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Franz Mehring 19071218 Sandschlösser

Franz Mehring: Sandschlösser

18. Dezember 1907

[Die Neue Zeit, 26. Jg. 1907/08, Erster Band, S. 385-388. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 321-325]

Fürst Bülow gleicht in der Politik, die er gegenwärtig treibt, den Kindern, die man zur Sommerszeit am Meeresstrand spielen sieht. Sie bauen aus Sand stattliche Burgen mit Gräben und Wällen, zierlich umkränzt von Erkern und Türmen, aber die steigende Flut vernichtet die Herrlichkeit in so vielen Minuten, wie Stunden notwendig waren, sie aufzurichten. Diese Flut ist unbarmherzig, denn die Gezeiten des Meeres lassen sich durch keine menschliche Kraft beschwören.

Und ebenso wenig vermag alle diplomatische Geschicklichkeit ihr zerbrechliches Schifflein zwischen den Klippen und Untiefen der ökonomischen Klassengegensätze hindurch zu steuern. Da Fürst Bülow selbst ein ostelbischer Junker ist, so wird er seine Rasse gut genug kennen, um gewusst zu haben, dass seine „konservativ-liberale Paarung" von vornherein auf nicht mehr rechnen konnte, als dass den Konservativen mit Scheffeln, den Liberalen aber nur mit Löffeln zugemessen werde. Allein auch diese bescheidene Rechnung war ohne den Wirt gemacht, nämlich ohne das preußische Junkertum; die Liberalen sollen nicht einmal einen Löffel voll bekommen, sondern höchstens einen Löffelstiel, mit dem sie keinen Tropfen aus der Suppe schöpfen können.

So ist denn die Paarungspolitik Bülows darauf gerichtet, den Liberalen dies oder jenes Schlösschen aus Sand aufzubauen, auf die Gefahr hin und wohl auch in dem geheimen Bewusstsein, dass die nächste Flut sie spurlos verwehen wird. Eine solche Arbeit im Sande ist der neueste Erlass des Reichskanzlers an die deutschen Regierungen, der ihnen eine milde Handhabung des Zeugniszwangsverfahrens anempfiehlt. Schon die Art dieses Vorgehens ist überaus seltsam und erklärt sich eben nur daraus, dass den Liberalen und namentlich der liberalen Presse, deren viel verzweigte Reklame ja die einzige klassische Zeugin des Bülowschen Ruhmes ist, ein Schaugericht aufgetischt werden soll. Dieser nächste Zweck ist ja auch erreicht; die liberale Presse begrüßt mit lauten Tamtamschlägen die angebliche Erfüllung seiner alten volkstümlichen Forderung, unbekümmert darum, dass sie durch diesen Jubel den Eingriff der Regierung in die Rechtspflege billigt und einen Hauptgrundsatz ihres geliebten Rechtsstaats in schnöder Weise verleugnet. Aber was bedeutet dieser Erlass des Reichskanzlers anderes, als dass er sich unfähig fühlt, eine gesetzliche Reform des Zeugniszwangsverfahrens durchzusetzen? Und wenn die Gerichte, trotz des Erlasses, unbeirrt an ihrer jetzigen Praxis festhalten, so erwerben sie sich gar noch den Ruf einer richterlichen Unbeugsamkeit, die sich in den Jahrbüchern namentlich der preußischen Justiz um so schöner ausnehmen würde, je spärlicher diejenigen ihrer Blätter sind, an denen er haftet.

Es wird mit dieser Verheißung genau ebenso gehen wie mit der Verheißung, dass die Majestätsbeleidigungsprozesse aus der Welt geschafft werden sollen. Es klang einigermaßen nach etwas, als im Morgengrauen der Blockpolitik dieser Hahnenruf erscholl, aber was daraus geworden ist, das haben die Verhandlungen der Kommission gezeigt, die der Reichstag zur Beratung dieser großartigen „Reform" niedergesetzt hat: ein elendes Feilschen und Prachern um einige juristische Zwirnfäden, mit denen die Kautschukparagraphen der Majestätsbeleidigung im Strafprozessbuch eingegattert werden sollen. Es wird mit der „Reform" des Zeugniszwangsverfahrens nicht anders gehen als mit der „Reform" der Majestätsbeleidigungsparagraphen; die rollenwidrigen Sprünge, die Fürst Bülow über den Kopf des Herrn Nieberding macht, werden stets damit enden, dass der Springer platt auf den Boden fällt, während der Übersprungene in aller Gemütsruhe auf seinen Beinen stehen bleibt. Herr Nieberding, das will sagen die preußische Bürokratie, die sich von wegen Bülowscher Blockkrämpfe noch lange kein X für ein U machen lässt.

Freilich – in einem Punkte kann sich Fürst Bülow trösten, wenn es anders ein wirklicher Trost wäre: Je mehr sich ihm die Partnerin zur Rechten versagt, umso willenloser wirft sich ihm die Partnerin zur Linken in den Schoß. Es war zu erwarten, dass sie den Paragraph 7, den berüchtigten Sprachenparagraphen des Reichsvereinsgesetzes, hinunterschlucken würde. Aber die melancholische Hoffnung, dass ihr der harte Bissen wenigstens einiges Würgen verursachen würde, schien beinahe noch gerechtfertigt zu sein. Jedoch nichts von alledem! Der berühmte Rektor Kopsch, der umgekehrte Ahlwardt, erklärt den Berliner Philistern, der Paragraph 7 sei gar kein Ausnahmegesetz, er schaffe vielmehr gleiches Recht, denn in öffentlichen Versammlungen sei die deutsche Sprache, zu deren Erlernung jedem die Möglichkeit gegeben sei, die einzig mögliche Sprache. Man muss es den freisinnigen Spießbürgern, die mit dieser Weisheit regaliert wurden, zu ihrer Ehre nachsagen, dass sie gegen eine so hässliche Gesinnungslosigkeit doch protestierten und die Hoffnung aussprachen, Herr Kopsch werde mit ihr in der freisinnigen Reichstagsfraktion wohl allein stehen, allein der Biedermann versicherte sie fröhlichen Gemüts, da seien sie sehr auf dem Holzwege, wie sich alsbald zeigen werde.

Der Trost, den der Reichskanzler aus der freisinnigen Ergebung in seinen Willen schöpfen mag, ist aber ein sehr zweifelhafter Trost. Denn je mehr sich die Freisinnigen wegwerfen, umso üppiger werden die Junker. Schließlich kann man es ihnen nicht einmal zum Vorwurf machen, dass sie keine Rücksicht auf eine politische Gesellschaft nehmen wollen, von der sie nicht ohne Grund annehmen, dass sie sich alles bieten lasse. Dabei spielt denn freilich auch noch ein anderer Gesichtspunkt mit, der es ihnen unerträglich macht, dem Liberalismus auch nur die Spitze des kleinen Fingers zu reichen: die Angst vor der immer wachsenden Macht des Kapitals, dessen ökonomischer Druck sich ihnen nicht weniger fühlbar macht, weil die ideologischen Vertreter des Kapitalismus gar so schwächliche Gesellen sind. Es wurmt die ostelbischen Junker im Innersten, dass sie am letzten Ende doch nur noch die gemieteten Landsknechte sind, die sich die kapitalistische Gesellschaft mit großen Unkosten unterhält, um sie gegen den Ansturm des Proletariats als Futter fürs Pulver zu verwenden, und argwöhnisch schielen sie auf jeden Zuwachs an Macht, der dem Kapital zufließt; je mehr sie spüren, dass ihnen ökonomisch der Boden unter den Füßen schwindet, um so hoffärtiger protzen sie einher.

Aus diesem Zusammenhange erklärt sich auch die Krisis im Flottenverein, die so vielen Staub aufgewirbelt und zu einem wirklichen Konflikt zwischen einem leibhaftigen preußischen General und einem nicht minder leibhaftigen bayerischen Prinzen geführt hat. Prinz Ruprecht, der einstige Erbe der bayerischen Krone, will im Flottenverein nicht mehr mittun, weil General Keim an die Spitze des Vereins gelangt ist, derselbe General Keim, der bei den Hottentottenwahlen zu den bereitwilligsten Handlangern des Reichskanzlers gehört und den angeblich unpolitischen Flottenverein zu ähnlichen reaktionären Treibereien entwürdigt hat wie General Liebert seinen Reichslügenverband. Jedoch nicht dadurch hat er das Missfallen des Prinzen Ruprecht und der preußischen Junker erregt, die gegen diese Leistungen des braven Generals durchaus nichts einzuwenden gehabt haben, sondern weil General Keim seine uferlosen Flottenpläne allzu hitzig übertreibt und allzu eifrig die Interessen des Panzerplattenkapitals vertritt, worin die Junker nach einer sehr deutlichen Anspielung der „Kreuz-Zeitung" einen Versuch der Nationalliberalen sehen, sich unziemlich im Block hervorzudrängen und ihr Regiment auf der ganzen Linie zu etablieren. Es gehe nicht an, die Katholiken von den nationalen Aufgaben auszuschließen; die Mehrheit innerhalb des Blocks sei auf keinen Fall geneigt, den antikatholischen Ultras die Führung anzuvertrauen.

Dieser junkerliche Vorstoß gegen die nationalliberalen Herrschaftsgelüste, hinter denen immerhin mehr steht als hinter dem komischen Ehrgeiz der Kopsch und Genossen, hat gleichwohl alle Aussichten aufs Gelingen. Es kommt ihm sehr zupass, dass ein junger nationalliberaler Heißsporn von „einem da unten in München" oder so ähnlich gesprochen hat, was die junkerliche Loyalität mächtiglich ausnutzt, und dass es just ein bayerischer Prinz ist, der wider den Stachel des Kapitalismus geleckt hat, was dem junkerlichen Treiben gar noch einen „demokratischen" Schein gibt. General Keim sträubt sich zwar mit Händen und Füßen gegen seine Depossedierung, und man kann es verstehen, wenn der Wackere über grässlichen Undank der Welt klagt, aber helfen wird es ihm nicht viel, denn Bülow kann es nicht auf eine gleichzeitige Brüskierung der bayerischen Krone und des preußischen Junkertums ankommen lassen. Herr Keim wird, wie weiland der alte Römer Curtius, hoch zu Ross in den Abgrund setzen müssen, der sich innerhalb des Blocks aufgetan hat, um ihn durch seinen Opfertod zu schließen, wenn auch ohne Bürgschaft dafür, dass morgen an einer anderen Stelle des Blocks ein nicht minder tiefer Abgrund klafft.

Das kann Fürst Bülow mit seinen kleinen diplomatischen Künsten nicht hindern, sowenig wie die Burgen, die Kinderhände im Sande des Meeresufers erbauen, die herandrängende Flut aufzuhalten vermögen. Wenn auch sonst in keiner anderen Beziehung, so kann man doch nach einer bestimmten Richtung dem Block nicht eine gewisse Bedeutung absprechen: Er ist ein treffliches Demonstrationsobjekt für die Lehre, dass sich die historische Entwicklung in Klassengegensätzen vollzieht1 In allen heiligen und reinen Gefühlen der Menschheit sind ja alle Brüder des Blocks völlig einig; sie begeistern sich alle mit Gott für König und Vaterland und schwärmen für alle nationalen Güter. Zu alledem steht Hannibal vor den Toren und mahnt sie, unendlich eindringlicher als einst der alte Freiherr v. Attinghausen die Eidgenossen: Seid einig, einig, einig! und sie haben sicherlich das feinste Ohr für diese Mahnung. Trotz alledem aber – ihr Klasseninteresse bleibt das stärkste Triebrad ihres Willens, wobei es natürlich keinen Unterschied macht, ob die einen es mit übermütigem Trotze durchsetzen oder ob es die anderen mit hündischer Nachgiebigkeit ergattern wollen.

Jeder Versuch, diese Klassengegensätze zu verheucheln, vergiftet sie nur, indem er ihr historisches Recht leugnet, und macht sie auf die Dauer ohnmächtig gegen die Klasse, die ihre stärkste Kraft daraus schöpft, dass sie frank und frei ihr Interesse als die unerlässliche Vorbedingung des historischen Fortschritts bekennen darf. Und an diesem Bekenntnis scheitern alle diplomatischen Scherze des Fürsten Bülow, wie die Sandschlösser der Kinder am Meeresufer von der steigenden Flut weggeschwemmt werden.

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