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Franz Mehring 19070814 Die preußische Wahlrechtsfrage

Franz Mehring: Die preußische Wahlrechtsfrage

14. August 1907

[Die Neue Zeit, 25. Jg. 1906/07, Zweiter Band, 657-660. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 283-487]

In den letzten Wochen ist die preußische Wahlrechtsfrage zum Hauptgegenstand der inneren politischen Diskussion geworden. Den äußeren Anstoß dazu gab Herr Naumann, der ehemalige nationalsoziale Häuptling und nunmehrige freisinnige Mitführer, durch einen Artikel im „Berliner Tageblatt", der sich durch eine gewisse Hitze, wenn auch keineswegs durch politische Klarheit auszeichnete.

Herr Naumann empfahl eine energische Agitation für die Übertragung des allgemeinen Stimmrechtes auf die Wahlen zum preußischen Landtag und machte diese Forderung zur unerlässlichen Vorbedingung für die fernere Teilnahme des Freisinns an der Blockpolitik. Er beansprucht nicht mehr und nicht weniger, als dass der Reichskanzler die Spitze dieser Agitation nehmen, das preußische Abgeordnetenhaus unter der Parole des allgemeinen Wahlrechtes auflösen und die widerspenstigen Landräte mit dem Wahlerlass bändigen solle, den Bismarck vor einigen zwanzig Jahren erfunden hatte, um die freisinnigen Beamten bei den Wahlen lahm zu legen.

Man sieht es diesem Plane schon von weitem an, dass er in der Zeit des Hochsommers entstanden ist. Um die Blockpolitik zu ermöglichen, legt Herr Naumann eine Mine, die man nur anzuzünden braucht, um den ganzen Block zu sprengen. Denn die weltfremde Schwärmerei des Herrn Naumann reicht am Ende doch nicht aus, um zu erklären, dass er es für möglich hält, Fürst Bülow könne die ihm von Naumann zugemutete Aktion einleiten, geschweige denn durchführen. Es ist deshalb auch nicht so sehr zu tadeln, wenn einzelne Parteiblätter auf den Verdacht gerieten, Herr Naumann sei das unbewusste Opfer einer Intrige, die zwischen dem Reichskanzler und den eigentlichen Machern des Freisinns heimlich abgekartet worden sei und darauf hinauslaufe, unter möglichstem Tamtam zur Betäubung der Volksmassen eine „Reform" des preußischen Wahlrechtes durchzusetzen, die den arbeitenden Klassen einige wertlose Brocken hinwerfe, um im übrigen die Machtposition der herrschenden Klassen und namentlich des Junkertums nur zu befestigen. Bestärkt wurde dieser Verdacht noch dadurch, dass der Reichskanzler in der Tat, wie er durch seine Offiziösen und namentlich durch seinen intimen Leiboffiziösen, den Berliner Vertreter der „Frankfurter Zeitung", der Welt hat verkündigen lassen, mit einer „Reform" des preußischen Wahlrechtes schwanger geht.

Gleichwohl ist es unseres Erachtens ausgeschlossen, dass Herr Naumann nur das unbewusste Mundstück einer bereits abgekarteten Intrige gewesen ist. Wäre dem so, dann hätte er den Mund auch viel zu voll genommen. Nicht nur er selbst meint es ohne Zweifel ehrlich, sondern auch die hinter ihm stehen haben kein Interesse daran, sich von vornherein mit der „Reform" zu bescheiden, die Bülow und das Junkertum aus freien Stücken zu bewilligen geneigt sein könnten. Die freisinnigen Führer wissen ganz gut, was ihrer harrt, wenn sie getreue Mitglieder des Hottentottenblocks bleiben wollen, welche kolossalen Lasten sie dann auf den Nacken der Massen zu wälzen helfen müssen, und sie haben ein sehr lebhaftes Interesse daran, den Massen eine Gegengabe zu bieten, die wenigstens nach was aussieht. Allerdings ist ihre Forderung des allgemeinen Stimmrechtes für den preußischen Staat wohl aufs Abhandeln eingerichtet, aber mit einer Bescherung wie der „Wahlreform" des sächsischen Ministers Hohenthal1 dürfen sie ihren Wählern doch nicht kommen, und deshalb ist ihnen eine Massenbewegung, die der Regierung und dem Junkertum eine gewisse Rücksicht auf die freisinnigen Wünsche auferlegen könnte, schon ganz recht.

Von einer abgekarteten Intrige kann also nicht wohl gesprochen werden, ohne die Logik zu vergewaltigen, die in den Dingen selbst steckt. Diese Logik hat denn auch sehr bald dafür gesorgt, das allzu üppige Fanfarenblasen des Herrn Naumann auf einen recht bescheidenen Pfiff abzutönen. Die Genossen des Freisinns im Hottentottenblock erklären mit aller Kaltblütigkeit, Herr Naumann sei wohl nicht recht gescheit. Die konservativen, die nationalliberalen, ja zum Teil auch die freisinnigen Blätter wollen von seinen Plänen nichts wissen. Die konservativen Blätter verfechten das preußische Wahlrecht in all seiner Dreiklassenherrlichkeit nach wie vor, und die anderen denken höchstens an eine „Reform", die den Pelz wäscht, ohne ihn nass zu machen. Es ist heute schon ganz klar, dass, wenn der Freisinn nach dem Naumannschen Rezept auf dem allgemeinen Wahlrecht für den preußischen Landtag als einer unerlässlichen Bedingung für seine fernere Beteiligung an der Blockpolitik beharrt, diese Blockpolitik unmöglich wird.

Aber es ist nicht minder klar, dass der Freisinn mit sich handeln lassen wird. Möglich, dass Herr Naumann und einzelne andere, die sich allzu weit vorgewagt haben, auf ihrem Schein bestehen bleiben, aber der Freisinn als solcher denkt nicht daran, den Wurstzipfel, den er endlich in die Hand bekommen hat, wieder fahren zu lassen, um „ganz und voll" zu seiner „unentwegten Überzeugung" zu stehen. Man muss eben auch hier der Logik, die in den Dingen selbst steckt, ihr unveräußerliches Recht lassen. So scharf man es verurteilen mag, dass der Freisinn sich in den Hottentottenblock hat einspannen lassen, so lässt sich doch schwer bestreiten, dass er sich nicht weigern kann, B zu sagen, sobald er einmal A gesagt hat. Er kann nicht als Blockgenosse der Junker mit nachdrücklicher Kraft eine demokratische Forderung vertreten, die ihm nicht einmal rechter Ernst gewesen ist, als er die Junker noch in seiner Weise bekämpfte. Haben sich einmal die Dinge so entwickelt, dass nur eins von beiden möglich ist: entweder Sprengung des Blockes oder eine Mogelei in Sachen des preußischen Wahlrechtes, so spricht alle Wahrscheinlichkeit dafür, dass es nicht zur Sprengung des Blockes, sondern zur Mogelei kommen wird.

Es fragt sich nun, wie sich die beiden großen Parteien, gegen die der Hottentottenblock gegründet worden ist, zur preußischen Wahlrechtsfrage stellen. Das Zentrum ist, ebenso wie der Freisinn, programmmäßig an das allgemeine Wahlrecht gebunden, hat sich aber, ebenso wie der Freisinn, praktisch stets um die Forderung herumzudrücken verstanden und beabsichtigt auch jetzt nur, sie unter dem Gesichtspunkt des Kuhhandels zu vertreten oder auch nicht zu vertreten. Die Partei „für Wahrheit, Freiheit und Recht" lechzt danach, wieder zu den Fleischtöpfen Ägyptens zurückzukehren, und ihr Führer Spahn hat eben erklärt, dass sie gegenüber allen Militär- und Marineforderungen der Regierung eine offene Hand haben werde. Sie sieht deshalb auch in der freisinnigen Agitation für die Einführung des allgemeinen Wahlrechtes nichts als eine willkommene Gelegenheit, Zwietracht im Block zu säen und sich wieder an die Stelle zu setzen, die jetzt der Freisinn einnimmt. Dies entspricht auch durchaus den Wünschen der konservativen Blockgenossen, und es ist wieder nur die reine Sommerphantasie des Herrn Naumann, wenn er sich einbildet und nicht zuletzt darauf seine Rechnung gründet, Fürst Bülow oder gar das ostelbische Junkertum könne und werde nie in die liebenden Arme des Zentrums zurückkehren. Er sollte sich als ehedem lutherischer Pfarrer an das nüchterne Wort Luthers erinnern von den „Icari und Phaetones, obenan und nirgend aus: sie wollen zwölf Kegel umbschieben, da ir nur neune stehen".

Anders als die Stellung des Zentrums ist die Stellung der Sozialdemokratie zu dem freisinnigen Beginnen. Sie ist allemal an die praktische Durchführung ihrer prinzipiellen Forderungen gebunden, und wenn sie an und für sich schon verpflichtet und dieser Pflicht auch nachzukommen bereit ist, für die Einführung des allgemeinen Wahlrechtes zum preußischen Landtag zu kämpfen, so muss es ihr auch willkommen sein, wenn sich eine bürgerliche Partei ehrlich und wacker für ihre Forderung ins Zeug legt. Sie ist dann gebunden, diese Partei nach Kräften zu unterstützen, soweit deren Kampf eben ehrlich und wacker geführt wird. Und da wir gesehen haben, dass der Freisinn durch seine gegenwärtige Lage in der Tat gezwungen ist, mit einem gewissen Nachdruck das allgemeine Wahlrecht für den preußischen Landtag zu fordern, so hat er insoweit allen Anspruch darauf, von der Sozialdemokratie unterstützt zu werden.

Aber freilich ist von diesem Standpunkt aus noch ein weiter Weg bis zu einem Wahlbündnis mit dem Freisinn, wie es von einzelnen Parteiblättern befürwortet wird. Ebenso wie die innere Logik dafür spricht, dass der Freisinn diesmal etwas stetiger als sonst für sein Programm eintreten wird, so spricht sie nicht minder dafür, dass er am letzten Ende doch umfallen und sich mit einer Abschlagszahlung begnügen wird, die den berechtigten Ansprüchen der Arbeiterklasse ins Gesicht schlägt, ganz abgesehen davon, dass es schon formell widersinnig wäre, unbesehen sich an eine Aktion zu binden, die der Freisinn zu dem ausgesprochenen Zwecke unternimmt, seine Stellung in dem arbeiterfeindlichen Blocke zu befestigen. Was sich daraus für die sozialdemokratische Politik ergibt, ist zwar der Verzicht auf jeden vorzeitigen Spott über die freisinnige Agitation, aber keineswegs der Verzicht auf ihre unablässige Kritik, um sie vorwärts zu treiben und vor jedem Umfall zu hüten, der nach Lage der Dinge irgend vermieden werden kann.

Im Übrigen wird sich die Sozialdemokratie, in diesem wie in jedem anderen Falle, auf ihre eigene Kraft verlassen müssen. Dies hat der Parteivorstand richtig erkannt, indem er zwar allen ehrlichen Bemühungen bürgerlicher Parteien um den Ersatz der preußischen Dreiklassenwahl durch das allgemeine Wahlrecht den Anspruch auf die Unterstützung durch die Partei zubilligt, aber selbst eine durchgreifende Massenagitation für diesen Zweck einzuleiten gedenkt, eine Massenagitation, die ihre Antriebe, Wege und Ziele natürlich nur aus den Interessen des modernen Proletariats schöpfen wird, gänzlich gleichgültig gegen die Zänkereien des Freisinns und des Zentrums um den Ehrenplatz im Blocke, gänzlich unbekümmert auch um den Klagegesang, den jetzt schon die bürgerlichen Helden anstimmen, die für das allgemeine Wahlrecht kämpfen: Timeo Danaos et dona ferentes, Wir fürchten diese Danaer, auch wenn sie Geschenke bringen.

Anders als das Geschenk einer die Massen in ihren tiefsten Tiefen aufwühlenden Agitation wird das allgemeine Wahlrecht für den preußischen Landtag nicht zu haben sein, und diesen Preis ist die Ware keinem bürgerlichen Staatsmann wert.

1 Gemeint ist die Einführung des Dreiklassenwahlsystems mit der Änderung der Landtagswahlordnung vom 28. März 1896 (s. Anm. 26).

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