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Franz Mehring 19070328 Selbstkritik

Franz Mehring: Selbstkritik

28. März 1907

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung, Nr. 73, 28. März 1907. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 257-259]

Es wird augenblicklich in der Partei etwas gar viel an Selbstkritik geleistet, was eine begreifliche, wenn auch nicht in eben dem Maße verzeihliche Folge der so genannten „Niederlage" ist, die angeblich die Sozialdemokratie in den letzten Reichstagswahlen erlitten hat. Die bürgerlichen Wärter haben daran ihre helle Freude, woraus allerdings noch nicht folgt, dass die Partei sich deshalb ihre Laune verderben zu lassen braucht. Sie im es auch wirklich nicht, sondern lässt jede neue Woche einen Haufen Schulmeistereien über sich ergehen, mit einem Gefühl der Wurstigkeit, das im und für sich ein schlagender Beweis dafür ist, wie kerngesund sie sich fühlt, und zwar mit Recht.

Wollen wir damit der Selbstkritik spotten? Mitnichten! Aber die Selbstkritik gehört zu den schwierigsten Aufgaben, wie für den einzelnen Menschen, so für eine Partei. Zumal für eine kämpfende Partei, die von Feinden rings bedrängt ist und die im allgemeinen wenig Neigung haben wird, aus ihrer eigenen Mitte belehrende Vorträge darüber zu hören, dass nicht alle ihre Waffen in tadellosem Zustande sind, dass dieser Schild längst geborsten und jenes Schwert längst verrostet ist. In heißem Kampfe kann sich überhaupt kein Mensch, geschweige denn eine Partei blank wie eine Puppe des Paradeplatzes halten; ohne Risse und Schrammen und Wunden geht es da niemals ab, auch nicht für die am besten gerüstete Partei gegenüber der am schlechtesten gerüsteten. Der Tugendbold soll auch erst noch geboren werden, dem im Kampfe nicht mal ein „Sauhieb" mit unterläuft; wie viel ist nach dieser Richtung nicht gerade den verdientesten Vorkämpfern der bürgerlichen Gesittung nachgesagt oder sogar nachgewiesen worden, sagen wir einmal einem Mann wie Voltaire, ohne dass damit der historischen Größe und der revolutionären Wirksamkeit des Alten von Ferney irgendein Abbruch geschehen wäre. Und wie von Voltaire, so lässt sich von jedem großen Kämpfer, dessen Andenken uns die Geschichte überliefert hat, mit einigem guten oder schlechten Willen ein Zerrbild entwerfen; in der Weltgeschichte geht es nicht so gemütlich zu wie in der Gesellschaft für ethische Kultur, und es ist in der Tat das gemeinsame Los aller revolutionären Erscheinungen in der Geschichte gewesen, dass sie die Fehler und selbst die Laster der Kraft gehabt haben. Darüber darf man gewiss nicht vergessen, dass eine revolutionäre Partei die Selbstkritik so notwendig braucht wie das liebe Brot. Kapselt sie sich in ein bestimmtes Programm, in eine bestimmte Taktik für immer ein, mag dieses Programm und diese Taktik zu einer gewissen Zeit noch so berechtigt gewesen sein, wächst und wechselt sie nicht mit ihren wachsenden und wechselnden Aufgaben, so ist sie verloren. Wie viele traurige Beispiele für diesen Satz liefert das Schicksal der revolutionären Parteien von 1848! Von Anfang an unterschied sich die proletarische Revolution darin von der bürgerlichen Revolution, dass sie in hohem Maße fähig war zu lernen, Irrtümer abzustreifen, neue Wege einzuschlagen, kurzum allemal die ausgiebigste Selbstkritik zu üben. Wie nun diese anscheinend widersprechenden Erscheinungen vereinigen, das eine Mal die absolute Gleichgültigkeit gegen, das andere Mal die hoch gesteigerte Empfänglichkeit für die Selbstkritik? Der springende Punkt ist das Interesse der Partei. Wo dies Interesse anfängt und aufhört, da beginnt und endigt auch das Recht der Selbstkritik. Für eine weinerliche Selbstkritik, die vom idealen Standpunkt aus noch so viel mit noch so viel Recht tadeln mag, aber sonst weder Schneide noch Spitze hat, wird eine kämpfende Arbeiterpartei immer verzweifelt wenig Verständnis übrig haben. Dagegen wird eine solche Partei stets sehr feinhörig sein für jede Selbstkritik, die ihr praktisch auf ihren Bahnen weiterhilft. Kann die Selbstkritik das Interesse der Partei fördern, indem sie deren Waffen schärfer macht, so wird sie immer willkommen geheißen werden; mäkelt sie aber an den Waffen herum, ohne den geringsten Versuch, sie wirklich auf den Amboss zu legen und sie schärfer zu schmieden, so wird sie sich über keinen Überschuss von Wohlwollen zu beklagen haben.

Eben das ist das Schicksal der Selbstkritik, die gegenwärtig im Übermaß von gewissen, wenn auch nicht zahlreichen Stellen aus an der Partei geübt wird. Von ihr gilt mit einer leisen Änderung das Bibelwort: An ihren Wirkungen sollt ihr sie erkennen. Träfe sie in der Partei auf irgendeinen Widerspruch, so könnte sie mit einem gewissen Recht oder doch Schein von Rechte sagen, dass sie einen wunden Punkt berührt hätte. Erweist sich die Partei aber gänzlich immun gegen die Selbstkritik, selbst wenn sie mit dem gewaltigsten Pathos vorgetragen wird, so ist damit der schlagendste Beweis dafür geliefert, nicht dass die Partei, sondern dass die Selbstkritik auf dem Holzwege ist. Denn nach allen historischen Existenzbedingungen der Arbeiterbewegung ist es ganz unmöglich, dass sie unbeachtet bliebe, wenn sie wirklich etwas zu sagen hätte, was die Partei zu fördern geeignet wäre.

Greifen wir nur einen Punkt heraus, der von dieser Art Selbstkritik mit besonderer Vorliebe betont und jedenfalls in der sie bewundernden Presse der Gegner mit dem größten Verständnis nachempfunden wird: ihren Schmerz darüber, dass die Agitation der Partei mitunter mit Albertis Komplimentierbuch auf gespanntem Fuße lebt und im Zweifelfalle wohl einmal lieber drei Himmelkreuzdonnerwetter vom Stapel lässt als eins. Mit weiser Miene sagt uns die Selbstkritik: Das plumpe Dreinschlagen nützt in der Politik äußerst wenig. Das ist nun so, wie man's nimmt. Das plumpe Dreinschlagen mit Papierwischen hat freilich keinen Zweck, aber das derbe Dreinschlagen mit Keulen kann sehr notwendig und nützlich sein. Wir fühlen uns nicht zu Sittenrichtern darüber berufen, ob in der Partei zu viel „geschimpft" wird, aber es ist notwendig, bei dieser Frage zwei ganz verschiedene Gesichtspunkte auseinander zu halten. „Schimpfen" im eigentlichen Sinne des Wortes, d. h. den Gebrauch grober Worte ohne triftige Gründe, mag man gerne tadeln, aber den kräftigen, persönlichen Kampf gegen die Feinde der Arbeitersache wollen wir uns lieber nicht verleiden lassen. Namentlich nicht, wenn uns gesagt wird – denn auch diesen Widersinn hat uns die Selbstkritik nicht geschenkt –, dass ja nach der materialistischen Geschichtsauffassung die einzelnen Fabrikanten und Kapitalisten Produkte der Verhältnisse seien, sich in einer Zwangslage befänden usw. Die Zustände, welche die Arbeiterklasse bekämpft, treten ihr feindselig, gehässig, kampfbereit in den persönlichen Trägern dieser Zustände entgegen, und da soll die Sozialdemokratie den armen unschuldigen Lämmern ja kein persönliches Leid antun, weil ihre persönliche Schlechtigkeit sich aus der Schlechtigkeit der von ihnen fanatisch verteidigten Zustände ergibt. Und wenn nur diese Biedermänner nicht noch obendrein mit dem „Schimpfen" anfingen, und gar mit dem „Schimpfen" in der gemeinsten und verächtlichsten Form, mit dem systematischen Verleumden der Arbeiter und der Arbeiterbewegung! Das soll man ihnen am Ende noch verzeihen, weil sie die materialistische Geschichtsauffassung nicht kennen und die Schuld an der Arbeiterbewegung den Personen ihrer Vorkämpfer zuschreiben!

Es ist in der Tat kein Wunder, wenn solche Verlockungen zur „staatsmännischen" Leisetreterei immer wieder, wie wir jetzt jede Woche erleben, an dem gesunden Verstände der Massen abprallen; die Arbeiter lassen niemals von dem preiswürdigen Grundsatze, auf einen Schelmen anderthalben zu setzen, wie das beiläufig, solange die Welt steht, jede lebensfähige und zukunftsfrohe Klasse getan hat.

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