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Franz Mehring 19080919 Der Fall Schücking

Franz Mehring: Der Fall Schücking

19. September 1908

[Die Neue Zeit, 26. Jg. 1907/08, Zweiter Band, S. 929-932. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 368-372]

Seit einigen Monaten ist der Fall Schücking ein Hauptgegenstand der Erörterungen in der freisinnigen Presse. Es handelt sich dabei um die Maßregelung eines freisinnigen Bürgermeisters, der sich erdreistet hat, ein Büchlein und einige Zeitungsartikel gegen die reaktionäre Bürokratie zu veröffentlichen.

An sich bietet der Fall geringes Interesse, wenigstens für den, der mit dem Wesen der preußischen Bürokratie bekannt ist. Treffender als sonst jemand hat sie der alte Ziegler geschildert, indem er an Ruge schrieb: „Man muss ein eingeschulter Bürokrat sein wie ich selbst, um genau zu wissen, welch ein grandioser Wunderbau der preußische Staat ist, an den das bas empire bei weitem nicht heranreicht. Es gibt nichts Raffinierteres als die Methode, mit der er seine Beamten heranbildet und ihnen, bevor sie reif sind, in einer bewundernswürdigen Dressur alle geistigen und moralischen Rippen bricht. Und dies hat die Reaktion begriffen, die seit 1849 ein so künstliches Netz um uns gezogen hat, dass es schwer ist, dasselbe zu zerreißen." Ungefähr dasselbe hat Herr Schücking gesagt, und dafür soll er büßen, wie der alte Ziegler dafür gebüßt hat, dass er sich nicht alle moralischen und geistigen Rippen hatte brechen lassen.

Nicht als ob wir Herrn Schücking sonst mit Ziegler auf dieselbe Stufe stellen wollten! Er ist ein landläufiger Freisinniger des heutigen Schlages und hat das Mögliche getan, sich alle Sympathien zu verscherzen, indem er sich selbst als echter Bürokrat dadurch entpuppte, dass er die Kritiker seiner literarischen Wirksamkeit mit Bagatellinjurienprozessen bedrohte, ganz nach dem Muster seiner freisinnigen Bundesbrüder Kopsch und Mugdan, die gegen die Kritiker ihrer parlamentarischen Tätigkeit Bagatellinjurienprozesse anstrengen. Wenn solchen Leuten mit dem Maße, womit sie messen, auch von der reaktionären Bürokratie gemessen wird, so braucht man sich deshalb nicht groß aufzuregen. Ein allgemeines Interesse gewinnt der Fall Schücking erst durch seinen Zusammenhang mit der Blockpolitik, mit dem entschiedenen Quod non, das die reaktionäre Bürokratie dagegen einlegt, dass der Freisinn auch nur ein Atom Anteil an der Regierungsgewalt erlangt oder noch genauer – da tatsächlich ein solcher Anteil ja von vornherein ausgeschlossen ist –, dass auch nicht einmal der Schein entsteht, als ob ein Ziel dieser Art für den Ehrgeiz der Kopsch, Mugdan und Genossen erreichbar wäre.

Der Fall Schücking ist im Grunde ein Fall Bülow. Die Haltung der offiziösen Presse zeigt zur Genüge, dass dem Reichskanzler das Disziplinarverfahren gegen Schücking sehr ungelegen gekommen ist. Nichts ist auch begreiflicher. Die „Reichsfinanzreform" steht vor der Tür, die dem Freisinn Demütigungen zumutet, wie sie noch niemals eine politische Partei hinunterzuschlucken gehabt hat. Will der Freisinn nicht die paar Mandate aufs Spiel setzen, über die er noch mit Ach und Krach verfügt, so muss er wenigstens einige Schaumklöße in die Suppe tun, muss er wenigstens so tun, als ob er nunmehr in Regierung und Verwaltung ein bisschen mitzureden habe. Daran, den Freisinnigen dies Mitreden selbst nur im bescheidensten Maße zu gestatten, denkt auch Fürst Bülow nicht, aber ein paar wohlwollende Redensarten ist ihm die halbe Milliarde neuer Steuern schon wert. Auf keinen Fall kann ihm damit gedient sein, dass der Freisinn in dem Augenblick, wo er der Regierung die Dienste eines Heloten leisten soll, von derselben Regierung vor aller Welt geohrfeigt wird wie ein Helot. Selbst die „Deutsche Tageszeitung" war im ersten Augenblick etwas perplex über das bürokratische Vorgehen gegen Schücking; sie meinte in ihrer Weise, man hätte die Stilübungen des Mannes, die am nächsten Tage ja doch vergessen worden wären, nicht weiter beachten sollen. Die Brotwucherer wollen bei der Steuermogelei lieber mit dem windelweichen Freisinn als mit dem stachligen Zentrum zu schaffen haben, und sie scheinen zu fürchten, dass der getretene Wurm doch vielleicht anfangen könnte, sich zu krümmen.

Auf die Bürokratie macht alles das aber gar keinen Eindruck; es sei denn, dass es sie dazu reizt, den Bogen immer straffer zu spannen. Statt das Unbehagen des Reichskanzlers wenigstens so weit zu respektieren, dass sie die Anklage gegen Schücking in den mildesten Formen hält, die noch möglich waren, nachdem die Sache einmal eingefädelt worden war, schlägt sie in der Anklage vielmehr die denkbar schärfsten Töne an. Schücking soll seines Amtes entsetzt werden, weil er durch die Unehrerbietigkeit gegen den Landesherrn, die Herabsetzung bestehender Gesetze und Anordnungen der Behörden unter wissentlichen oder leichtfertigen Fälschungen und Entstellungen, durch die Verdächtigung der Staatsregierung und durch die persönlichen Beleidigungen der vorgesetzten Dienstbehörden und der Inhaber anderer öffentlicher Ämter seine Pflicht als Beamter verletzt und sich der Achtung, des Ansehens und des Vertrauens, das sein Beruf erfordert, unwürdig gezeigt habe. Eine besser gezielte Ohrfeige hat das ehrbare Antlitz des Freisinns, der öffentlich erklärt hat, „ganz und voll" – nie ohne dieses! – hinter Schücking zu stehen, noch nicht getroffen.

Ob der Freisinn sie ruhig hinnehmen wird, ist das beiläufigste an der ganzen Sache. Selbst wenn er es nicht täte, wäre wenig daran gelegen, denn Leute, die sich politisch in dem Maße prostituiert haben wie diese edle Partei können nicht dadurch politisch restituiert werden, dass sie sich unter den fürchterlichsten Peitschenhieben aufbäumen. Ebendeshalb ist es wahrscheinlicher, dass sie sich auch, noch dieser Demütigung fügen und ihren Wählern gegenüber darauf hinaus schwindeln werden, es handle sich um „einen einzelnen Fall", um das Ungeschick „untergeordneter Instanzen", und in der Tat kann sich der Freisinn auch darauf berufen, dass Fürst Bülow mit dem ganzen Abenteuer nichts zu schaffen gehabt hat, dass es ihm sogar sehr wider den Strich gegangen ist.

Die richtige Schlussfolgerung aus dieser an sich gewiss nicht zu bestreitenden Tatsache ist aber die, dass es zugleich ein politisches Verbrechen und ein politischer Wahnsinn ist, wenn eine Partei auf die freundliche Miene eines „leitenden" Staatsmannes hin ihre politischen Prinzipien preisgibt. Wir setzen dabei den günstigsten Fall, dass es dieser „Staatsmann" wirklich ehrlich meint; Fürst Bülow ist an der Fortwurstelei der Blockpolitik aufs lebhafteste interessiert und wird sie gewiss nicht um einer Laune willen aufs Spiel setzen. Aber es liegt vollständig außerhalb seiner Macht, auch nur ein kleinstes Bruchteil der Regierungsgewalt einer ihm gefügigen Partei zuzuschanzen, wenn die herrschende Klasse, deren Kommis er ist, dies Bruchteil nicht opfern will. Das hat selbst Bismarck nicht fertig gebracht, der innerhalb der bürokratischen Welt über eine ganz andere Autorität verfügte als Bülow. Auch für ihn gab es eine Zeit, wo er die Liberalen für sich zu gewinnen suchte, indem er ihnen sogar diesen oder jenen Ministerposten anbot, woran Fürst Bülow nicht einmal im Traume denken darf. Aber der „Herkules des Jahrhunderts" musste sich von einem kleinen Landrat a. D. sagen lassen, wenn er sich auf solchen „rollenwidrigen Seitensprüngen" ertappen lasse, würde er so klein gemacht werden, dass er jedem hinterpommerischen Junker aus der Hand fressen müsse, und es dauerte nicht ein Jahr, bis Bismarck von all solchen Velleitäten gründlich geheilt war.

Die preußische Bürokratie bildet eine eng geschlossene Klasse, die seit Jahrhunderten ans Herrschen gewöhnt ist und nicht daran denkt, sich depossedieren zu lassen, weil irgendein Bismarck oder Bülow in irgendwelche ministeriellen Verlegenheiten gerät. Man mag sie borniert schelten – und wir am wenigsten haben etwas dagegen einzuwenden –, aber man soll nicht verkennen, dass sie einen Willen und ein Ziel hat, dass sie wenn nicht genug Verstand, so doch genug Instinkt besitzt, um sich kein X für ein U machen zu lassen. Sie lässt niemanden in ihren geweihten Kreis, der nicht bis auf Herz und Nieren geprüft ist, und wenn dennoch ein räudiges Schaf unter sie gerät, so expediert sie es ohne alles Federlesen hinaus.

Charakteristisch ist, was Herr v. Gerlach, der es bis zum Regierungsassessor gebracht hat, darüber zu erzählen weiß. Er schreibt: „Wer als Regierungsreferendar angenommen werden soll, darüber entscheidet der Regierungspräsident. Nach Willkür. Ist der Bewerber adlig, Korpsstudent und Reserveoffizier, so passiert er fast immer. Je mehr von diesen Vorbedingungen fehlen, umso schwieriger wird die Annahme. Ich war zum Beispiel weder Reserveoffizier noch Korpsstudent und hatte deshalb die größte Mühe, anzukommen, obgleich meine politische Gesinnung damals noch durchaus unanstößig war. Sechs Regierungspräsidenten wiesen mich ab. Erst als ich alle meine verwandtschaftlichen und sonstigen Konnexionen in hohen Verwaltungskreisen in Bewegung setzte, wurde ich endlich vom siebenten akzeptiert." Noch beweiskräftiger ist ein anderes Zeugnis. Die „Berliner Freistudentischen Blätter" hatten gewagt, die Schrift Schückings anerkennend zu besprechen, ein keckes Unterfangen, das von der Universitätsbehörde sofort durch das Verbot bestraft wurde, das Blatt im Universitätsgebäude auszulegen. Zugleich aber erhielt das Blatt von einem Referendar, der, glücklicher als Herr v. Gerlach, nicht nur adlig, sondern auch Korpsstudent und Reserveoffizier ist, eine „Berichtigung", noch dazu auf „Grund des Pressgesetzes", worin es heißt: „Wenn wir (das heißt die Korps) auf Nachwuchs aus anständigen Kreisen Wert legen, so ist das unsere Sache, denn wir sind legitime Herren im Staate. Wir werden es jedenfalls zu verhindern wissen, … dass Menschen, die gegen die herrlichen Burgen Sr. Majestät des Kaisers saure Kritik wagen, auf verantwortungsvolle Posten in der preußischen Verwaltung gestellt werden." Das klingt wie eine Satire aus dem „Simplizissimus", ist aber Geist vom Geiste der preußischen Bürokratie.

Schelte man sie borniert, soviel man will, aber vergesse man nicht, hinzuzufügen, dass, wer mit dieser bornierten Klasse in freundschaftlicher und friedlicher Weise paktieren will, noch zehnmal so borniert ist. Von ihrem Standpunkt aus, mag er so rückständig und überlebt sein, wie er will, hat sie vollkommen recht; sie wehrt sich ihres Lebens, was man ihr so lange nicht verdenken kann, als niemand zum Selbstmord verpflichtet ist, und sie siegt mit demselben Rechte, womit der Bornierte es über den zehnmal so Bornierten davonträgt. Statt über den Fall Schücking zu lamentieren, täte der Freisinn gut daran, die Lehren zu beherzigen, die dieser Fall enthält, aber dazu ist es freilich zu spät, wie gerade der Fall Schücking zeigt.

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