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Franz Mehring 19081205 Ein neues Olmütz?

Franz Mehring: Ein neues Olmütz?

5. Dezember 1908

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Erster Band, S. 377-380. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 400-404]

Die Verhandlungen des Reichstags über die konstitutionellen Garantien haben mit einer allgemeinen Enttäuschung geendet, wie nicht anders zu erwarten war. Die Aufforderungen der sozialdemokratischen Redner, endlich einmal energischen Gebrauch zu machen von den Waffen, die dem Reichstag so bequem zur Hand liegen, fanden in den bürgerlichen Parteien kein Echo; das höchste, wozu sich der brave Freisinn aufschwang, war eine lange Schönrednerei des Herrn Naumann, von der Genosse Singer treffend sagte, niemand werde erkennen können, wohinaus sie steuere. Es war die Jeremiade eines tapferen Soldaten, der vor den offenen Türen eines Zeughauses, das von oben bis unten mit Waffen gespickt ist, sich in melancholischen Betrachtungen darüber ergeht, wie er sich gegen unausgesetzte Misshandlungen wehren könne.

Es tut uns leid, sagen zu müssen, aber die Wahrheit darf man doch nicht verschweigen: Dieser Reichstagsmehrheit ist Fürst Bülow als „Staatsmann" immer noch überlegen. Er befolgte nicht wörtlich, aber doch dem Sinne nach das junkerliche Rezept: Nun erst recht nicht; er ließ durch seinen Stellvertreter v. Bethmann Hollweg eine Erklärung abgeben, die nicht gehauen und nicht gestochen, aber mit einem leisen Scheine des Entgegenkommens umhüllt war, was vollkommen genügte, die erregten Gemüter der bürgerlichen Tribunen zu besänftigen. Danach war die Mehrheit des Reichstags nicht einmal zu bewegen, alsbald die Änderung der Geschäftsordnung vorzunehmen, die sie aus eigener Machtvollkommenheit vornehmen konnte, um die Stellung des Hohen Hauses gegenüber der Regierung zu befestigen; die Anträge zur Reform der Geschäftsordnung wurden gemeinsam mit den Anträgen zur Reform der Verfassung auf die lange Bank einer Kommissionsberatung geschoben, von der niemand weiß, wann sie mit ihren Verhandlungen fertig sein wird.

Möglich, vielleicht selbst wahrscheinlich, dass sie schließlich, etwa im Sinne der freisinnigen Anträge, ein Ministerverantwortlichkeitsgesetz vorschlagen wird. Aber wenn man dies Ergebnis noch so hoch einschätzen will, höher noch, als es vermutlich verdienen wird, so hängt es immer noch vom Bundesrat ab, wie er sich dazu stellen will. In dieser Beziehung hat die Erklärung Bethmann Hollwegs alle Türen offen gelassen, und wenn bis dahin die halbe Milliarde neuer Steuern unter Dach und Fach gebracht sein wird, so werden sich staatsmännische Bedenken in Hülle und Fülle einstellen. Die bürgerliche Mehrheit des Reichstags hat nicht die geringste Verpflichtung dafür übernommen, dass sie sich weigern wird, an die so genannte „Reichsfinanzreform" heranzugehen, ehe ihr konstitutionelle Garantien auch nur in dem bescheidenen Sinne der freisinnigen Anträge bewilligt worden sind.

So hat sie sich vom Reichskanzler trotz alledem matt setzen lassen, und das Gefühl allgemeiner Enttäuschung, das diese Debatten hinterlassen haben, ist begreiflich genug. Allein es ist sehr wenig damit getan, über diesen elenden Reichstag zu räsonieren, dem in so erbarmungswürdiger und historisch beinahe beispielloser Weise der Wille zur Macht fehlte. Was in aller Welt berechtigt irgendjemanden dazu, eine konsequente und kräftige Politik von den Erkorenen der Hottentottenwahlen zu erwarten oder gar zu beanspruchen? Sie werden eher durch das engste Mauseloch kriechen, ehe sie es auf einen ernsten Konflikt mit der Regierung ankommen lassen. Und solange dem so ist, hat eine Regierung, die sich außerhalb des eigenen Hauses nicht sehen lassen kann, ohne ausgelacht zu werden, immer noch leichtes Spiel innerhalb des eigenen Hauses. Die Erklärung der Regierung war nicht gehauen und nicht gestochen, aber die Regierung weiß wenigstens, wohinaus sie will. Die Rede des Herrn Naumann war sowohl gehauen wie gestochen, aber der Sprecher des Freisinns weiß nicht, was er will. Dies ist der Unterschied, und er ist freilich zum Weinen und Wehklagen.

Worauf es ankommt, das ist – um im preußisch-patriotischen Bilde zu bleiben – die Wiederbelebung der friderizianischen Taktik. Der alte Fritz pflegte von seinen Söldnern zu sagen: An ihr Ehrgefühl zu appellieren ist trostlose Zeitverschwendung, sie können nur ins Feuer gebracht werden, wenn sie ihre Offiziere mehr fürchten als den Feind. So ist Hopfen und Malz verloren, wenn man an das politische Ehrgefühl der bürgerlichen Reichstagsmehrheit appelliert; sie ist nur ins Feuer zu bringen, wenn sie ihre Wähler mehr fürchtet als die Regierung. Das ist der springende Punkt. Solange die Erkorenen der Hottentottenwahlen noch die Möglichkeit haben, ihre Wähler zu nasführen, werden sie immer geneigt sein, sich mit der Regierung zu vertragen, die sich nicht nasführen lässt. Die Ehre und die Wohlfahrt der Nation sind ihnen dann nur ein tönendes Erz und eine klingende Schelle; sie klammern sich dann mit Händen und Füßen an ihre Mandatsherrlichkeit, und das wird nicht anders werden, bis ihre Wähler sie in den Kampf zurücktreiben, wie – um abermals im preußisch-patriotischen Bilde zu bleiben – der alte Fritz seine weichenden Grenadiere bei Kolin mit dem Rufe: Ihr Racker, wollt ihr denn ewig leben?

Um überhaupt davon zu reden, so sind alle Parlamente ohne den Druck von außen nicht einen Schuss Pulver wert. Das ausgezeichnete Werk des Genossen Cunow, das eben erschienen ist, kommt gerade zur rechten Zeit, um zu zeigen, dass auch die Parlamente der großen französischen Revolution, die immerhin wie Kolosse über die heutigen Parlamente emporragen, stets geneigt waren, in die jämmerlichste Halbheit und Schwäche zu verfallen, wenn ihnen nicht der Druck von außen aufgeholfen hätte. Parlamente geraten nur dann in Flammen, wenn der Boden, worauf sie stehen, Feuer speit. Das ist nicht sowohl ihre Schuld als ihr Schicksal, und es gibt keine Sünde eines Parlamentes, die nicht in letzter Instanz seine Wähler zu verantworten hätten.

Eine bürgerliche und sonst sehr loyale Zeitschrift meinte dieser Tage, seit Olmütz sei keine solche Schmach über Deutschland gekommen wie der gegenwärtige Zusammenbruch des persönlichen Regiments. Das ist nicht nur im allgemeinen Sinne richtig, sondern auch in dem besonderen Sinne, dass der biedere deutsche Bürger aus seinem sanften Philisterschlummer seit Olmütz nie so unsanft aufgerüttelt worden ist wie gegenwärtig. Der damalige Ministerpräsident Manteuffel befolgte dieselbe Politik wie der heutige Reichskanzler. Er machte dem erregten Spießbürger das Zugeständnis, das Heer zu mobilisieren, was immerhin doch ein größeres Zugeständnis war als die Erklärung des Herrn v. Bethmann Hollweg, aber nachdem er dem tobenden Walfisch diese Tonne zum Spielen hingeworfen hatte, spazierte er wohlgemut durch das Joch von Olmütz, und der biedere Philister legte sich wohlgemut wieder aufs Ohr.

Soll und wird es diesmal ebenso kommen? Sicherlich, wenn es nach den Absichten der Regierung und des Reichstags geht. Aber noch sind wir nicht so weit; gerade die allgemeine Enttäuschung, die die Reichstagsverhandlungen über die konstitutionellen Garantien hervorgerufen haben, ist ein Beweis dafür, dass die Wähler sich doch noch nicht in hergebrachter Demut über den Löffel barbieren lassen wollen. Zudem hält sie die neue Steuerlast wach, die wie eine drohende Gewitterwolke am Horizont steht. Bleiben sie munter, so ist bei alledem dadurch noch nichts verloren, dass der deutsche Reichstag bewiesen hat, wie sehr er das Schicksal aller Parlamente teilt und ein wie schwachmütiger Geselle er ist, wenn er auf eigenen Füßen marschieren soll.

Nur dürfen sich die Wähler nicht daran genügen lassen, auf den Reichstag zu schelten und tapfer die Faust in der Tasche zu ballen. Das haben ihre Vorfahren in den Tagen von Olmütz reichlich genug getan, ohne dass dadurch irgendetwas an dem Stande der Dinge geändert worden wäre. Sie müssen einen Willen haben und ihren Gewählten klarzumachen verstehen, dass dieser Wille befolgt werden muss. Das ist nicht schwerer getan als gesagt. Erklären die bürgerlichen Wähler in ihren Blättern und in ihren Versammlungen, dass sie keinen Abgeordneten wieder wählen werden, der auch nur einen Pfennig neuer Steuern bewilligt, ehe konstitutionelle Garantien gegen die Wiederkehr des persönlichen Regiments geschaffen worden sind, dann ist ihre Sache durchgesetzt, und viel gründlicher durchgesetzt, als wenn sich Bundesrat und Reichstag auf ein noch so schönes Ministerverantwortlichkeitsgesetz einigen.

Denn der Einwand, dass mit solchen papierenen Bürgschaften an und für sich sehr wenig erreicht sei, hat seinen guten Sinn, gleichviel in welcher Absicht er vorgebracht werden mag. Bayern, Sachsen und andere deutsche Staaten sind mit ihren Ministerverantwortlichkeitsgesetzen nicht besser daran als der preußische Staat und das Deutsche Reich ohne solch Gesetz. Die ostelbischen Junker sind sehr anspruchsvolle Leute und wollen das Rohr des Scheinkonstitutionalismus, worin sie ihre Pfeifen schneiden, nicht einmal scheinbar beeinträchtigt sehen, aber selbst unter ihnen wird hier und da eine Stimme in dem Sinne laut, dass ein papierenes Ministerverantwortlichkeitsgesetz ihnen kein Leid antun, aber der bequemste Weg sein würde, in leidlicher Manier über den europäischen Skandal hinwegzukommen, den der Zusammenbruch des persönlichen Regiments verursacht hat. Und ein Gesetz, das in holdem Einvernehmen zwischen Regierung und Reichstag über die Ministerverantwortlichkeit zurechtgemacht würde, mit kleinen Zugeständnissen der Regierung und mit großen Zugeständnissen des Reichstags, würde gewiss keine besondere Errungenschaft sein.

Ganz anders, wenn es erkämpft, wenn es der Regierung durch den Reichstag abgerungen wird. Dann ist es nicht mehr ein papierener Schein, sondern eine reelle Wirklichkeit; es soll dann nicht neue Macht schaffen, sondern nur neue Macht verbriefen. Es ist wie im Kriege, wo alle pergamentenen Rechtsansprüche, mögen sie noch so unanfechtbar sein, nicht so viel bedeuten wie der Sieg in der Schlacht. Hätte der Reichstag, sofort nach der Veröffentlichung der Enthüllungen im „Daily Telegraph", den Reichskanzler von seinem Platze vertrieben, so wäre das ungleich mehr wert gewesen als ein papierenes Ministerverantwortlichkeitsgesetz, aber wenn jetzt die bürgerliche Reichstagsmehrheit durch die Wähler gezwungen wird, keinen Pfennig neuer Steuern zu bewilligen, ehe die Ministerverantwortlichkeit bewilligt worden ist, so handelt es sich nicht bloß um ein papierenes Gesetz, sondern um einen Beweis reeller Macht, durch die allein das persönliche Regiment gebändigt werden kann.

So liegt es in der Hand der Wähler, zu entscheiden, ob die gegenwärtige Krisis sich zu einem neuen Olmütz auswachsen soll, bei dem die nationale Schande dem unverbesserlichen Hochmut der Unterdrücker nur zu einem neuen Triumph über die feigherzige Geduld der Unterdrückten verhilft.

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