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Franz Mehring 19070213 Nach den Wahlen

Franz Mehring: Nach den Wahlen

13. Februar 1907

[Die Neue Zeit, 25. Jg. 1906/07, Erster Band, S. 649-652. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 228-231]

In seinem berühmten Buche über die Theorie des Krieges spricht Clausewitz von einem „Kulminationspunkt des Sieges"; er versteht darunter den Punkt, wo die Ursachen des Sieges sich erschöpft haben und nunmehr in dialektischer Wechselwirkung die Ursachen der Niederlage einzusetzen beginnen; obgleich ein Autodidakt, der sein Lebtag nicht zu völliger Klarheit über die Regeln der deutschen Grammatik gelangt ist, war Clausewitz trotz Hegel ein geborener Dialektiker, und es ist nicht der dümmste Streich des preußischen Militarismus, ihn zu seinem Lehrmeister erkoren zu haben.

Nicht das gleiche lässt sich von der preußischen Diplomatie rühmen, und am wenigsten von dem genialen Diplomaten, der gegenwärtig auf dem Stuhle des Reichskanzlers sitzt. Da dem zitatenfrohen Manne sicherlich das Zitat bekannt ist, dass Lügen kurze Beine haben, so hätte er sich bei einiger kaltblütigen Überlegung vorhersagen müssen, dass die siegreichen Patrioten des letzten Wahlkampfes schnell an den „Kulminationspunkt des Sieges" gelangen würden, ja dass ihre Niederlage schon einsetzte, ehe noch der Sieg völlig erfochten worden war. Die Enthüllungen, die ein ultramontanes Blatt in Bayern schon vor dem Stichwahltag über die heimlichen Wahlmachenschaften des angeblich unpolitischen Flottenvereins1 namentlich auch mit dem Reichskanzleramt zu machen begann, haben so viel Lug und Trug ans Tageslicht gezogen, dass den glorreichen Siegern dabei angst und bange ums Herz werden muss und in der Tat auch geworden ist.

Auf die Einzelheiten brauchen wir hier nicht näher einzugehen, da sie aus der Tagespresse hinlänglich bekannt sind. Es genügt zu sagen, dass sie hässlich und widerwärtig genug erscheinen, um auch die Herzen hartgesottener Reaktionäre mit Grauen zu schlagen; selbst das erprobteste Brotwucherorgan, das sonst „dreist und gottesfürchtig" genug ist, jeden Schwindel mitzunehmen, den es für seine Zwecke brauchen kann, erteilt den Leitern des Flottenvereins den wohlwollenden Rat, sich möglichst schnell und möglichst still in die Büsche zu schlagen, und rüffelt auch den Reichskanzler in unsanfter Weise, da er sich in Dinge eingelassen habe, die der reaktionären Sache schweren Schaden bringen müssten. Die Moral der Geschichte berührt es dabei nicht einmal, woraus wir ihm auch keinen Vorwurf machen. Denn an brotwucherischer Moralheuchelei ist nichts gelegen, wohl aber an dem Geständnis solcher Biedermänner, dass sie durch die Schuld von ihresgleichen ihre Sache schwer gefährdet sehen. Nur ein trostloser Katzenjammer vermag ihnen Geständnisse zu erpressen, die ihnen schwer genug fallen müssen.

Offener als der Flottenverein, aber dafür mit womöglich noch giftigerem Lug und Trug hat der Reichsverband zur Bekämpfung der Sozialdemokratie die Wahldemagogie betrieben, und auch davon zieht jeder Tag neue Beispiele der erbaulichsten Art ans Tageslicht. Was soll man dazu sagen, wenn dieser Verband, an dessen Spitze ebenso ein General steht wie an der Spitze des Flottenvereins, also gewissermaßen ein klassischer Typus preußischer Ehre, den Humbug verbreitet, den Geburtstag des Kaisers hätten Bebel und Singer durch ein Sektgelage gefeiert? Darf man aus der Art der Waffen, mit denen eine Sache verteidigt wird, auf ihren intellektuellen und moralischen Wert schließen, so hat es nie eine dümmere und faulere Sache gegeben als die Sache, deren Sieg am 25. Januar und 5. Februar gefeiert wurde. Aber schließlich hat sich in ihr nur abermals die alte preußische Eigentümlichkeit bewährt, die „Fäulnis vor der Reife"; sie hatte den „Kulminationspunkt des Sieges" schon überschritten, ehe sie den Sieg noch völlig erfochten hatte. Alle die braven „Sieger", von den Sykophanten des Brotwuchers bis zu den Sophisten des Kapitalprofits, reiben sich in trübseliger Verwunderung die Augen, da sie die Bescherung vor sich ausgebreitet sehen, die sie mit dem edelsten Schweiße erkämpft haben.

Auch der letzte Trost, der sie noch stärken könnte, zerfließt ihnen unter den Händen, nämlich die Hoffnung auf eine falsche Taktik, die die Sozialdemokratische Partei unter dem Eindruck ihrer starken Mandatsverluste einschlagen könnte. So schlecht die Gegner die Probe des Sieges bestanden haben, so gut haben unsere Truppen die schwerere Probe der Niederlage bestanden; solange es eine Kriegskunst gibt, hat es immer als ihr höchster Gipfel gegolten, einen notwendigen Rückzug so zu vollziehen, dass er nur neue Siege anbahnt. Freilich hat es an einzelnen Zeichen augenblicklicher Ratlosigkeit in unseren Reihen nicht gefehlt, und es ist begreiflich genug, dass sich die Gegner daran weidlich delektieren. So wenn ein Genosse, der bis zu den Wahlen ein begeisterter Vorkämpfer des Massenstreiks war, offen bekennt, durch den Ausfall der Wahlen zum ebenso energischen Gegner des Massenstreiks geworden zu sein, dafür nun aber empfiehlt, den Kampf vor die Schranken des Schöffengerichts zu verlegen und dem Reichsverband wegen seiner verleumderischen Schmähungen Bagatellinjurienprozesse aufzuhängen. Dem Wunsche gemäß, den der Parteivorstand in seinem letzten Aufrufe an die Partei kundgegeben hat, fassen wir diesen Vorschlag als durchaus ehrlich gemeint auf, und es ist auch unsere aufrichtige Überzeugung, dass er ehrlich gemeint ist, denn im entgegengesetzten Fall wäre er entschieden gescheiter ausgefallen. Aber mehr als ein Zeichen augenblicklicher, durch den Eindruck unserer Mandatsverluste hervorgerufener Verwirrung vermögen wir darin nicht zu erblicken.

Es steht nicht anders um den Versuch einzelner Parteigenossen oder Parteiorgane, aus den inneren Parteistreitigkeiten, die sich an die Parteitage von Dresden und Jena geknüpft haben, den Nachweis zu führen, dass wir in den letzten Wahlen minder gut abschneiden mussten als in den Wahlen von 1903. Nicht als ob nicht möglicherweise etwas an dieser Beweisführung sein könnte, aber wir vermögen uns keine heilsame Wirkung von der homöopathischen Kur zu versprechen, die Gleiches durch Gleiches heilen und die schädlichen Wirkungen jener alten Parteistreitigkeiten dadurch beseitigen will, dass sie neue Parteistreitigkeiten entzündet. Vielmehr, wenn man hierin eine Besserung herbeiführen will, so muss man den alten Streit nicht wieder hervor zerren, sondern in seinem Grabe lassen, wozu ja auch der Parteivorstand mit Recht rät. Ebenso wenig vermögen wir einen Nutzen darin zu erblicken, dass hier oder da in unserer Partei ein Bekenntnis allgemeiner Bußfertigkeit und Reue laut geworden ist im Sinne des Kirchenlieds: Lasst uns besser werden, dann wird's besser sein. Das mag für einen christlichen Säulenheiligen eine ganz angemessene und ehrenvolle Auffassung sein, aber für eine kämpfende Partei schickt sie sich nicht ebenso gut.

Doch alles das waren nur ganz vereinzelte Spuren von Mut- und Ratlosigkeit, und sosehr sie von den Gegnern ausgebeutet worden sind, so haben sie doch, was heute schon mit großer Genugtuung festgestellt werden darf, in den Massen der Partei nicht den geringsten Anklang gefunden. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass diese Massen geneigt wären, aus den Ergebnissen des letzten Wahlkampfes keine Lehren zu schöpfen, die ihnen ihre künftigen Kämpfe erleichtern können, aber sie denken nicht daran, nach den ersten besten Augenblickseinfällen loszugehen, und wenn sie etwa ein Reinemachen im eigenen Hause für notwendig halten sollten, so beabsichtigen sie keineswegs, ihre Wäsche zum Trocknen auf die Zäune der Gegner zu hängen. Die Partei hat ihren Rückzug, soweit von einem Rückzug überhaupt gesprochen werden darf, in geschlossenen Reihen und in vollkommener Ordnung angetreten; sie wird ihren Todfeinden weder das Vergnügen eines inneren Parteizwistes bereiten noch das Vergnügen, andere Wege zu wandeln, als sie bisher gewandelt ist.

Ganz im Gegensatz zu jenen einzelnen entkräfteten und entmutigten Stimmen spricht sich das „Hamburger Echo" aus. Man kann diesem Parteiblatt weder verstiegenen Marxismus noch irgendwelche Neigung zu inneren Parteistreitigkeiten vorwerfen; es ist in diesem Punkte vermutlich zurückhaltender als jedes andere Parteiblatt. Aber in seinen Spalten kommt oft das proletarische Massenempfinden zum prägnantesten Ausdruck, und schwerlich ist es je zu einem prägnanteren Ausdruck gekommen, als da das „Hamburger Echo" nach den Mandatsverlusten der letzten Wahlen betonte, es sei notwendig, dass die Sozialdemokratie neben der mit allem Eifer zu betreibenden Gegenwartsarbeit auf die Hervorhebung des sozialistischen Zukunftsideals mehr als bisher bedacht sein müsse. Die hinreißende Begeisterung der Massen lasse sich niemals durch Kleinarbeit erzeugen, sondern allein durch die einleuchtende Entwicklung jener sozialistischen Kulturwelt, wie sie das klassenbewusste Proletariat erbauen wolle.

In diesem Geiste hat die Sozialdemokratie den „Kulminationspunkt" der Niederlage so schnell überwunden, wie ihre Gegner den „Kulminationspunkt" des Sieges überwunden haben. Und sie wird bald zur handgreiflichen Wahrheit machen, was der eine oder der andere weiße Rabe unter ihren Gegnern schon heute verkündigt: Sie ist der kapitalistischen Herrlichkeit gefährlicher denn je.

1 Der 1898 gegründete Deutsche Flottenverein war eine extrem chauvinistische und monarchistische Propagandaorganisation des deutschen Großkapitals zur Popularisierung der Flottenrüstungen. Er war eine dem Alldeutschen Verband angeschlossene Organisation, wurde aber als angeblich unpolitische — „patriotische" – Massenorganisation aufgezogen. Zu den Wahlen 1907 („Hottentottenwahlen") stellte er sich offen an die Seite der Regierung bei deren Kampf gegen die „Reichsfeinde".

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