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Franz Mehring 19080115 Der rollende Stein

Franz Mehring: Der rollende Stein

15. Januar 1908

[Die Neue Zeit, 26. Jg. 1907/08, Erster Band, S. 541-544. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 326-330]

Mit hoher Genugtuung darf die deutsche Sozialdemokratie auf die letzten Tage zurückblicken, vor allem auf den vorigen Sonntag, der einen Ehrentag in ihrer Geschichte bilden wird, dank den imposanten Kundgebungen gegen die Dreiklassenschmach in Berlin und anderen Großstädten des preußischen Staates. Wie schon oft in der Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung hat die Tat selbst die erschöpfende Antwort auf alles Für und Wider gegeben; das Volk ist auf die Straße gegangen, und die leeren Redensarten der Gegner, dass sie sich dadurch nicht einschüchtern ließen, sind der schlagendste Beweis dafür, dass sie tatsächlich eingeschüchtert worden sind, denn die Drohung wie der Hohn, womit sie sonst den gerechten Forderungen der Massen entgegenzutreten pflegen, sind ihnen gänzlich in der Kehle stecken geblieben.

Man kann nicht eigentlich sagen, dass die Blockpolitik von nun an bankrott geworden sei, denn bankrott war sie schon am Tage ihrer Geburt. Allein der Bankrott ist nunmehr sozusagen offiziell angezeigt worden durch die Erklärung, die Fürst Bülow am 10. dieses Monats im preußischen Abgeordnetenhaus verlas. Sie war der derbste Fußtritt, der dem blockfreudigen Freisinn gegeben werden konnte, und es gehört nicht viel psychologischer Scharfsinn dazu, um zu sagen, dass der Reichskanzler diesen Tritt sozusagen mit widerstrebendem Fuße erteilte. Es hätte seiner persönlichen Art und seinem politischen Interesse weit mehr entsprochen, mit schönen Redensarten um den heißen Brei herumzugehen, und er durfte sicher sein, damit vollkommenes Verständnis bei den Freisinnigen zu finden, die schließlich ja auch nur schöne Redensarten über die Einführung des allgemeinen Wahlrechtes in den preußischen Staat machen wollen. Die Junker aber sind des süßen Tones längst satt und wollen in trockenem Tone festgestellt haben, dass Blockpolitik nichts anderes heißt als gänzliche Unterwerfung des Freisinns unter den junkerlichen Willen. Dass sie je, um Bülow am Ruder zu erhalten, dem Freisinn auch nur ein Eckchen ihrer tatsächlichen Machtposition einräumen würden, konnten von Anfang an nur politische Narren annehmen, aber dass sie dem „agrarischen" Kanzler nicht einmal das bisschen feuilletonistischer Schaumschlägerei gestatten, das er nun einmal braucht, um der Blockpolitik einen kurzfristigen Schein von Leben zu verleihen, das wirft ein erschöpfendes Schlaglicht auf die wirkliche Lage der Dinge.

Es ist ganz richtig, was ein freisinniges Blatt sagt, dass Bülow die letzte Gelegenheit eines guten Abzugs von der politischen Bühne verpasst habe, als er am vorigen Freitag den schwachatmigen Anträgen des Freisinns auf eine preußische Wahlreform die „kalte Teufelsfaust" entgegensetzte. Wäre er lieber gegangen, als dass er diese Demütigung auf sich nahm, so hätte man freilich noch nicht sagen können: Ende gut, alles gut, aber doch: Alles schlecht, Ende leidlich. Allein jenes zutreffende Urteil eines freisinnigen Blattes über Bülow trifft auch mit nahezu gleicher Wucht den Freisinn selbst, der die Erklärung Bülows mit einer Demut entgegennahm, von der sich in der Geschichte der politischen Parteien nur schwer ein Beispiel finden lässt. In dem Augenblick, wo der Freisinn eine so schmerzende Ohrfeige erhielt, musste er mit einem freiwilligen Fußtritt die Blockpolitik von sich schleudern und sich dadurch in den Augen der Massen rehabilitieren, soweit das überhaupt noch möglich ist. Das fiel ihm aber gar nicht ein, sondern er „begrüßte" noch obendrein die Erklärung Bülows, weil darin für irgendwelche unabsehbare Zukunft die Möglichkeit offen gelassen war, die Dreiklassenwahl mit der Pluralwahl oder sonstigem Firlefanz zu Ehren von „Bildung und Besitz" zu verschnörkeln. Wenn wir gleichwohl sagen, dass der Freisinn sich nur nahezu ebenso blamiert habe wie Bülow, so veranlasst uns zu dieser Einschränkung allein die Tatsache, dass sich hier und da in den freisinnigen Wählern eine Regung der Scham kundgibt über die erbärmliche Rolle, die ihre Partei innerhalb des Blocks spielt, und dass diese schüchternen Anzeichen der Besserung doch nicht übersehen werden dürfen, zumal da die Mitwelt in diesem Punkte sehr wenig durch die Unentwegten verwöhnt ist.

Jedoch geleistet ist damit noch nicht das Geringste, und wenn wir irgendwelche Hoffnungen darauf bauen wollten, so wären wir verwegener als ein Mann, der auf einer Brücke von Strohhalmen die Niagarafälle zu überschreiten versuchte. Charakteristisch ist für die weißen Raben des Freisinns, dass auch sie ihren Sang mit der krächzenden Note beginnen: Vor allem keine Straßendemonstrationen, die das sinnloseste Mittel sind, Wahlreformen durchzusetzen. Diese weisen Thebaner wissen noch nicht einmal, dass, solange es eine parlamentarische Geschichte gibt, Wahlreformen noch nie anders durchgesetzt worden sind als durch den Druck von außen, mag dieser Druck nun gewaltsam gewesen sein, wie im Jahre 1848 in Frankreich, oder mag er friedlich sich durchgesetzt haben, wie im Jahre 1832 in England. Aber ein Druck von außen ist immer notwendig gewesen, und sowenig es unseren Aufgaben und Neigungen entspricht, preußische Junker zu rechtfertigen oder zu entschuldigen, so müssen wir doch anerkennen, dass sie an ihrer Dreiklassenwahl nicht fester kleben, als die französischen Bourgeois unter dem liberalen Bürgerkönigtum an ihrem womöglich noch beschränkteren Wahlzensus geklebt haben. Wer also den Kampf um die preußische Wahlreform damit beginnt, zu sagen: Der Druck von außen sei unsinnig, und wir verwerfen alle Straßenkundgebungen, begibt sich des Anspruchs, politisch überhaupt noch ernsthaft genommen zu werden, und man wird sich damit abfinden müssen, dass von den einzelnen grünen Zweigen des Freisinns am letzten Ende doch nicht mehr zu erwarten ist als von der Masse seiner dürren Zweige.

Ein Glück, dass auch nichts darauf ankommt! Die Arbeiterklasse wird sich durch alles freisinnige Lamentieren nicht von dem Wege abdrängen lassen, den sie nunmehr eingeschlagen hat. Sie würde es auch dann nicht tun, wenn sie zunächst gar keine Erfolge zu verzeichnen hätte, aber sie wird es um so weniger tun, je fühlbarer sich sofort ihr Druck von außen gemacht hat. Es soll nicht verkannt werden, dass sie einen Teil dieses Erfolges der Beschränktheit oder auch der Böswilligkeit ihrer Gegner zu danken hat, wobei denn freilich auch nicht übersehen werden darf, dass diese Beschränktheit und Böswilligkeit nur der Reflex ihrer eigenen Einsicht und Tapferkeit ist. Nach der ersten Massenkundgebung, die am vorigen Freitag von der Polizei nur in friedlicher Form behelligt wurde, gefielen sich die bürgerlichen Blätter noch in der beliebten Mischung von Drohung und Hohn, aber damit hatte es ein Ende, als am Sonntag die noch gewaltigere Massenkundgebung stattfand, die mit dem hauenden Säbel zu belästigen die Polizei für ihre staatserhaltende Pflicht hielt. Blut ist aber ein ganz besonderer Saft, und schließlich reißt auch die Geduld des Philisters ab, wenn er sich erinnert, dass vor kaum Jahresfrist der patriotische Janhagel sich nächtlicherweile brüllend durch die Straße vor das Palais des Reichskanzlers und vor das Schloss des Kaisers wälzen durfte, beschirmt und beschützt von der Polizei, während gegenwärtig die Arbeitermassen, die am hellen lichten Tage für ihr gutes Recht demonstrieren, mit blutigen Köpfen heimgeschickt werden.

Nun hat das Spotten ein Ende und das Drohen auch. Ein schüchterner Versuch der „Konservativen Korrespondenz", eine Strafverfolgung gegen die „Führer" der Massenkundgebungen „anzuregen", wird sogar von der „Deutschen Tageszeitung" zurückgewiesen, dem Organ der Brotwucherer, das sonst immer dabei war, die Massen niederzukämpfen, die sich nicht gutwillig genug durch den Brotwucher auspowern ließen. Knuten-Oertel ist unheimlicher Ahnung voll und meint, die Mobilmachung des Staatsanwalts gegen die Massenkundgebungen werde nur zu neuen Blamagen führen. Das ist seit Jahren das erste vernünftige Wort, das in diesem braven Blättchen laut geworden ist. So vernehmlich klopft der Druck von außen selbst an die dicksten Schädel. Deshalb kann der Staatsanwalt doch noch mobil gemacht werden und sogar mit dem beabsichtigten Erfolg, aber dann wird die Blamage, die der Knappe des Hungertarifs befürchtet, nur umso größer sein.

Selbstverständlich sind wir weit entfernt davon, den ersten Erfolg zu überschätzen. Wir kennen die ostelbischen Junker viel zu gut, um uns einzubilden, dass sie mit einem einzigen Anlauf über den Haufen gerannt werden könnten. Was aber durch diesen Anlauf schon bewiesen worden ist, das ist die Richtigkeit der Taktik, die mit ihr eingeschlagen wird und die allerdings jetzt schon mehr erreicht hat, als mit allen freisinnigen Reden und Resolutionen erreicht werden kann. Darüber lachen die Junker, denn dass sie sich deshalb keine grauen Haare wachsen zu lassen brauchen, wissen sie aus dem Jahre 1848 und von der preußischen Konfliktszeit her. Jedoch wenn ihnen nicht mehr bloß ein Schwall von Worten, sondern eine Masse von Menschen entgegentritt, die entschlossen das Recht fordert, das sie ihr geraubt haben, so sind sie sich sehr klar darüber, dass es sich hier um eine ganz andere Sache handelt. Denn mit der Macht haben sie auch den Instinkt der Macht, der den freisinnigen Politikern so gänzlich fehlt, dank der Ohnmacht, worin sie von jeher gelebt haben, noch leben und immer leben werden.

Die Arbeiterklasse ist die verachtetste, aber sie ist auch die unentbehrlichste Klasse der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Sie braucht noch nicht gewaltsam an die Ordnung oder vielmehr die Unordnung dieser Gesellschaft zu tasten, um den in ihr herrschenden Klassen das Leben blutsauer zu machen. Sie hat es bisher, in ihrem Kampfe um ein menschenwürdiges Dasein, mehr auf ökonomischem als auf politischem Gebiet getan, wozu unstreitig beigetragen hat, dass ihr im Reiche das allgemeine Wahlrecht sozusagen in den Schoß fiel. Bismarck hat es seinerzeit eingeführt, nicht um der Arbeiterklasse, sondern um der Junkerherrschaft willen, aber so gründlich er sich darin verrechnet hat, so ist unzweifelhaft das Schicksal der besitzenden Klassen bis zu einem gewissen Grade dadurch erleichtert worden, dass die Arbeiterklasse sich im Reiche nicht erst ihr Recht zu erkämpfen brauchte. Diese Probe hat sie nunmehr im preußischen Staate abzulegen, und sie besitzt Kräfte und Mittel genug, selbst eine so hartnäckige und zähe Rasse wie die ostelbischen Junker mürbe zu machen. Und um die Ausdauer und Energie, womit sie diese Kräfte und Mittel ins Spiel zu bringen weiß, brauchen wir nicht zu sorgen.

Mit den Kundgebungen der letzten Tage ist der Stein ins Rollen gekommen, der dem Ungetüm die tönernen Füße zerschmettern wird.

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