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Franz Mehring 19070327 Die scheiternde Galeere

Franz Mehring: Die scheiternde Galeere

27. März 1907

[Die Neue Zeit, 25. Jg. 1906/07, Erster Band, S. 857-860. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 253-256]

Mit dem Ende dieses Monats hört die „Nation" auf zu erscheinen, die gehaltvollste und gescheiteste Wochenschrift der deutschen Bourgeoisie, deren Eingehen auch wir bedauern. Sie stand unseren Anschauungen sehr fern, ja sie vertrat in dem, was sie ihr Prinzip des Individualismus nannte, das gerade Widerspiel des Sozialismus, aber sie war trefflich redigiert, verfügte über ausgezeichnete Mitarbeiter und führte stets eine würdige Polemik, auch gegen die Sozialdemokratie. Es ist ein sehr trübes Zeichen für das Geistesleben innerhalb der besitzenden Klassen, dass diese Wochenschrift eingeht zur Zeit, wo eine Wochenschrift von dem verklatschten Kaliber der „Zukunft" sich mit marktschreierischem Behagen rühmt, mehr als zwanzigtausend Abonnenten innerhalb jener Klassen zu zählen.

Die „Nation" hat unseres Wissens nicht viel mehr als den zehnten Teil dieser Ziffern an Abonnenten aufzubieten gehabt, doch ist sie nicht an dem Versiegen ihrer Kräfte und Mittel untergegangen. Ihr Herausgeber, Herr Theodor Barth, hat vielmehr bei einem Abschiedsessen, das ihm seine Freunde in seiner Eigenschaft als Gründer und langjähriger Leiter der „Nation" gaben, unumwunden erklärt, dass er seine Galeere auf den Strand setze, da sie einstweilen den widrigen Winden nicht gewachsen sei, mit denen sie zu kämpfen habe, und er hat zugleich die Hoffnung ausgesprochen, in Zukunft mit einer Flotte zurückzukehren. Man mag diese Hoffnung auf sich beruhen lassen, und man braucht auch nicht lange darum zu streiten, ob ein Politiker, und gar ein Parteiführer, was Herr Barth wenigstens in partibus1 war, jemals die Flinte ins Korn werfen dürfe: So viel muss man anerkennen, dass sich das Eingehen der „Nation" aus den Gründen, die ihr Herausgeber angegeben hat, wohl begreifen lässt. Denn was sie in ihrer letzten Zeit vertrat: ein Bündnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat zur Niederzwingung der absolutistisch-feudalen Reaktion, ist nach der jüngsten Entwicklung des deutschen Liberalismus dermaßen zur Donquichotterie geworden, dass man schon ein zehnfach potenzierter Kato sein müsste, um auf Herrn Barth einen Stein zu werfen, weil er vorläufig die Sache satt hat.

Wir sagen: In letzter Zeit habe die „Nation" dies Programm vertreten, obgleich Herr Barth jüngst ein Zitat aus einem früheren Jahrgang der „Nation" beibrachte, um zu erhärten, dass die „Nation" immer den gleichen Strich gesegelt sei. Sie ist stets, wie wir nochmals anerkennen, eine anständige Gegnerin der Sozialdemokratie gewesen, aber ohne Schuld an dem hoffnungslosen Verfall des deutschen Liberalismus ist auch sie nicht. Es liegt uns fern, einen scheidenden Gegner zu kränken, und es liegt uns noch viel ferner, an der offenen oder geheimen Schadenfreude teilzunehmen, die bis auf ganz kleine Kreise überall im bürgerlichen Lager über den Untergang der „Nation" herrscht, jedoch das Interesse der Sache selbst gebietet ungeschminkte Wahrheit, durch die man einen ehrlichen Gegner am Ende auch am ehrlichsten ehrt.

Die „Nation" entstand vor einigen zwanzig Jahren als Organ der „geärgerten Freihändler" und als sonst nichts. Es war der Groll über Bismarcks schutzzöllnerische und staatssozialistische Schwenkung, der sie aus der Taufe hob. Um des gefährdeten Manchestertums willen ging der finstere Geist eines Junius durch ihre Spalten: manus haec inimica tyrannis. Seine Hand, der Tyrannen Feind, umklammerte zwar nicht den Dolch, um Rom von Cäsar zu befreien, aber sie wollte nach dem berühmten Muster jenes großen Unbekannten des Public Advertiser schonungslose Kritik üben an dem schutzzöllnerisch-staatssozialistischen System Bismarcks. Dieser Junius, mochte er mit seinem bürgerlichen Namen nun Bamberger, Barth oder Alexander Meyer heißen, donnerte gegen die „Wirkungen des Imperialismus auf den Intellekt" im Jahre 1884 also: „Man arrangiert sich mit der Macht und betätigt seine Überzeugungen nur noch im stillen Kämmerlein, die Zeit demutsvoll erwartend, wo es wieder ungefährlich geworden ist, ein Charakter zu sein. Das moralische laisser-aller ist jedoch eigentlich nur das erste Stadium der Demoralisation. Dem Verzicht auf die Geltendmachung einer eigenen Überzeugung folgt nur zu leicht der Verzicht auf den Besitz einer eigenen Überzeugung. Der Imperialismus unterjocht nicht nur den Charakter, sondern auch den Intellekt, und das ist vielleicht noch schlimmer. Der Träger der Macht wird gleichsam zu einem politischen Magnétiseur, der selbst die Gedanken des Volkes nach seinem Willen lenkt. Man kennt das Experiment des Magnétiseurs Hansen, der die durch ihn Faszinierten veranlasste, mit Behagen in eine dargereichte Kartoffel zu beißen in der Wahnvorstellung, es sei ein Pfirsich. Am deutschen Volke wiederholt sich heute ein ähnliches Experiment im Großen. Nach erfolgter Faszination ruht bei einem großen Teile der Bevölkerung das kritische Vermögen, und alle Früchte der herrschenden Politik, einerlei ob sie dem Protektionismus, dem Sozialismus oder der Kolonialpolitik entstammen, werden heute für Pfirsiche genommen; man weiß in der Tat nicht, für welche Politik, für welche Handlung, für welches Argument dem Staatsmann an der Spitze Deutschlands heute Bewunderer fehlen würden." So die „Nation" im Jahre 1884, und man mag danach wohl fragen: Hat sie damals nicht schon den Kampf begonnen, den sie heute als hoffnungslos aufgibt?

In gewissem Sinne ja, doch hat die Sache ihre Kehrseite. Eine demokratische Wochenschrift, die inzwischen auch längst das Zeitliche gesegnet hat, antwortete damals dem Junius der „Nation" wie folgt: „Das moralische laisser-aller, in den Augen des geärgerten Freihändlers das erste Stadium der Demoralisation, ist das Werk gerade jener Männer, die der Bruch mit dem wirtschaftlichen laisser-aller in die Toga des Brutus hinein geärgert hat. Wer biss in die Kartoffel der Reichsverfassung, weil er sie für einen Pfirsich hielt? Herr Junius und seine Freunde… Wer biss in die Kartoffel des Septennats2, weil er sie für einen Pfirsich hielt? Herr Junius und seine Freunde. Herr Rickert sprach die Militärfrage heilig und eiferte gegen die dreijährige Bewilligung, weil er die heilige Frage nicht durch den Schmutz der Wahlversammlungen gezerrt sehen wollte. Und wie stolz waren Junius und seine Freunde gerade auf diese Kartoffel! Als die Grundlage ihrer Politik bezeichneten sie damals – 's ist nicht so lange her – die Gemeinschaft mit den Konservativen. Die Gemeinschaft mit den Konservativen war ihnen die Richtschnur ihrer Politik für Preußen und Deutschland, für jetzt und immer… Wer biss in die Kartoffel des Ausnahmegesetzes? Herr Junius und seine Freunde. Doch genug und übergenug! Die Toga des Brutus ist euch zu kurz; sie deckt nicht eure Blöße; macht Opposition, getreu, getreuer und am getreuesten, aber versucht nicht, nachdem ihr die Freiheit ans Kreuz geschlagen habt, eure Hände in Unschuld zu waschen."

Die Tinte, womit diese harten Worte niedergeschrieben wurden, war kaum trocken, als die „Nation" und ihre Freunde damals in die Kartoffel bissen, weil sie in ihr einen Pfirsich erblickten. In demselben Jahre 1884, wo es in ihrer Macht stand, das Sozialistengesetz auf den Kehrichthaufen zu werfen, bewilligten sie es abermals, trotz des feierlichen Schwures auf ihr eben beschlossenes Programm, wonach der Verlängerung des Sozialistengesetzes niemals wieder zugestimmt werden sollte. In demselben Jahre 1884 veröffentlichten die Herren Bamberger, Barth und Brömel drei Abhandlungen „gegen den Staatssozialismus", worin beklagt wurde, dass die Rechtsprechung in Deutschland „die vor ihr Forum gehörige Seite einer maßlosen Agitation anfangs keineswegs richtig zu würdigen verstanden" habe. Und die Schrift Herrn Barths über den Zukunftsstaat, worin er dem sozialdemokratischen Programm mindestens ebenso verständnislos gegenüberstand wie Herr Eugen Richter in seinen „Irrlehren", erschien zwar schon vor dem Erlass des Sozialistengesetzes, aber sie wurde unverändert nach dem Erlöschen dieses Gesetzes wieder herausgegeben, gleichsam zum Zeugnis, dass ihr Verfasser in diesen zwölf ereignisreichen Jahren nicht um einen Deut klarer über die deutsche Arbeiterbewegung geworden sei.

Genug, die Opposition der „geärgerten Freihändler" gegen den „Imperialismus", wie sie jahre- und jahrzehntelang in der „Nation" betrieben wurde, hatte nicht das geringste Verständnis für die Arbeiterbewegung und nicht den geringsten Zusammenhang mit ihr. Um so mehr darf man anerkennen, dass sich Herr Barth dennoch durchgerungen hat zu einer Einsicht, die, wenn sie vor vierzig Jahren schon der deutschen Bourgeoisie beschieden gewesen wäre, wohl ein zivilisiertes Deutschland hätte schaffen können. Aber wenn er endlich den Mut gefunden hat, mit dem Teufel Kirschen zu essen, so erklärt die Vergangenheit, weshalb er so einsam geblieben ist unter seinesgleichen, weshalb seine alten politischen Freunde sich von ihm wenden: aus Angst, doch nur die Steine zu bekommen.

Immer steht er hoch über dem anderen der beiden Liberalen, die man seit Jahr und Tag als die Ausnahme von der Regel zu betrachten gewohnt war. Herr Naumann hat nicht nur seinen Anteil an der, wie Bülows Hauptorgan rühmend sagt, „taktvollen Zurückhaltung der Freisinnigen in der Debatte über die Wahlbeeinflussungen, worüber die sozialdemokratische Presse in eine Wutekstase geraten" ist, sondern er vergnügt sich auch in seinem Wochenblättchen an dem albernen Hohne, dass die Sozialdemokratische Partei gar keinen Anlass habe, die Wahlmache der Regierung anzuklagen, da nach ihrer Ansicht ja die Regierung die Interessen der besitzenden Klassen vertrete.

Gegenüber dieser politischen Versumpfung eines Mannes, dem nicht, wie Herrn Barth, der mildernde Umstand zur Seite steht, jahrzehntelang von manchesterlichen Vorurteilen befangen gewesen zu sein, mag man gern den letzten Liberalen auf seiner scheiternden Galeere grüßen, mit aller Sympathie, wenn auch ohne jede Hoffnung, ihn dermaleinst als Admiral einer siegreichen Flotte wiederkehren zu sehen.

1 in partibus (lat.) – zum Teil.

2 Septennat – Bewilligung der Kosten für die Friedensstärke des deutschen Heeres auf je sieben Jahre durch den Reichstag.

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