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Franz Mehring 19070313 Über den Reichslügenverband

Franz Mehring: Über den Reichslügenverband

13. März 1907

[Die Neue Zeit, 25. Jg. 1906/07, Erster Band, S. 793-796. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 246-249]

Unter den Ursachen der Mandatsverluste, die unsere Partei in den letzten Reichstagswahlen erlitten hat, wird gerade auf unserer Seite die Tätigkeit des Reichslügenverbandes in erster Reihe genannt. Das ist bis zu einem gewissen Grade auch ganz richtig. Das anmutige System, die moderne Arbeiterbewegung dadurch zu lähmen, dass man sie und ihre Mitglieder in Grund und Boden verleumdet, dass man vor keiner noch so schäbigen Lüge zurückbebt, um einen sozialdemokratischen Reichstagskandidaten in den Augen der Wählermassen zu diskreditieren, ist niemals früher so systematisch angewandt worden und auch niemals früher mit verhältnismäßig so starker Wirkung.

Aber neu ist dies System keineswegs. Man erinnere sich nur, was im Jahre 1859, als es noch gar keine Arbeiterbewegung in Deutschland gab1, über die „Schwefelbande" in London zusammengelogen wurde, über den kleinen Kreis von Karl Marx und seinen Freunden. Man erinnere sich dann ferner, wie „hundert Kloaken jeden Tag die unerhörtesten Lügen, Entstellungen und Gemeinheiten" anschwemmten, als Lassalle sein „Offenes Antwortschreiben" veröffentlicht hatte. Man erinnere sich endlich, wie gerade vor vierzig Jahren, als die erste Probe aufs allgemeine Stimmrecht in Deutschland gemacht wurde und die deutschen Arbeiter zunächst in dem Wahlkreis Elberfeld mit Aussicht auf Erfolg um ein Reichstagsmandat rangen, ein wahrer Hagelschauer der gröbsten Verleumdungen auf den sozialdemokratischen Kandidaten hernieder stürzte.

Das waren die Anfänge, die den Ton angeschlagen haben, worin es seitdem immer weitergegangen ist. Wäre die Arbeiterbewegung auf diese Weise niederzuringen, so wäre sie längst mausetot. Die ehrlose Waffe der Verleumdung ist stets eine Lieblingswaffe herrschender Klassen, die unaufhaltsam untergehen und sich doch krampfhaft gegen den Untergang sträuben. Was ist über einen Mann wie Voltaire gelogen worden, was wird heute noch über einen Mann wie Heine gelogen! Wer je für den historischen Fortschritt gekämpft hat und deshalb im Andenken des Menschengeschlechtes fortlebt, der hat neben den leuchtenden Spuren seiner Fußstapfen auch die langen kotigen Schatten der Verleumdung auf Erden zurückgelassen. Der deutschen Sozialdemokratie würde ein Pfand ihrer weltgeschichtlichen Beglaubigung fehlen, wenn ihre Gegner über sie nicht das Blaue vom Himmel herunter lögen.

Insoweit kann sie es auch nur als eine Anerkennung ihres historischen Wachstums betrachten, dass sich im Reichslügenverband eine förmliche Organisation der gewerbsmäßig betriebenen Ehrabschneiderei gegen sie aufgetan hat. Konzentriert sich die ganze Lügenkraft einer verfaulten Gesellschaft zu einem Gewaltstoß gegen die Sozialdemokratie, so nur, weil diese Gesellschaft bereits das steigende Wasser an der Kehle spürt. Aber natürlich folgt daraus nicht, dass unsere Partei diesen Gewaltstoß nicht abzuwehren braucht. So sicher sie weiß, dass die Verleumdung sich immer an ihre Fersen heften wird, sowenig darf sie darauf verzichten, dieser Schlange den Kopf zu zertreten. Nur über die Art und Weise, wie sie dies Ziel erreichen kann, mag es verschiedene Meinungen geben, und es will uns scheinen, dass unter diesem Gesichtspunkt in manchen Parteikreisen das Ergebnis der letzten Reichstagswahlen nicht ganz richtig gewürdigt wurde.

Hier und da wird die Ansicht laut, man müsse dem Reichslügenverband das Handwerk legen, indem man seine Söldlinge vor den Kadi lädt. Das wäre nun gerade das verkehrteste von allem, was man gegen diese Biedermänner tun könnte; eine Bewegung, die eine alte Welt zerstören und eine neue Welt schaffen will, soll ihre Schlachten auf dem Gebiet des Bagatellinjurienprozesses schlagen! Aber wenn man selbst von diesem entscheidenden Gesichtspunkt absehen wollte – welche Torheit wäre es, den Reichslügenverband, der in letzter Instanz von der kapitalistischen Gesellschaft besoldet wird, vor Gerichte zu stellen, die ebenfalls in letzter Instanz von der kapitalistischen Gesellschaft besoldet werden. Gewiss urteilen diese Gerichte nach bestem Wissen und Gewissen, aber als Organe des Klassenstaates sind sie objektiv gar nicht fähig, unbefangen und unparteiisch den Klassenkampf zu beurteilen, der gegen diesen Klassenstaat geführt wird. Was bei einer gerichtlichen Verfolgung der Reichslügenschmiede herauskommen würde, hat sich kürzlich in Leipzig gezeigt, wo einer dieser Helden, der seit Jahren von der gewerbsmäßigen Verleumdung der Sozialdemokratie lebt, gar noch eine gerichtliche Sühne seiner ramponierten Ehre beanspruchte, weil ihm einmal von dem dortigen Parteiblatt gebührend heimgeleuchtet worden war. Der Erfolg war, dass der Reichsverbändler für seine verlogenen Angriffe mit 50 Mark Geldstrafe geahndet, die von ihm verklagten Parteiredakteure aber für ihre ungeschminkte, obgleich wahrheitsgetreue Abwehr zu Gefängnisstrafen im Gesamtbetrag von etwa zehn Wochen verurteilt wurden.

An sich diskutabler ist der Vorschlag, dem Reichslügenverband dadurch beizukommen, dass man die Blätter, die seinen literarischen Unrat veröffentlichen, auf Grund von Paragraph 11 des Pressgesetzes zur Aufnahme tatsächlicher Berichtigungen zwingt. Dagegen wäre grundsätzlich nichts einzuwenden, und in einzelnen Fällen ist dies Mittel der Abwehr auch mit Erfolg angewandt worden, zum Beispiel, als vor wenigen Wochen Bebel und Singer beschuldigt wurden, am Geburtstag des Kaisers in einem Berliner Restaurant ein Sektgelage gefeiert zu haben. Aber im Wesentlichen hat der Reichslügenverband sein System so eingerichtet, dass ihm mit Paragraph 11 des Pressgesetzes, der ja überhaupt nur einen problematischen Wert hat, durchaus nicht beizukommen ist. Zu seinen Hauptlügen während des Wahlkampfes gehörte zum Beispiel die Behauptung, dass Liebknecht einmal vor dreißig Jahren die deutschen Soldaten „zweibeinige Tiere in Uniform" genannt haben sollte, aber da Liebknecht tot ist, so war niemand da, der das Recht hatte, die Aufnahme einer tatsächlichen Berichtigung von den Blättern zu verlangen, die diesen Schwindel kolportierten. Ähnlich stand es um die zahllosen Lügen, die über die frühere Tätigkeit der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion verbreitet wurden; während der Wahlen existierte überhaupt eine solche Fraktion nicht, und wenn sie existiert hätte, so würde ihr das Recht gefehlt haben, im Namen ihrer Vorläuferinnen zu sprechen.

Im Allgemeinen lässt sich nur ein verhältnismäßig geringer Prozentsatz der reichsverbändlerischen Lügen mit dem Paragraphen 11 bekämpfen, und selbst bei ihm ist der Erfolg sehr fraglich. Die Wirkung auch der hieb- und stichfestesten Berichtigung lässt sich aufheben, indem ihr eine neue Fälschung oder Verdrehung angehängt wird, und im schlimmsten Falle nehmen die Blätter, die ihre „heiligsten Güter" nicht anders verteidigen können, keine Berichtigung auf. Sie können dazu freilich gezwungen werden, aber nur auf Grund eines gerichtlichen Verfahrens, das sich wochen- oder selbst monatelang hinzuschleppen pflegt, so dass die Berichtigung erst erscheinen kann, wenn das Gift der Verleumdung, gegen die sie gerichtet wurde, längst seine Wirkung getan hat. Alles in allem ist die Bekämpfung des Reichslügenverbandes durch Paragraph 11 des Pressgesetzes eine völlig aussichtslose Sache, auf die man gut tut von vornherein zu verzichten, bis auf die wenigen Ausnahmen, in denen sie eine schnelle und starke Wirkung verspricht.

Man muss sich damit abfinden, dass auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft ein Unkraut nicht auszurotten ist, das der Boden dieser Gesellschaft immer wieder erzeugt und erzeugen muss. Deshalb sind wir aber keineswegs wehrlos gegenüber der Tätigkeit des Reichslügenverbandes. Mit seinen Waffen ist die Arbeiterbewegung stets bekämpft worden, und sie wird in demselben Maße schärfer bekämpft werden, je stärker sie sich entwickelt; es wäre eine haltlose Illusion, wenn wir uns einbildeten, dass diese kapitalistische Kampfmethode jemals aufgegeben werden würde. Das zu erreichen liegt ganz außerhalb unserer Macht. Aber was wir tun können und deshalb auch tun müssen, das ist, die Massen gegen das Gift des Reichslügenverbandes immun zu machen und dadurch seine Methode mit aller Wucht auf die Gesellschaft zurückfallen zu lassen, die gewissen- und schamlos genug ist, sich ihrer zu bedienen.

Es ist die positive Seite unserer Agitation, die uns gegen den Reichslügenverband schützt. Sobald und soweit die Massen wissen, was die Sozialdemokratie ist und was sie will, sind alle Demagogen lahm gelegt, die mit verleumderischen Waffen gegen sie kämpfen; es sind dann gar keine Widerlegungen im einzelnen mehr nötig; jeder klassenbewusste Arbeiter weiß, was er von den Produkten des Reichslügenverbandes zu halten hat. Ebendies ist der Grund, weshalb aller Lug und Trug, womit die moderne Arbeiterbewegung von jeher bekämpft worden ist, ihren siegreichen Gang nicht aufgehalten hat. Umgekehrt – solange und soweit es noch unaufgeklärte Massen gibt, da hat der Reichslügenverband, wie die letzten Wahlen gezeigt haben, sehr leichtes Spiel; da kann er auch die blödsinnigsten Verleumdungen über die Sozialdemokratie verbreiten, mit vollkommen sicherer Aussicht, immer noch Gläubige zu finden; da helfen uns selbst die triftigsten Widerlegungen nicht, geschweige denn, dass uns der Paragraph 11 des Pressgesetzes oder gar gerichtliche Klagen helfen würden.

Je mehr die Massen von der Erkenntnis durchdrungen werden, dass die Sozialdemokratie nur für die Interessen der Massen kämpft, je unempfindlicher werden sie gegen die giftigen Bisse des Reichslügenverbandes. Hieraus ergibt sich, wie allein diese erlesene Garde der kapitalistischen Gesellschaft bekämpft, wie sie allein vernichtet werden kann, indem sie denen zum Abscheu und Ekel wird, die heute noch ununterrichtet genug sind, auf sie zu hören. Sie lebt allein vom „Unverstand der Massen", und jeder Schritt breit, den wir diesem Unverstand rauben, drängt auch den Reichslügenverband an den Abgrund, worin er verschwinden muss und wird als einer der scheußlichsten Auswüchse, den eine verfallende Gesellschaft an ihrem siechen Teile produziert hat.

1 Dieser Satz ist nicht wörtlich zu nehmen. Die erste Periode der deutschen Arbeiterbewegung, geprägt durch den Bund der Kommunisten, war mit dem Kölner Kommunistenprozess zu Ende gegangen. „Mit der Verurteilung der Kölner Kommunisten 1852 fällt der Vorhang über die erste Periode der deutschen selbständigen Arbeiterbewegung" (Engels). In der Reaktionsperiode lag die deutsche Arbeiterbewegung, unterdrückt und verfolgt, tief danieder, ohne dass die Kontinuität zum Bund der Kommunisten jemals ganz abgerissen wäre.

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