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Franz Mehring 19070911 Hunde sind wir ja doch!

Franz Mehring: Hunde sind wir ja doch!

11. September 1907

[Die Neue Zeit, 25. Jg. 1906/07, Zweiter Band, S. 785-788. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 292-296]

Als wir vor vier Wochen an dieser Stelle den stürmischen Anlauf des Herrn Naumann zur Eroberung des allgemeinen Wahlrechtes für den preußischen Landtag besprachen, ließen wir zwar keinen Zweifel darüber, dass die Sache schließlich mit einem Umfall des Freisinns enden würde, aber eine gewisse Festigkeit gerade in dieser Frage glaubten wir dennoch von ihm erwarten zu dürfen. Wir meinten, da die freisinnigen Führer ganz gut wüssten, was ihrer harre, wenn sie getreue Mitglieder des Hottentottenblocks bleiben wollten, welche kolossale Lasten sie dann auf den Nacken der Massen zu wälzen helfen müssten, so hätten sie ein lebhaftes Interesse daran, den Massen eine Gegengabe zu bieten, die nach was aussähe, und so würde ihnen eine Massenbewegung, die der Regierung und dem Junkertum einige Rücksicht auf die freisinnigen Wünsche auferlegen könnte, schon ganz recht sein.

Heute müssen wir leider gestehen, dass wir schlechte Propheten gewesen sind, dass der Freisinn viel früher und viel schmählicher umgefallen ist, als wir vorausgesetzt hatten. Es wird nichts mit dem „Fanfarenblasen" des Herrn Naumann werden, und er selbst hat in der erbarmungswürdigsten Weise das politische Harakiri an sich vollzogen. „Der politische Magen des Freisinns verträgt selbst Schuhnägel", schreibt ein ultramontanes Blatt, und der blutige Hohn ist objektiv nur allzu berechtigt, sosehr man seine subjektive Berechtigung anzweifeln mag, wenn er gerade von dieser Seite kommt. Denn tatsächlich folgt der Freisinn dem Vorbild des Zentrums, wenn er seine Hoffnungen nur noch auf den Kuhhandel setzt, der hinter den Kulissen mit der Regierung betrieben wird, wenn er darauf verzichtet, die Massen zur Eroberung des allgemeinen Wahlrechtes für den preußischen Staat aufzubieten, und seine Kämpf, seine Reinhard Schmidt und wie diese Braven sonst heißen, in die große Schacherbude schickt, die der Reichskanzler in Norderney aufgetan hat. Der ultramontane Magen verträgt ebenfalls Schuhnägel, wenn es gute Geschäfte zu machen gilt.

Aber mag das grimmige Wort auch von gekränktem Geschäftsneid geprägt sein, so ist es schimpflich genug für den Freisinn, den Geschäftsneid des Zentrums so gekränkt zu haben. Er ist damit tiefer gesunken als vor dreißig Jahren die Nationalliberalen, denen er so oft die donnernden Flüche seiner Gesinnungstüchtigkeit ins Gesicht geschleudert hat. In der Tat, wenn man heute die freisinnigen Blätter liest, mit all dem trostlosen Geschwätz über die „praktische Politik", die nicht nach Unerreichbarem streben dürfe, sondern sich mit dem bescheiden müsse, was ihr die Regierung zu gewähren geneigt sei, so kann man ihnen nur antworten: Bitte, schaut doch in euren eigenen Spiegel, lest doch nach, was ihr vor einem Menschenalter über dieselbe „nationalmiserable" Politik geschrieben habt, die ihr jetzt als der irdischen Weisheit letzten Schluss verherrlicht. Mit seiner gegenwärtigen Politik trampelt der Freisinn auf den Gräbern der Waldeck, der Hoverbeck, der Ziegler umher, denen kein Wort hart und scharf genug ist für das Gaukelspiel, das ihre Erben heute treiben.

All das Gerede über die Parole: Alles oder nichts, worin sich die freisinnigen Blätter gefallen, ist ein fades Echo der Tiraden, womit Bismarcks Soldschreiber ihrerseits die Waldeck und Genossen verfolgten. Diese alten Fortschrittler waren nichts weniger als Draufgänger, die mit dem Kopfe durch die Mauer rennen wollten; sie verlangten keineswegs alles, sondern waren schon mit recht wenigem zufrieden, aber sie wussten wenigstens noch, dass eine politische Partei kämpfen müsse, wenn sie überhaupt etwas erreichen wolle; sie erinnerten sich noch des Grundsatzes, den einmal ein altpreußischer General in die Worte gekleidet hat: „Es verträgt sich weder mit unserer Ehre noch mit unseren Interessen, vom Feinde das Gesetz anzunehmen." Sie überschütteten deshalb mit ätzendem Spott die nationalliberale Politik, die nach Bambergers geflügeltem Worte damit begann zu erklären: Hunde sind wir ja doch und bescheiden uns von vornherein mit dem, was der Feind uns bietet.

Wenn jetzt der Freisinn darauf verzichtet, das allgemeine Wahlrecht zum Gegenstand einer Massenagitation zu machen, und sich im Voraus mit einer Abschlagszahlung der Regierung bescheidet, so sucht er den letzten Rest des politischen Gewissens, den er noch besitzen mag, dadurch zu betäuben, dass er mit sittlicher Entrüstung fragt: Hat die Sozialdemokratie nicht auch mit Abschlagszahlungen vorlieb genommen? Hat sie nicht am 18. Dezember 1891 für den Handelsvertrag mit Österreich-Ungarn gestimmt, der den Brotzoll von 5 auf Mark herabsetzte, obgleich sie grundsätzlich alle landwirtschaftlichen Zölle verwirft? Man kann die Dinge nicht dreister auf den Kopf stellen. Die Analogie würde dann zutreffen, wenn die Sozialdemokratie erklärte: Wir bekämpfen zwar alle landwirtschaftlichen Zölle, aber wenn sich die Regierung mit einem Brotzoll von Mark begnügt, so rüsten wir ab und nehmen mit dieser Abschlagszahlung vorlieb. Einen Fußbreit, den man im Kampfe gewinnt, alsbald besetzen, um den Kampf um so nachdrücklicher fortzuführen, das ist in den Augen der freisinnigen Presse das gleiche wie auf jeden Kampf verzichten, wenn der Gegner bereit ist, einen Fußbreit freiwillig einzuräumen. Man weiß wirklich nicht, worüber man an dieser Presse mehr erstaunen soll: über ihren intellektuellen oder ihren moralischen Verfall.

Sie kann sich auch gar nicht mit der an sich freilich schon sehr kläglichen Entschuldigung der Unwissenheit ausreden. Denn sie hat das alles sehr gut gewusst, als sich vor dreißig Jahren die Lava ihrer sittlichen Entrüstung nach der entgegengesetzten Richtung ergoss. Sie schützt die Parole: Alles oder nichts! nur vor, um ihre wirkliche Parole zu verhüllen: Kämpfen oder Schachern? Weil sie nicht kämpfen, sondern schachern will, verzichtet sie darauf, eine Massenagitation für das allgemeine Wahlrecht in Preußen ins Werk zu setzen, und erklärt sich zufrieden mit den Brosamlein, die von Bülows Tische fallen werden. Mit welchem Hohnlachen die biederen Junker diese Bourgeoispolitik begrüßen werden! Und sie haben allen Grund dazu, denn umgekehrt wie für jenen römischen König, werden die Sibyllinischen Bücher für sie immer wohlfeiler.

Die Nationalliberalen verstanden sich vor dreißig Jahren noch einigermaßen auf den Schacher. Indem sie die politischen Forderungen des bürgerlichen Liberalismus preisgaben, schlugen sie für die ökonomischen Interessen der Bourgeoisie manchen hübschen Profit heraus, der noch dazu im Zuge der historischen Entwicklung lag und insoweit, als er den proletarischen Klassenkampf zwar nicht förderte, aber ihm doch die Wege ebnete, anerkannt werden konnte. Sehr viel mehr musste sich schon die ultramontane Schacherpolitik bescheiden, die der Regierung mit immer gehäufteren Händen geben musste, aber für ihre eigenen Zwecke nicht einmal die letzten schäbigen Reste des Jesuitengesetzes fortfegen konnte und sich im wesentlichen mit einigen persönlichen Trinkgeldern begnügte. Die freisinnige Schacherpolitik wird aber nicht einmal so viel erwerben, wie ein Spatz auf dem Schwanze davonzutragen vermag. Die Junker machen ja jetzt schon kein Hehl aus der Hochachtung, die sie diesen ihren Blockgenossen spenden, indem sie mit höhnischem Achselzucken fragen: Was könnt ihr armen Teufel denn beanspruchen?

Und gewiss – sie können nichts beanspruchen, wenn sie nicht gewillt sind, die Macht aufzubieten, die ihren Forderungen den gehörigen Nachdruck zu geben vermag. Anders als unter einem überlegenen Druck verzichtet keine Partei auch nur auf ein Atom ihrer Machtstellung; das sollte der Freisinn doch aus seiner eigenen Geschichte wissen, aus der Zeit, wo er die bescheidensten Ansprüche der Arbeiter mit derselben trockenen Unbeschämtheit ablehnte, womit jetzt seine bescheidenen Ansprüche von den Junkern abgelehnt werden, bis die Arbeiter sich von Lassalle belehren ließen, dass keine Partei ihr Recht durchzusetzen vermöge, wenn sie nicht die nötige Macht hinter ihr Recht zu setzen wisse. Der einzige Trumpf, den der Freisinn in der Hand hat, ist die Unmöglichkeit für den gegenwärtigen Reichskanzler, in seiner Weise fortzuwursteln, wenn der Block in die Brüche gehen sollte, und selbst dieser Trumpf ist mehr scheinbar als wirklich. Denn in Deutschland sterben die Reichskanzler an der Lächerlichkeit nicht, und wenn Bülow morgen wieder mit dem Zentrum anbändeln will, so ist noch lange nicht gesagt, dass er deshalb um Kopf und Kragen spielen würde.

Indessen nehmen wir an, es sei so, Bülows politische Existenz sei daran geknüpft, dass der Freisinn im Block ausharre, so ist damit noch keine Bürgschaft dafür gegeben, dass die ostelbischen Junker einen irgend nennenswerten Teil ihrer Machtstellung dem Freisinn einräumen werden. Was liegt ihnen denn an Bülow? Solange er ein brauchbares Werkzeug ihrer Klassenherrschaft ist, gut, aber wenn er es nicht mehr sein will oder kann, so leistet er ihnen nichts, was ihnen ein beliebiger Itzenplitz oder Zitzewitz nicht ebenso leisten würde, und sie werden keinen Augenblick zögern, ihn über Bord zu werfen. In diesem Punkte verstehen sie keinen Spaß, und sie haben insoweit ja ganz Recht, als der einzelne sich der Klasse, aber nicht die Klasse sich dem einzelnen zu fügen hat. Selbst Bismarck hat erfahren müssen, wie schwer es ist, gegen diesen Stachel zu lecken; als er den Junkern allzu intim mit den Nationalliberalen zu werden schien, verschworen sie sich, ihn so klein zu machen, dass er dem kleinsten Junker noch aus der Hand fressen müsse, und sie haben diesen Schwur wahr gemacht.

Jedoch der Freisinn hat seine Wahl getroffen, und man mag ihm als mildernden Umstand anrechnen, dass er nach den unzähligen Verrätereien, die er in den letzten Jahrzehnten begangen hat, eine übermenschliche Anstrengung hätte aufbieten müssen, um wieder eine ehrliche und offene Politik zu treiben. Möglich, dass es über seine Kräfte gegangen wäre! Aber dann liegt auch kein Grund mehr vor, ihn nicht zum alten Eisen zu werfen. Von seinen Führern ist nichts mehr zu erwarten; es sind, nach dem melancholischen Eingeständnis selbst eines freisinnigen Blattes, „ebenso anmaßende wie kleine Politiker"; auch Herr Naumann ist nach seinem jüngsten politischen Abenteuer politisch nicht mehr ernst zu nehmen. Die letzten losen Bande aber, die den Freisinn bisher noch mit den Massen verknüpften, scheinen nach mancherlei Anzeichen zu reißen, und wenn von dieser Seite auch kein großes Heer mehr zu uns stoßen kann, so werden wir doch ungleich größeren Gewinn aus dem neuesten Verrat des Freisinns ziehen als er selbst, auch wenn wir die für ihn günstige Voraussetzung machen, dass ihm das Junkertum irgendeinen Knochen zuwirft für sein politisches Bekenntnis: Hunde sind wir ja doch!

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