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Franz Mehring 19071127 Gegen Junker und Junkerpolitik

Franz Mehring: Gegen Junker und Junkerpolitik

27. November 1907

[Die Neue Zeit, 26. Jg. 1907/08, Erster Band, S. 281-284. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 313-317]

Der preußische Parteitag hat einen prächtigen Verlauf genommen und das Signal zum Kampfe gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht ausgegeben, ein Signal, das in den Massenversammlungen des gestrigen Tages seinen ersten mächtigen Widerhall gefunden hat.

Seinen ersten mächtigen Widerhall, denn darüber herrscht nirgends ein Zweifel, und am wenigsten in den Kreisen der Partei, dass der nunmehr entbrannte Kampf langwierig und zähe sein, dass er noch kräftigere Waffen erfordern wird, als massenhafte Protestversammlungen ihrer Natur nach sein können. Es handelt sich hier längst nicht mehr um eine Frage des Rechtes – denn wenn das Recht entschiede, so hätte mit einem Wahlrecht oder Wahlunrecht, das einst unter schmählichem Bruche der Verfassung gewaltsam oktroyiert worden ist und seit bald sechzig Jahren noch keinen Tag gesetzlichen Daseins erlebt hat, das sich in allen seinen Bestimmungen mehr und mehr zu einem wahren Hohn auf den Gedanken der staatsbürgerlichen Gleichheit ausgewachsen hat –, wir sagen, wenn das Recht entschiede, so wäre die Dreiklassenwahl längst zum historischen Kehricht geworfen worden.

Aber sie ist nicht minder lange aus einer Frage des Rechtes zu einer Frage der Macht geworden. Die Junker sehen in dem preußischen Wahlsystem ein Bollwerk ihrer Macht, das sie niemals preisgeben werden, es sei denn unter einem unwiderstehlichen Zwange. Bei der preußischen Wahlrechtskampagne kommt es darauf an, ob die Arbeiterklasse die nötige Macht zu entwickeln weiß, den Willen der Junker zu brechen, die sich mit Nägeln und Zähnen an die Dreiklassenwahl klammern. Eben dadurch erhielt der preußische Parteitag seine historische Bedeutung, dass er sich – bis auf eine geringe Minderheit – ganz und gar von dem Gedanken durchdrungen erwies, es handle sich um einen revolutionären Kampf, um einen Klassenkampf zwischen Junkertum und Proletariat, der kein [anderes] Ende nehmen könne als mit dem Siege der einen oder der anderen Klasse.

Unter diesen Gesichtspunkten finden denn auch die Anfechtungen der „Neuen Zeit" durch einzelne Mitglieder jener geringen Minderheit ihre vollkommene Erledigung. Weil an dieser Stelle bei einer Ersatzwahl zum preußischen Landtag vor Jahr und Tag die Ansicht ausgesprochen worden ist, die Beteiligung der Sozialdemokratie an den preußischen Landtagswahlen sei eine ganz unnötige Kraft- und Zeitverschwendung und der preußische Parteitag würde sich ein Verdienst erwerben, wenn er dem grausamen Spiele ein Ende machen und mit einer Utopie aufräumen würde, die alles andere eher als eine revolutionäre Utopie sei, soll „Die Neue Zeit" die Agitation gegen das Dreiklassenwahlrecht geschädigt haben! Die Beschuldigung beruht ganz und gar auf derselben Utopie, in der wir nach wie vor keine Spur revolutionären Lebens entdecken können, auf der Utopie, dass durch die Beteiligung der Arbeiterklasse an den preußischen Landtagswahlen, solange dabei in irgendwelcher Weise auf ein Zusammengehen mit bürgerlichen Parteien gerechnet wird, irgendwelcher Nutzen für die Arbeiterklasse erwachsen könne. Und wenn „Die Neue Zeit" dieser Utopie Knüppel zwischen die Beine geworfen haben sollte, wie von einem Redner auf dem preußischen Parteitag behauptet wurde, so hat sie ihr immerhin noch nicht so viel Leid angetan wie der Parteitag selbst, der überhaupt mit ihr aufgeräumt hat.

Anders als durch einen revolutionären Kampf, durch einen Kampf auf Leben und Tod mit dem Junkertum, ist die Beseitigung der Dreiklassenwahl und namentlich ihre Ersetzung durch das allgemeine Stimmrecht nicht zu erreichen, und solchen revolutionären Kampf fördert keine bürgerliche Partei, schon deshalb nicht, weil er ein revolutionärer Kampf ist. In diesem Kampfe kann sehr wohl auch eine Beteiligung der Arbeiterklasse an den preußischen Landtagswahlen eine Waffe werden, aber nur in dem Sinn, die Massen aufzupeitschen durch eine überwältigende Kundgebung gegen den ganzen Widersinn dieses Wahlsystems, wodurch alles Paktieren mit bürgerlichen Parteien von vornherein ausgeschlossen ist. Denn darauf lässt sich keine bürgerliche Partei ein, weder die Liberale noch die Ultramontane, und wir wären Narren, wenn wir die Quelle unserer Kraft, das revolutionäre Prinzip, aufgeben wollten um der obendrein illusionären Hoffnung willen, durch irgendwelches Zusammengehen mit bürgerlichen Parteien ein paar Mandate zu ergattern. Wir wollen handeln, wie auf dem Parteitag mit einem glücklichen Wortspiele gesagt wurde, aber nicht schachern.

Einstweilen spreizt sich das Junkertum noch in seiner Sünden Blüte. Sein getreuer Diener, der Mann mit der agrarischen Grabschrift, Fürst Bülow, hat den deutschen Reichs- wie den preußischen Landtag, kaum dass sie eröffnet waren, gleich jeden mit einem Ausnahmegesetz beglückt, den Reichstag mit dem neuen Vereins- und Versammlungsgesetz, das neben einigen kleinen Verbesserungen ungefähr dem zehnten Teil der preußischen Staatsbürger das Vereins- und Versammlungsrecht überhaupt rauben will, den Landtag mit einer neuen Polenvorlage, die den Hunderten von Millionen, die schon im Danaidenfass der „Ostmarkenpolitik" verschwunden sind, noch Hunderte von Millionen nachsenden und übrigens ein gewaltsames Enteignungsrecht gegen polnische Grundbesitzer durchsetzen will. Dafür schweigt Fürst Bülows Höflichkeit gänzlich von der Reform des preußischen Wahlrechts, die ja auch von den liberalen Blockfreunden gefordert wird und sie schon glücklich machen würde, wenn sie den Pelz wüsche, ohne ihn nass zu machen. In der Tat – ein lieblicher Anfang der Blockära: neue Kriegsschiffe, neue Steuerlasten und neue Ausnahmegesetze.

Es gibt Pessimisten, die daraufhin ein baldiges Ende der Blockherrlichkeit prophezeien, wobei sie freilich einen Faktor mit in ihre politische Rechnung stellen, der vermutlich nur in ihrer Phantasie existiert: nämlich einen Rest von Rückgrat beim Freisinn. Von allen bitteren Tränken, die dem Freisinn kredenzt werden, ist keiner so bitter wie die Bepackung des so gut wie einzigen Zugeständnisses, das ihm gemacht wird, des neuen Reichsvereinsgesetzes, mit allem Odium einer Ausnahmemaßregel. Ein solches ist der Paragraph 7, die Sprachklausel, die Bestimmung, dass es den Landesregierungen freistehen soll, nach ihrem Ermessen die fremdsprachigen Versammlungen zu erlauben oder zu verbieten, mit anderen Worten, dass den Polen und Dänen, ebenso wie den Franzosen in Lothringen, ein Grundrecht jedes konstitutionellen Staatslebens entzogen werden soll.

Ein konservativer Politiker, Herr Delbrück, schreibt in seinen „Preußischen Jahrbüchern" darüber: „Man kann sich kein schärferes Agitationsmittel denken, das so den polnischen und dänischen Demagogen in die Hand gespielt wird, und überdies wird in allen gemischtsprachigen Bezirken, selbst in Westfalen, den Arbeitern die Möglichkeit der gewerkschaftlichen Vertretung ihrer Interessen genommen. Es scheint mir ganz undenkbar, dass ein Mann, der noch auf den Namen eines Liberalen Anspruch machen will, ein solches Gesetz gutheißen könnte, um so weniger, da ja auf das Zustandekommen des Gesetzes gar nicht so viel ankommt, denn schon vom Augenblick der Einbringung an wird es moralisch nur sehr schwer möglich sein, alle die veralteten Bestimmungen der jetzigen Gesetze, die abgeschafft werden sollen, durch die Polizeiorgane noch anwenden zu lassen. Die Freisinnigen würden also nicht nur prinzipienwidrig, sondern auch politisch unklug handeln, wenn sie, um das Gesetz zustande zu bringen, die Sprachklausel annähmen." So richtig das alles sein mag, so kann der Freisinn doch nicht mit ganz leeren Händen vor seine Wähler treten, und die „Freisinnige Zeitung" hat denn auch erklärt, dass sie die Sprachklausel unbefangen prüfen werde. Es ist eine verteufelte Zwickmühle, worin der Freisinn steckt: entweder den Bankrott der Blockpolitik zu bekennen oder sich mit einem Ausnahmegesetz als seinem Anteil an der Beute abspeisen zu lassen. Jedoch dies Epigramm auf seine feige und perfide Politik ist gerade nur so beißend, wie es treffend ist.

Aber wenigstens bleibt ihm der Trost, einen Genossen in seinem Unglück zu haben, obendrein einen Genossen in dem Vater des Blocks, dem Fürsten Bülow, der mit der Polenvorlage, die er dem Landtag unterbreitet hat, sich gleichfalls ein Armutszeugnis ausstellt, wie es trauriger vielleicht noch kein so genannter Staatsmann sich ausgestellt hat. Man schmäht so viel auf die Minister des zweiten Kaiserreichs, und wir sind die letzten, diesen Verdammungsurteilen etwas abzudingen, aber wann wäre einer von ihnen auf den so absurden wie unwürdigen Gedanken verfallen, das Deutschtum in Elsass-Lothringen mit den Mitteln auszurotten, womit Bülow das Polentum in der so genannten „Ostmark" ausrotten will. Absurd sind diese Mittel, weil sich ihre gänzliche Unwirksamkeit nun schon seit mehr als zwanzig Jahren ziffernmäßig beweisen lässt, unwürdig aber, weil es jedem modernen Kulturmenschen das Blut der Scham in die Wangen treiben muss, eine Menschenjagd inszeniert zu [haben zu] einer gewaltsamen Vertreibung von Menschen aus ihrer Heimat, weil sie ihr nationales Bewusstsein nicht opfern wollen. Es ist begreiflich, dass sich auch unter den deutschen Bewohnern der Ostmark das Rechtsgefühl gegen diese Barbarei empört. Ein Herr Paul Fuß, ein evangelischer Deutscher, der seit dreißig Jahren als Domänenpächter und Gutsbesitzer in der Provinz Posen lebt, schreibt in einer eben veröffentlichten Broschüre: „Ich fordere die ganze gesittete Welt auf, hierüber ihren Rechtsspruch zu fällen", und über die Grundlage dieser Bülowschen Politik sagt derselbe unanfechtbare Patriot: „Märchen, Gespenster, Geschichten und schließlich Lügen und sinnlose Übertreibungen sind es, die man seit Jahren dem deutschen Volke aufgebunden hat, um künstlich eine Polengefahr zu konstruieren."

Sicherlich: In den Tagen des Sozialistengesetzes hat das Reich der Gottesfurcht und frommen Sitte noch Ärgeres gefrevelt. Aber damals hatte es mit der Arbeiterklasse zu tun, die dermaleinst mit siegendem Fuße über all seine trügerische Herrlichkeit dahin schreiten wird. Allein welch klägliches Armutszeugnis stellt es sich aus, wenn es nur mit barbarischen Mitteln ein paar Millionen Polen zu bändigen weiß, die es, wenn es anders ein Kulturstaat wäre, sich längst assimiliert haben würde wie ehedem Frankreich die elsass-lothringische Bevölkerung.

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