebieten will, so kann sie nicht aus jedem ihrer Wähler einen firmen Theoretiker machen. Aber wenn die Partei sich nicht selbst aufgeben will, so darf sie ihren Schwerpunkt niemals in die Masse der „Mitläufer" verlegen, mit andern Worten, so darf sie niemals um der „Mitläufer" willen auch nur um Haaresbreite von den Wegen abweichen, die ihr Programm weist.

Wir haben damals, vor zehn Jahren, auch schon auf das „Schweineglück" der Sozialdemokratie als auf eine Sache hingewiesen, die sehr ihre zwei Seiten habe. Was bedeutet dies „Schweineglück" denn andres, als dass die gehäuften Fehler einer kurzsichtigen und unfähigen Regierung der radikalsten Partei immer dichtere Massen von Wählern in die Arme jagen? Das ist insoweit ja ganz erfreulich, kann aber zu sehr verhängnisvollen Selbsttäuschungen über die eigne Macht führen. Die so gewonnenen Stimmen sind der reine Flugsand. Man erinnere sich doch, dass vor etwas über vierzig Jahren der Liberalismus das ganze Volk hinter sich hatte. Es ist auch gar nicht zu leugnen, dass die damaligen liberalen Zeitungen das Unrecht der Regierungen sehr klar und schön nachzuweisen wussten. Aber als der reaktionäre und damals von sämtlichen deutschen Philistern in Grund und Boden verfluchte Minister Bismarck mit einem verkrüppelten, jedoch immerhin mit einem Programm angezogen kam, da stoben Millionen über Millionen, die die bloße Unzufriedenheit an die liberalen Fahnen gefesselt hatte, wie Spreu im Winde auseinander.

Gewiss: Wir schütten das Kind nicht mit dem Bade aus; wir bestreiten nicht, dass eine Partei, die siegen will, auch über ihre geschlossenen Reihen hinaus ein großes Ansehen in den Volksmassen besitzen muss. Aber wir sagen, dass dies Ansehen umso größer, dass es umso mehr ein politisch einflussreicher Faktor sein wird, je enger und je geschlossener die Reihen der Partei sind. Sie darf und soll sich nicht zur Spreu machen, um immer mehr Spreu anzulocken. Sie bringt so vielleicht einen mächtigen Haufen an Spreu zusammen, aber sie darf sich dann auch nicht wundern, wenn der erste heftige Windstoß diesen Haufen auseinander bläst und keine Spur von ihm übrig lässt.

Natürlich kann und wird es nie so weit kommen. Diese Perspektive zeigt nur und soll nur zeigen, wohin es kommen würde, wenn die Partei sich je einbilden könnte, dass sie ihre Mandatsverluste durch Abschwächung ihrer Prinzipien, durch sanfteren Ton usw. wieder einbringen müsse. Solchen Elementen, die im Jahre 1903 für die Partei gestimmt haben, weil sie mit irgendwelchem augenblicklichen Zustande unzufrieden waren, und die im Jahre 1907 sie verlassen haben, weil ihnen die Parteiprinzipien auf die Dauer nicht behagen, muss man gute Reise und guten Weg wünschen. Die Partei hat an ihnen nichts verloren als einen hinderlichen Ballast, und sie nun gar noch mit einem Nachlassen der Prinzipien wiederzuholen, wäre so vernünftig, als wenn ein Schiff seine Segel zerschleißen wollte, um einige Säcke voll Sand in seinem Kielräume zu stauen.

Selbst eine Partei von verhältnismäßig so engem Gesichtskreise und so nahen Zielen, wie der Liberalismus, hat es bitter genug am eignen Leibe erfahren, was es bedeutet, Prinzipien zu opfern, um taktischer Gesichtspunkte willen. Aber eine Partei, die, wie die unsre, eine alte Welt zerstören und eine neue Welt erobern will, kann gar nicht leben, auch nur für kurze Zeit, ohne feste, klare, unerschütterliche Prinzipien, und es ist deshalb nur ein Zeichen ihrer unversiegbaren Lebenskraft, wenn sie sich durch die scheinbar einleuchtendsten Argumente nicht einen Augenblick darüber täuschen lässt, dass die Mandatsverluste, die sie in den letzten Wahlen erlitten hat, sie nicht auf eine Verflachung, sondern auf eine Vertiefung ihrer Prinzipien drängen. Will sie sich nicht ganz und gar selbst aufgeben, so entwaffnet sie durch keine Nachgiebigkeit, durch kein Vertuschen, durch keinen noch so guten Ton den Hass ihrer Gegner, jedoch sie verliert jedes Vertrauen bei den Massen, wenn es offenbar wird, dass sie so, aber auch anders kann.

Wenn sie vor diesem politischen Selbstmorde auf die Dauer ganz ohne Sorge sein darf, so ist glücklicherweise nicht die geringste Gefahr vorhanden, dass sie sich etwa vorübergehend auf einen Irrweg verirren könnte. Sie wird sich durch ihre Misserfolge sowenig beirren lassen, wie sie sich durch ihre Erfolge beirren ließ, und sie denkt nicht daran, dem Sturme den Mantel zu opfern, den ihr kein Sonnenschein hat abschmeicheln können.

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