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Franz Mehring 19081010 Die Balkankrise

Franz Mehring: Die Balkankrise

10. Oktober 1908

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Erster Band, S. 73-76. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 373-377]

Unvermutet sind die Schatten eines Weltkriegs empor getaucht, und die Pflicht der internationalen Arbeiterklasse, dafür zu sorgen, dass der Weltfrieden erhalten bleibt, eine Pflicht, die keinen Augenblick versäumt werden darf, tritt in dringlichster Form an sie heran. Sie darf ihrer um so weniger vergessen, als die Unfähigkeit der europäischen Diplomatie, den Frieden zu hüten, bei diesem Anlass sich so grell offenbart hat wie nur je.

Man mag sagen, dass sowohl die Annexion Bosniens durch Österreich wie die Proklamierung der bulgarischen Unabhängigkeit an dem tatsächlichen Zustand der Dinge nichts ändere, ihn vielmehr nur bekräftige, dass die Verletzung des Berliner Vertrags von 18781 mehr scheinbar als wirklich sei. Um so unverantwortlicher ist dann gerade, dass dies Spiel mit dem Feuer in einem Augenblick beliebt wird, wo es nur die eine Wirkung haben kann, hemmend in den inneren Gesundungsprozess der Türkei einzugreifen. Es kann wirklich nichts schmeichelhafter für das christliche Europa sein als die Tatsache, dass heute der Weltfrieden abhängt von der besonnenen und überlegenen Einsicht der Ungläubigen.

Eine andere Frage ist, ob die Jungtürken2 die Macht besitzen werden, ihren reaktionären Gegnern die Handhaben zu entwinden, die diesen durch die senile Eitelkeit des österreichischen Kaisers und durch die alberne Großmannssucht des bulgarischen „Zaren" in die Hand gedrückt worden sind. So frivole Herausforderungen sind immerhin etwas anderes als die angeblichen Beleidigungen, die der französische Botschafter Benedetti im Juli 1870 in Ems dem preußischen König zugefügt haben sollte, und wenn die reaktionäre Partei in Konstantinopel sich auf die Taschenspielerkünste eines Bismarck verstehen sollte, was am Ende nicht so schwer wäre, so kann sie der türkischen Regierung das Leben sehr sauer machen.

Vergebens bemüht sich die bürgerliche Presse, den bulgarischen Zarenkönig als Sündenbock vorzuschieben und den großen Sünder Österreich zu entlasten von wegen seiner „Kulturtaten" in Bosnien und der Herzegowina. Der Humbug hat kurze Beine gehabt, denn es untersteht keinem Zweifel mehr, dass Bulgarien und Österreich unter einer Decke gespielt haben. Ja, nach der Rede Aehrenthals in der österreichischen Delegation sind auch Russland und Italien im Einvernehmen gewesen. Dann würde es sich also um eine Aktion der europäischen Diplomatie handeln, die von langer Hand vorbereitet wäre, und die geplante Einberufung eines europäischen Kongresses würde nur den Zweck haben, „Kompensationen" für die an der Orientfrage beteiligten Mächte zu schaffen, das heißt die ganze orientalische Frage aufzurollen und den Weltkrieg um so sicherer vorzubereiten. Dafür spricht der Eifer, den die russische Regierung für den Kongress einsetzt, und das wachsende Widerstreben, das England gegen ihn bekundet. Wie ernst in London die Lage aufgefasst wird, zeigt eine Rede des Handelsministers Winston Churchill, der im englischen Kabinett bisher am eifrigsten für eine Einschränkung der Rüstungen eingetreten war, nun aber meint, dass die augenblickliche Krisis lehre, wie unentbehrlich es sei, die britischen Inseln durch eine Flotte zu schützen, die machtvoll genug sei, von vornherein jeden Angriff unwirksam zu machen.

Das führt sozusagen von selbst auf die für uns Deutsche am Ende wichtigste Frage, welche Rolle die deutsche Diplomatie gegenüber dem drohenden Ungewitter übernommen habe. Im Ausland glaubt man vielfach, sie stehe schürend und treibend hinter dem österreichischen Vorgehen, und die Sache hat ja insofern etwas für sich, als die Welt seit lange gewohnt ist, das offizielle Deutschland an der Spritze zu sehen, wenn es irgendwo gilt, einer Reformbewegung Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Dennoch glauben wir, dass Fürst Bülow sich mit vollem Rechte durch seine Offiziösen gegen die heimtückischen Absichten verwahren lässt, die ihm von ausländischen Blättern unterstellt werden. Er lässt vielmehr verkünden, dass er keine Ahnung von den österreichischen Absichten gehabt habe, aber sie als treuer Bundesgenosse unterstützen werde. Das sieht seiner Politik durchaus ähnlich; aus Dank für die „Sekundantendienste", die ihm die österreichische Diplomatie bei der trübseligen Marokko-Affäre geleistet hat, will er jetzt den „Sekundanten" Österreichs bei dessen orientalischen Plänen spielen. Dass er dabei wieder auf eine Seite gerät, die der deutschen Diplomatie keine Lorbeeren eintragen wird, kümmert ihn augenscheinlich wenig. Sympathien hat sie ja ohnehin nicht mehr in der zivilisierten Welt zu verlieren.

Ihre Interessen und die Interessen der deutschen Nation gehen dabei meilenweit auseinander. Die Nation hatte schon nicht das geringste Interesse an dem marokkanischen Abenteuer, und sie würde sehr schlechte Geschäfte machen, wenn sie zum Dank dafür, dass die österreichische Diplomatie in Algeciras der traurigen Isoliertheit der Bülowschen Politik noch ein Feigenblatt lieh, nun gar die österreichische Zeche im Orient sollte mit bezahlen helfen. Bismarcks geflügeltes Wort von den Knochen des pommerschen Grenadiers, die die orientalische Frage nicht wert sei, gehört zu seinen Geistesblitzen, die dem Philister gar so einleuchtend erscheinen, weil sie gar so wohlfeil sind und ebendeshalb nicht entfernt die Frage erschöpfen, die sie kurzerhand abtun wollen; unter Umständen kann die Entwicklung der orientalischen Frage sehr wohl Lebensinteressen der deutschen Nation berühren, zum Beispiel, wenn sich das Zarentum in Konstantinopel festsetzen wollte. Aber in dem konkreten Falle gibt es schlechterdings kein nationales Interesse, das die Unterstützung Österreichs erheischte.

Es sei denn die „Dankbarkeit" wegen Algeciras, aber darüber wird man nirgends so lächeln wie gerade in der Hofburg, wo man sich über nichts klarer ist als darüber, dass die Dankbarkeit in der Politik nichts zu suchen hat. Man braucht nicht erst in die entfernten Zeiten zurückzugehen, denen das Wort vom Danke des Hauses Österreich seine Entstehung verdankt, aber als im Jahre 1849 der Zar Nikolaus die habsburgische Monarchie vom Untergang rettete, indem er den siegreichen Aufstand der Ungarn niederwarf, erklärte Fürst Schwarzenberg, der leitende Minister in Wien, dass die Welt über Österreichs Undank erstaunen werde, und die österreichische Diplomatie machte wenige Jahre darauf im Krimkrieg3 diese Ankündigung wahr. Dies mag nach Kants kategorischem Imperativ höchst verwerflich sein, allein es ist ja der Ruhm und Stolz der Diplomatie, dass sie über die Biedermanns-Ethik erhaben ist, und nichts erscheint deshalb abgeschmackter, als wenn uns Bülows Offiziöse mit sentimentalen Schrullen über die angeblichen Verpflichtungen Deutschlands gegen den österreichischen Bundesgenossen belästigen.

Indessen wie es die deutsche Diplomatie halten will, das ist am Ende ihre Sache; unsere Sache ist, festzustellen, dass die großen Massen des deutschen Volkes wie überhaupt nicht, so auch in diesem Falle nicht daran denken, der auswärtigen Politik des Reichskanzlers den Steigbügel zu halten. Die Dinge liegen diesmal viel einfacher, als sie sonst in den orientalischen Wirren zu liegen pflegen; alle die komplizierten Fragen, die bei der Emanzipation der Balkanstaaten von der türkischen Oberhoheit aufzutauchen pflegen, spielen nicht mit. Der bulgarisch-österreichische Vorstoß gegen die Türkei, gerade wo sich diese in einer aussichtsreichen Reformbewegung befindet, ist ein Abenteuer, das umso verwerflicher erscheint durch den Gesichtspunkt, der es als harmlos erscheinen lassen soll; wenn es den tatsächlichen Zustand doch nicht ändert, sondern nur eitle Zwecke, aber eine verhängnisvolle Wirkung hat, so muss es vom politischen Standpunkt aus ebenso, ja noch viel schärfer verurteilt werden als vom moralischen, und irgendein Interesse, geschweige denn irgendeine Pflicht, es zu unterstützen, hat die deutsche Nation nicht.

Diese Tatsache unumwunden auszusprechen wird auch dadurch nicht überflüssig, dass die Gefahr eines Weltkriegs vielleicht noch nicht von heute auf morgen droht. In Konstantinopel sträubt man sich mit Vernunft dagegen, in den christlichen Hauptstädten hat man aber andere triftige Gründe, das Schicksal nicht gar so dreist herauszufordern. Diesen Gründen – und nicht etwa der staatsmännischen Einsicht der europäischen Diplomatie – verdankt Europa, dass es seit einem Menschenalter von keinem Kriege verheert worden ist. Heutzutage ist kein Weltkrieg möglich, worin nicht jede Krone, mag sie noch so angestammt und noch so unzweifelhaft vom Tisch des Herrn genommen sein, nicht jeden Tag die Gefahr läuft, wie Glas zu zersplittern, und der Trieb der Selbsterhaltung ist eine sichere Bürgschaft dafür, dass diplomatische Spiele, wie sie noch vor vierzig Jahren zwischen dem Berliner Bonaparte und dem Pariser Bismarck möglich waren, heute nicht mehr möglich sind.

Aber die Dinge selbst haben auch ihre Logik, und das internationale Wettrüsten kann in der bisherigen Weise nicht weitergehen, ohne dass es sich doch einmal in einer furchtbaren Katastrophe entlädt. Für diesen Fall bereit zu sein, haben alle Nationen den dringendsten Anlass, und deshalb muss man solche Dinge, wie die gegenwärtige Balkankrise, rücksichtslos und rührig ausbeuten, um das diplomatische Gaukelspiel in immer größeren Misskredit zu bringen und in den Massen das Bewusstsein zu wecken, dass sie, und sie allein, berufen und fähig sind, über die nationalen Interessen zu entscheiden. Man darf damit nicht warten, bis der Krieg wirklich schon an die Tore pocht, denn dann ist es zu spät. Und gerade die gegenwärtige Balkankrise ist in ihrer frivolen Nichtigkeit besonders geeignet, die Köpfe zu klären, die bisher immer noch von den Dünsten umnebelt gewesen sind, die aus der diplomatischen Hexenküche emporsteigen.

Sollte in der Tat die deutsche Diplomatie den österreichischen Antastungen des Weltfriedens ihre Unterstützung leihen, wie die offiziöse Presse ankündigt, so wird es eine um so ernstere Pflicht der Arbeiterklasse sein, gegen diese Gefährdung des Weltfriedens energischen Einspruch zu erheben. Fürst Bülow sieht es zwar nicht gern, dass die auswärtige Politik in der „Hasenheide" gemacht wird – und wir begreifen diese Abneigung vollkommen –, aber er wäre ein so schlechter Fürstendiener, wie er ein guter Fürstendiener sein will, wenn er nicht in seinem stillen Kämmerlein erwöge, was die „Hasenheide" über Dinge zu sagen hat, bei denen es sich um ihre Knochen handelt.

Mit süffisanten Diplomatenwitzen aus der Rokokozeit lässt sich heute selbst im neudeutschen Reiche keine auswärtige Politik mehr machen.

1 Gemeint ist das am 13. Juli 1878 unterzeichnete Traktat des Berliner Kongresses der sechs Großmächte und der Türkei zur Regelung der russisch-türkischen Streitigkeiten. Es revidierte den am 3. März geschlossenen Friedensvertrag von San Stefano. Hauptergebnisse waren: Unabhängigkeitserklärung Rumäniens, Serbiens und Montenegros; Schaffung Ostrumeliens; Übergabe Bosniens und der Herzegowina an Österreich.

2 Gemeint ist das 1889 in Istanbul gegründete Comité d'Union et de Progrès (Partei „Einheit und Fortschritt"), das als politische Richtung schon seit Anfang der 70er Jahre bestand. Die Jungtürken rekrutierten sich aus Offizieren, Intellektuellen, Beamten und Vertretern vor allem der Industrie- und Handelsbourgeoisie. Seit 1897 wurden die J. verfolgt und emigrierten besonders nach Paris, London und Genf. Nach der Jahrhundertwende gewannen sie großen Einfluss unter den Offizieren der Garnisonen in Mazedonien. Am 3. Juli 1908 begann der Aufstand der Garnison in Resna, der Anfang der Jungtürkischen Revolution. Im Juli 1908 musste der Sultan eine Verfassung annehmen. Nach der Zerschlagung einer Verschwörung der feudalen Reaktion 1909 wurde er entthront; die Monarchie wurde aber beibehalten. Die entscheidenden Probleme – Nationalitätenpolitik und Bodenfrage – wurden auch von den J. nicht gelöst.

3 Krimkrieg – 1853-1856 zwischen Russland und der von England, Frankreich und Sardinien unterstützten Türkei, der mit dem Pariser Frieden – auf dem Pariser Kongress von Vertretern Frankreichs, Englands, Österreichs, Sardiniens, Preußens und der Türkei einerseits und Russlands andererseits – seinen Abschluss fand.

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