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Franz Mehring 19070904 Zum Essener Parteitag

Franz Mehring: Zum Essener Parteitag

September 1907

[Die Neue Zeit, 25. Jg. 1906/07, Zweiter Band, S. 753-756. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 288-291]

Gemeiniglich pflegen die deutschen Parteitage in den Jahren, wo internationale Arbeiterkongresse stattfinden, einen mehr geschäftsmäßig ruhigen Charakter zu tragen. So der Mainzer Parteitag im Jahre 1900, so auch der Bremer Parteitag im Jahre 1904. Und bisher sah es ganz so aus, als ob auch der Parteitag in Essen das gleiche Los teilen werde. Aber gerade die Verhandlungen des Stuttgarter Kongresses und im Besonderen die Verhandlungen seiner deutschen Delegation scheinen dieses Mal einen lebhaften Nachhall in Essen finden zu sollen, wobei es dann wohl nicht ohne manche scharfe Auseinandersetzung abgehen wird.

Soweit diese Schärfe durch den sachlichen Gegensatz der Meinungen hervorgerufen wird, lässt sich gegen sie nichts einwenden; sie ist dann eben unvermeidlich. Aber es war überflüssig, sie persönlich zu vergiften, wie es Genosse Noske in seiner Berichterstattung vor den Chemnitzer Genossen getan hat. Er behauptete, dass die deutsche Delegation die Mandate der Genossinnen Luxemburg und Löwinson kassiert habe, nicht weil sie aus formalen Gründen kassiert werden mussten, sondern weil der Genossin Luxemburg eins ausgewischt werden sollte, deren Treiben – nach der Behauptung des Genossen Noske – die breitesten Parteikreise satt hätten. Wir mögen die Genossin Luxemburg nicht dadurch kränken, dass wir sie gegen diesen Ausfall verteidigen, aber was einen entschiedenen Protest herausfordert, ist die beispiellose Verdächtigung der deutschen Delegation, die sich bei der Kassierung der beiden Frauenmandate allein von sachlichen Gründen leiten ließ und die sich hätte begraben lassen können, wenn ihr die unwürdigen Motive, die Genosse Noske ihr unterstellt, auch nur einen Augenblick in den Sinn gekommen wären1.

Nun wird allerdings auch die hochnotpeinliche Anklage eines an der deutschen Delegation begangenen Hochverrats erhoben, aber seltsamerweise nicht gegen den Genossen Noske, sondern gegen den „Vorwärts" und andere Parteiblätter, die ihre Genugtuung darüber kundgegeben haben, dass die Mehrheit des Stuttgarter Kongresses in der Frage der Kolonialpolitik anders entschieden habe als die Mehrheit der deutschen Delegation. Oder auch gegen den Genossen Kautsky, weil er in seiner Berichterstattung vor den Leipziger Genossen gesagt hat, wenn sich die deutsche Delegation in wichtigen Fragen konservativer als die übrigen gezeigt habe, so erkläre sich das aus ihrer Zusammensetzung, aus der Tatsache, dass sie zur Hälfte aus Gewerkschaftlern bestanden habe und somit der „rechte Flügel" der Partei in einer Ausdehnung vertreten gewesen sei, die er tatsächlich nicht besitze. In dieser einfachen Feststellung einer Tatsache, die sich jedem fühlbar machte, der den Verhandlungen der deutschen Delegation beigewohnt hat, soll Kautsky sich ein „schiefes Bild" gemacht haben, und er wird deshalb zu „unseren einzig wahren Prinzipienfesten" geworfen, „die uns mit ihrer verstiegenen Theorie in geradezu unerhörter Weise schädigen". Und dabei geht es dem Genossen Kautsky noch sehr glimpflich, verglichen mit den Komplimenten, die der „Vorwärts" einstecken muss, weil er an den alten Grundsätzen und Überlieferungen der Partei in der Frage der Kolonialpolitik festhält, obgleich die Mehrheit der deutschen Delegation sie bis zu einem gewissen Grade verleugnet hat.

Es wäre sicherlich sehr wünschenswert, dass auf diese Übertreibungen verzichtet würde, wenn der Essener Parteitag sich mit den Verhandlungen des Stuttgarter Kongresses beschäftigt. Bietet er dasselbe Bild und fasst er dieselben Beschlüsse wie die deutsche Delegation in Stuttgart, so ist ja hinlänglich die Meinung widerlegt, dass diese Delegation kein völlig zutreffendes Spiegelbild der deutschen Partei gewesen sei; teilt er aber speziell in der Kolonialfrage die Auffassung, die der Internationale Kongress in seiner in ihrer endgültigen Fassung ja auch von der großen Mehrheit der deutschen Delegation gebilligten Resolution niedergelegt hat, so wird es um so besser sein, ohne dass deshalb ein Schatten auf die deutsche Delegation fällt. Da sie in vollkommen legitimer Weise gewählt worden ist und – entgegen der Behauptung des Genossen Noske – ihre Aufgaben nach aufrichtiger Überzeugung erledigt hat, so ist völlig unbegreiflich, weshalb und wieso ihr die Behauptung, dass die deutsche Partei nicht ganz nach ihren wirklichen Kräfteverhältnissen in ihr vertreten gewesen sei, zum Vorwurf gereichen soll.

Einen ähnlichen entzündlichen Stoff, wie in dem Bericht über die Verhandlungen des Internationalen Kongresses, wird der Essener Parteitag in dem Bericht über die Reichstagswahlen zu behandeln haben. Jedoch auch hier liegt keine objektive Notwendigkeit für besonders erregte Debatten vor. Was darüber zu sagen ist, das ist unzählige Male in Versammlungen und in Zeitungen gesagt worden, und auch dem scharfsinnigsten Redner möchte es nicht leicht gelingen, dem Thema noch eine neue Seite abzugewinnen. Was schwerer ins Gewicht fällt, ist der in allen Teilen der Partei gleichmäßig betätigte Eifer, den Mandatsverlust der letzten Wahlen auszugleichen durch eine um so eifrigere Propaganda und eine um so stärkere Organisation, und die schönen Erfolge, die jetzt schon nach wenigen Monaten hierin erreicht worden sind, liefern den schlagendsten Beweis dafür, dass der 25. Januar, wie es damals in einem Parteiblatt hieß, keine Niederlage der Partei gewesen ist, sondern nur eine Erfahrung, aus der sie neue Kräfte schöpfen kann und schöpft. Damit sind auch am gründlichsten jene, wie es im Bericht des Parteivorstandes an den Parteitag heißt, „voreiligen und vorlauten Kritiker" widerlegt, die – um einen gewöhnlich am unrechten Orte gebrauchten Ausdruck anzuwenden – „die Parteiretter" spielen wollten, indem sie aus der „Wahlniederlage" der Partei ihre schwere innere Erkrankung diagnostizierten. Sollte sich ein Echo dieser Kritiken noch in Essen hören lassen, so wird es nicht minder schnell verhallen als der Urtext, obgleich es im Interesse der kostbaren Zeit vielleicht besser nicht erst ertönte.

Zum ersten Mal auf der Tagesordnung eines deutschen Parteitags erscheinen die Berichte über den Bildungsausschuss und die Parteischule. Der Bildungsausschuss ist aus äußerlichen Gründen noch nicht dazu gelangt, prinzipiell-theoretische Leitsätze seiner Tätigkeit zu entwerfen und dem Parteitag vorzulegen, aber vielleicht gereichte ihm das mehr zum Heil als zum Unheil, denn so war er gezwungen, seine Aufgabe am praktischen Ende anzufassen, und er hat ein ganz hübsches Stück Arbeit vor sich gebracht, wobei sich in allem Wesentlichen eine erfreuliche Übereinstimmung seiner Mitglieder ergab. Soweit dieser Bericht in Essen kritisiert werden sollte, wird die Kritik wohl mehr anregen als tadeln.

Dagegen scheint sich eine gewisse Opposition gegen die Parteischule geltend zu machen, worin wir durchaus kein Unglück sehen. Sie gehört zu jenen Bäumchen, die des Sturmes nicht minder bedürfen als des Sonnenscheins, um feste und unzerstörliche Wurzeln zu schlagen, zu jenen Erscheinungen, von denen Rodbertus einmal sagte, dass sie sich durchkämpfen müssen, ehe sie anerkannt werden. Die Tatsache, dass die Parteischule verhältnismäßig große Mittel beansprucht, während ihre Früchte doch nur langsam reifen können, bietet der Kritik, auch der unberechtigten, und ihr sogar zumeist, einen weiten Spielraum. Aber ein sozialdemokratischer Parteitag besitzt weiten Blick genug, um zu erkennen, dass die Kosten der Parteischule dermaleinst Wucherzinsen tragen werden, und er wird sich hüten, das Kind mit dem Bade zu verschütten. Wenn Genosse Bernstein im neuesten Hefte der „Sozialistischen Monatshefte" einzelnen Lehrern an der Parteischule die Fähigkeit wissenschaftlichen Denkens abspricht, so achten wir die Kompetenz gerade dieses Genossen gerade auf diesem Gebiet viel zu hoch, als dass wir nicht auch dafür stimmen möchten, die von ihm angefochtenen Genossen aus ihrem Lehramt zu entfernen, aber wenn er deshalb dem ganzen Unternehmen der Parteischule skeptisch gegenübersteht, so möchten wir doch daran erinnern, dass die Zweifel, die den Genossen Bernstein in seiner Parteitätigkeit umschwärmen, sich nicht immer so gewichtig wie unerschöpflich erwiesen haben.

Bildungsausschuss und Parteischule sind schon vor den Reichstagswahlen gegründet worden, was beiläufig ein treffliches Zeugnis dafür ist, wie wenig die zuständigen Parteiinstanzen von der Hand in den Mund leben. Dagegen ist das Nachrichtenbüro, das der Essener Parteitag aus der Taufe heben soll, ein Kind der letzten Reichstagswahlen, deren Male es, wie schon vor acht Tagen an dieser Stelle ausgeführt wurde, allzu sichtbar am Leibe trägt. Wir können in dieser Frage nur vor jeder Überstürzung warnen, vor jedem Schritte, der leicht getan ist, aber schwer zurückgetan werden kann, so lebhaft wir bedauern, dass wir damit den augenblicklichen Wünschen vieler Genossen widersprechen, die an den kleineren Provinzblättern eine ebenso notwendige und nützliche wie mühevolle und schwierige Tätigkeit ausüben. Als letzter Punkt auf der Tagesordnung des kommenden Parteitags steht dann noch die Frage des Alkoholismus. Ihr wird in der Partei nicht immer die nötige Aufmerksamkeit geschenkt, woran die Übertreibungen der Abstinenten den ersten und größten Teil der Schuld tragen; so höchst persönliche Fragen, wie die Alkohol-, die Impffrage und dergleichen mehr, verknöchern leicht zu persönlichen Schrullen, die nirgends so gefährlich sind wie in einer großen Volksbewegung. Da wird denn die ganze Frage nicht so ernst genommen, wie sie bei alledem verdient. Wenn es anders eine dialektische Wechselwirkung gibt, so wirkt der Alkoholismus nicht minder verhängnisvoll auf das soziale Elend zurück, als er die verhängnisvolle Frucht dieses Elends ist, und eine Partei, die so mächtigen Einfluss auf ihre Angehörigen ausübt, wie die Sozialdemokratische, kann manches zur Eindämmung des Alkoholismus tun, ohne dass sie deshalb temperenzlerischer Sektiererei zu verfallen braucht. So wäre es sicherlich wünschenswert, wenn die Versammlungssäle immer gegen bare Zahlung gemietet würden, statt dass sich der Wirt an dem Konsum alkoholischer Getränke durch die Versammlungsbesucher zu erholen hat, wodurch gerade auf die eifrigsten Parteigenossen ein gewisser moralischer Zwang zum alkoholischen Genuss ausgeübt wird.

Und so schließen wir mit der Hoffnung, dass sich der Essener Parteitag auf der Höhe seiner Aufgabe halten und schöpferische Arbeit leisten wird zur Ehre und zum Nutzen des proletarischen Klassenkampfes.

1 Noske brachte die Streichung der ursprünglich vorgesehenen deutschen Mandate der Genossinnen Luxemburg und Löwinson für den Stuttgarter Internationalen Sozialistenkongress in Zusammenhang mit der zweimonatigen Haft Luxemburgs (12. Juni – 12. August), zu der das Landgericht Weimar sie wegen ihrer Rede auf dem Mannheimer Parteitag über den politischen Massenstreik verurteilt hatte, und zu ihrer Ladung vor das Warschauer Gericht wegen der gleichen Rede vor dem Parteitag der polnischen Partei. R. Luxemburg war auf dem Stuttgarter Kongress Sprecherin der polnischen und der russischen Delegation; deswegen war ihr deutsches Mandat formell kassiert worden.

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