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Franz Mehring 19081114 Bestrafter Verrat

Franz Mehring: Bestrafter Verrat

14. November 1908

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Erster Band, S. 249-252. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 392-395]

Die Verhandlungen des Reichstags über das persönliche Regiment haben genau den Gang genommen, der vorhergesehen werden musste und auch an dieser Stelle vorhergesehen worden war. Mit dem Kaiser sind die Redner der bürgerlichen Mehrheit scharf genug ins Zeug gegangen, aber den Reichskanzler haben sie nach Möglichkeit geschont. Keine bürgerliche Partei hat einen ernsten Versuch gemacht oder auch nur angekündigt, diese Gelegenheit, die so günstig war wie keine vor ihr seit dem Bestehen des Reichstags, dem bürgerlichen Parlamentarismus ein Stück reeller Macht zu erobern, für diesen Zweck auszunutzen.

Der Reichskanzler selbst beteiligte sich nur am ersten Tage der Debatte mit einer Rede, die in recht trübseliger Weise zeigte, dass ihm das allezeit fröhliche Gottvertrauen doch einigermaßen abhanden gekommen ist. Er versuchte von den Enthüllungen des „Daily Telegraph" dies und jenes abzuhandeln, mit gar keinem Erfolg, und im Übrigen sprach er die Hoffnung aus, dass der Kaiser sich in seinen persönlichen Kundgebungen künftig eine größere Zurückhaltung auferlegen werde. Mehr als diese „Garantie", die Fürst Bülow schon zehnmal geboten hat, hatte er auch jetzt nicht zu bieten. Am zweiten Tage der Verhandlung hüllte er sich dann in völliges Schweigen trotz der hageldichten Angriffe, die auf den Kaiser fielen; statt seiner ergriff Herr v. Kiderlen-Wächter das Wort, der stellvertretende Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt, der auch nur den mäßigen Erfolg erzielte, dem Hohen Hause handgreiflich zu zeigen, wie unglaublich minderwertige Kräfte die leitenden Geister dieses Amtes sind.

Um die Herrlichkeit des Blocks zu erhalten, warf somit der Reichstag sein bisschen Ansehen noch mit in den allgemeinen Zusammenbruch. Kein Wunder, dass dieser Ausgang der mit beispielloser Spannung erwarteten Verhandlung in breiten Schichten selbst der bürgerlichen Bevölkerung und auch in einem großen Teile der bürgerlichen Presse eine Empfindung bitterer Enttäuschung und elenden Katzenjammers auslöste. Indessen daraus würden sich die abgehärteten Blockbrüder nicht viel gemacht haben, wenn sie nicht alsbald die alte Erfahrung hätten erproben müssen, dass Untreue die eigenen Herren schlägt und die treuloseste Politik allemal auch die dümmste Politik ist. Ihre famose Rechnung war nämlich ohne den Wirt gemacht, das heißt in diesem Falle ohne den Kaiser. Sie beruhte auf der Voraussetzung, dass der Kaiser sich unbesehen in die recht bescheidene Rolle fügen würde, die sie ihm neben ihrem geliebten Blockvater Bülow zugedacht hatten, und diese Voraussetzung war doch recht gewagt.

Schon während der Reichstagsverhandlungen selbst fehlte es nicht an warnenden Vorzeichen. Die lässige und müde Art, in der Bülow sprach, deutete auf nichts weniger hin als auf irgendwelche Siegessicherheit gegenüber dem persönlichen Regiment, und das völlige Schweigen des Reichskanzlers am zweiten Tage der Debatte gegenüber allen Angriffen auf den Kaiser drängte selbst einzelnen bürgerlichen Blättern das geflügelte Wort auf die Lippen: Man sagt, er wolle sterben. Es ist ja noch erinnerlich, wie Herr v. Bötticher dafür büßen musste, weil er einer viel harmloseren Kritik kaiserlicher Handlungen im Reichstag nicht sofort entgegengetreten war. Dazu kam, dass der Kaiser gerade an den Tagen, wo der Reichstag strenges Gericht über sein persönliches Regiment hielt, sich eine kleine Ausspannung von den Strapazen dieses Regiments gönnte. Er reiste in Süddeutschland, erfrischte sich auf Fuchsjagden, ließ sich von einem Kabarett lustige Lieder singen und erteilte dem Grafen Zeppelin vor jubelndem Volke die „Akkolade" des Schwarzen Adlerordens, indem er den Grafen für den größten Mann des zwanzigsten Jahrhunderts erklärte. Die Hofbeamten des Kaisers aber teilten aller Welt durch den Telegraphen mit, wie ausgezeichnet sich Majestät amüsiere.

Aus alledem ergab sich, dass dem Kaiser die harte Kritik des Reichstags an seinem Regiment nicht so sehr imponierte und – wie man wohl aus Gründen der Billigkeit hinzufügen muss – auch nicht so sehr zu imponieren brauchte, solange der Reichstag seinen großen Worten nicht die kleinste Tat folgen ließ. Mit der Hoffnung des Fürsten Bülow, dass der Kaiser sich künftighin eine größere Zurückhaltung auferlegen würde, war es demnach nicht allzu gut bestellt. Und wie sollte es auch? Die Gesetze der Psychologie kriechen nicht ebenso vor den liberalen Blockbrüdern, wie die liberalen Blockbrüder vorm Fürsten Bülow kriechen. Als vor mehr als hundert Jahren einmal ähnliche Hoffnungen gegenüber einem Vorgänger des Kaisers laut wurden, nämlich dass dieser preußische König in demselben Alter etwa, worin gegenwärtig der Kaiser steht, langjährige Gewohnheiten ablegen würde, meinte Mirabeau trocken; Es geschähe zum ersten Mal in der Geschichte. Es geschah damals sowenig, wie es heute geschehen wird. Und zwar heute um so weniger, als es sich damals immerhin nur um rein persönliche Gewohnheiten des Monarchen handelte, während die gegenwärtige Frage des persönlichen Regiments, wie wir schon oft an dieser Stelle hervorgehoben haben, durchaus keine persönliche Frage ist. Der Kaiser ist viel mehr das Produkt als der Urheber dieses Regiments; es entspringt an seinem Teil gesellschaftlichen und staatlichen Zuständen, die von Grund aus umgewälzt werden müssen, wenn mit der Ursache auch die Wirkung verschwinden soll.

So traten denn, sobald die Schlacht der großen Worte im Reichstag nur eben verklungen war, die Dinge selbst wieder in ihre Rechte; der Verrat an den Rechten des Volkes, den namentlich die liberalen Blockbrüder inszeniert hatten, um den Blockvater Bülow am Ruder zu erhalten, führte gerade zum Sturze dieses ausgezeichneten Staatsmannes oder doch – wenigstens vorläufig – zu seinem Stolpern. Die Junker, die sich, solange die Gefahr drohte, dass der Reichstag die günstige Gelegenheit zur Erweiterung der parlamentarischen Rechte ausnützen würde, eine gewisse Zurückhaltung auferlegt hatten, fordern jetzt klipp und klar die Entlassung Bülows. Die „Konservative Korrespondenz" und die „Kreuz-Zeitung" machen dem Reichskanzler sowohl zum Vorwurf, dass er die Vergnügungsreisen des Kaisers während der Reichstagsverhandlungen nicht verhindert als auch, dass er den Kaiser in diesen Verhandlungen nicht genügend verteidigt habe.

Beide Vorwürfe scheinen in einer gewissen Disharmonie zu stehen, denn der erste enthält ja auch einen Tadel des Kaisers, während der zweite sozusagen die Untadelhaftigkeit aller kaiserlichen Handlungen voraussetzt. Indessen vom Standpunkt junkerlicher Klassenpolitik klingen beide Vorwürfe doch harmonisch ineinander. Die Junker wollen das persönliche Regiment schon deshalb, weil es recht eigentlich die Blüte der Junkerwirtschaft ist; der absolute König soll ihren Willen tun, aber dabei soll „dem Volke die Religion", das heißt der ehrfurchtsvolle Schauer vor den göttlichen Geheimnissen der Monarchie erhalten werden. In beiden Beziehungen hat Bülow versagt; er hat so geringen Einfluss auf den Kaiser, dass er diesen nicht einmal hat hindern können, den empörten Volksmassen nicht noch neuen Erregungsstoff zuzuführen, und er hat nicht gehindert, dass der Träger der Monarchie vor allem Volk als äußerst fehlbarer Mensch hingestellt wird. Etwas weniger scharf als die „Konservative Korrespondenz" und die „Kreuz-Zeitung" geht die spezifisch agrarische Spielart des Junkertums gegen Bülow vor, wenngleich auch sie seine Kanzlertage als gezählt betrachtet; in ihrer hausbacken nüchternen Art mag sie nicht sogleich den Sperling in der Hand mit der Taube auf dem Dache vertauschen; sie weiß, was sie an dem „agrarischen" Kanzler besitzt, während sie in der Erinnerung an die Ära Caprivi beim Kaiser ihrer Sache nicht so sicher ist.

Noch hat kein preußischer Minister gedauert, über dem die Junker das Totenglöcklein erklingen ließen, und das drohende Verhängnis würde auch dann nicht beschworen sein, wenn die Audienz, die Bülow übermorgen beim Kaiser haben wird, noch einmal sein wohlgescheiteltes Haupt aus den Wogen empor tauchen ließe. Der Stoß, den das Ansehen der Monarchie durch die Vorgänge der letzten Zeit erlitten hat, ist so heftig gewesen, ja ist so unverwindlich geworden, dass nach der bisherigen Bülow-Weis' nicht weitergegaukelt werden kann. Die Blockherrlichkeit wankt in allen Fugen, dank den trügerischen und verräterischen Mitteln, mit denen sie sich befestigen wollte. Und am wenigsten den liberalen Blockbrüdern steht es an, über das Schlimmere zu jammern, das nach Bülow kommen kann und gewiss auch kommen wird. In ihrer Hand lag es, den Bankrott der Bülowschen Politik zugunsten der Nation zu liquidieren; indem sie das Ansehen und die Würde des Reichstags noch mit in die verlorene Masse warfen, haben sie eben das Schlimmere vorbereitet.

Schon vor zwei Menschenaltern war es im Munde der damaligen Liberalen eine Trivialität zu sagen, dass neue Rechte des Volkes nicht durch ewige Nachgiebigkeit, sondern nur durch unermüdlichen Kampf erworben würden; man kann den Satz bei Dahlmann, dem Urtyp des bedachtsamen und zaghaften Professorentums, bis zum Überdruss breitgetreten finden. Aber in den Ohren des heutigen Liberalismus klingt er wie orphische Weisheit, obgleich auch er ihn eben in seiner Weise, das heißt in mehr komischer als tragischer Weise, erprobt hat. Was hat alles Klagen der Liberalen über die Pest der Majestätsbeleidigungsprozesse seit Jahrzehnten geholfen? Gar nichts, es sei denn, dass es die „objektivste Behörde der Welt" nur noch anspornte, immer mehr solcher Prozesse anzustrengen. Sobald sich aber die bürgerliche Presse entschloss, nicht zu winseln, sondern zu handeln, war die viel beklagte Pest bis auf die letzten Wurzeln ausgerottet; in diesem Punkte brauchen wir uns vor der amerikanischen und englischen Pressfreiheit kaum mehr zu schämen.

Mögen sich also die liberalen Blockbrüder in der Angst vor dem Schlimmeren verzehren, wir werden durch diese Angst nicht berührt. Sosehr sie auf unsere Hilfe hätten rechnen können, wenn sie ihre politische Pflicht erfüllt hätten, sowenig brauchen wir darum zu trauern, dass ihr Verrat auf dem Fuße bestraft worden ist.

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