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Franz Mehring 19081031 Eine letzte Gelegenheit

Franz Mehring: Eine letzte Gelegenheit

31. Oktober 1908

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Erster Band, S. 177-180. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 382-386]

Seit dem Immediatbericht, den Bismarck vor gerade zwanzig Jahren, nachdem Geffcken Bruchstücke aus den Tagebüchern des Kaisers Friedrich veröffentlicht hatte, an den gegenwärtigen Kaiser richtete, um dessen Vater als halben Landesverräter zu denunzieren, hat die Monarchie in Deutschland nicht wieder einen so erschütternden Stoß erhalten wie durch die Veröffentlichung eines englischen Blattes über die Unterhaltung, die ein englischer Diplomat mit Wilhelm II. gepflogen haben will.

Die angekündigte amtliche Kundgebung über den Inhalt dieser Unterhaltung ist bis heute noch nicht erfolgt, und es muss deshalb abgewartet werden, ob die Äußerungen des Kaisers in der Tat so gefallen sind, wie der englische Diplomat angibt. Kein offizielles oder offiziöses Dementi vermag aber mehr die Wirkung des furchtbaren Schlages aufzuheben, der die deutsche Diplomatie betroffen hat. Sie steht heute in demselben Rufe, den sie in den Tagen von Jena, in den Tagen der Haugwitz und Lucchesini genoss, und wenn aus Gründen der Billigkeit einstweilen unentschieden bleiben muss, ob der Kaiser das gesagt hat, was er gesagt haben soll, so fällt aus Gründen der Politik viel schwerer ins Gewicht, dass weder im Ausland noch im Inland irgendein Politiker daran zweifelt, dass der Kaiser so gesprochen haben kann. Diese Kennzeichnung der Politik, die von dem offiziellen Deutschland betrieben wird, verlöre nichts von ihrer Wucht, selbst wenn sich herausstellen sollte, dass die Unterhaltung des Kaisers mit dem englischen Diplomaten überhaupt nicht stattgefunden hätte, sondern von einem Todfeind des Kaisers mit raffinierter Bosheit erfunden worden wäre.

Die Einzelheiten der kaiserlichen Äußerungen sind in der Tagespresse so eingehend mitgeteilt und erörtert worden, dass sie hier nicht nochmals aufgezählt zu werden brauchen. Um seine freundliche und friedliche Gesinnung gegenüber England zu bekunden, hat der Kaiser angeblich Tatsachen mitgeteilt, die die deutsche Diplomatie in den Ruf äußerster Treulosigkeit und Unzuverlässigkeit bringen müssen, wobei das Mittel dem Zwecke so vortrefflich angepasst war, dass die englische Presse die dargebotene Hand der Versöhnung in einer Weise zurückweist, die der Kaiser, der schon die früheren Zweifel dieser Presse an seiner Freundschaft für England als Beleidigung empfunden hat, als schwerste Ehrenkränkung empfinden wird. Am höflichsten ist noch jene englische Zeitung, die an den freundlichen Gesinnungen des Kaisers nicht zweifeln will, aber hinzufügt, auf diese Gesinnungen käme es nicht an, sondern auf die Gesinnungen des deutschen Volkes, und von dessen Gesinnungen sage der Kaiser ja selbst, dass sie gegen England feindselig seien.

Diese höflichste Kritik ist nun freilich auch die treffendste Kritik. Von allem Unglaublichen, das der Kaiser gesagt haben soll, ist in jedem Sinne das Unglaublichste seiner Behauptung, die mittleren und unteren Schichten der deutschen Nation hegten feindselige Gesinnungen gegen England. Wir zweifeln selbstverständlich nicht daran, dass der Kaiser diese Tatsache für richtig hält, aber es würde dann im monarchischen Interesse liegen, dass die Höflinge, die ihm diese Tatsache als richtig mitgeteilt haben, schleunigst den ersten besten Galgen zierten. Insbesondere die deutsche Arbeiterklasse, die ja wohl unter den „unteren Schichten des Volkes" verstanden sein soll, hegt durchaus freundschaftliche Gefühle für England, sie verwirft einen Krieg zwischen Deutschland und England als das ärgste Verbrechen an der Zivilisation, worin sie mit der englischen Arbeiterklasse durchaus einig ist. Die herrschenden Klassen in England, auch soweit sie Deutschland hassen, sind aber viel zu nüchterne und praktische Politiker, als dass sie in dem Einvernehmen der deutschen und englischen Arbeiter nicht die sicherste Bürgschaft des Friedens sehen sollten, und wenn der deutsche Kaiser ihnen nun die feindselige Gesinnung des deutschen Proletariats anzeigt, aber dafür seine freundschaftliche Gesinnung hervorhebt, so begreift man, wenn sie ihm antworten: Um so schlimmer, wenn uns diejenigen Schichten der deutschen Nation hassen, auf die es ankommt, denn dann müssen wir ja erst recht gegen Deutschland rüsten.

Unter allen untauglichen Mitteln, die der Kaiser angeblich angewandt, um England zu versöhnen, war dies das weitaus untauglichste; es zeigt in höchst betrübender Weise – immer vorausgesetzt, dass die Äußerungen des Kaisers so getan worden sind, wie sie der anonyme englische Diplomat berichtet –, wie sehr der Kaiser alles Augenmaß verloren hat für die tatsächlichen Verhältnisse und Vorkommnisse in dem großen Lande, dessen Geschicke er nach seinem eigenherrlichen Willen kraft eines göttlichen Rechtes zu leiten beansprucht. Allein so betrübend die Tatsache sein mag, so sind wir doch weit entfernt davon, in das Geschrei des Schmerzes und der Wut einzustimmen, das die bürgerliche Presse darüber anstimmt, mit der einzigen Ausnahme der blockfreisinnigen Presse, die, da der Ordenstag herannaht, wo am Ende wieder ein paar rote Vöglein vierter Güte abfallen können, sich in würdevolles Schweigen zu hüllen für gut befindet. In gewisser Hinsicht haben wir freilich auch unseren Spaß an dem Entrüstungssturm, der durch die bürgerliche Presse fegt, indem wir uns die verdutzten Gesichter der Staatsanwälte vorstellen, denen urplötzlich ihre Lieblingswaffe des Majestätsbeleidigungsparagraphen aus der Hand gewunden wird, aber im allgemeinen lässt uns der ganze Spektakel überaus kalt, und wir begnügen uns, den Spektakelmachern zu sagen: Du hast's gewollt, Georges Dandin!

Denn an der gänzlichen Entfremdung des Kaisers von dem wirklichen Leben der Nation tragen gerade dieselben Leute die größte, ja die alleinige Schuld, die jetzt über die Früchte dieser Entfremdung nicht genug zu jammern wissen. Ohne Zweifel ist Wilhelm II. ein begabter und fleißiger Mann, der den Pflichten seines Berufs nach bestem Wissen und Gewissen gerecht zu werden sucht; er ist darin nicht weniger, aber auch nicht mehr als Tausende und Hunderttausende von anderen begabten und fleißigen Männern. Allein mit diesem Mann, der in keiner Weise ein ehrenwertes Mittelmaß überschreitet, ist nunmehr eine lange Reihe von Jahren ein Götzendienst getrieben worden, wie ihn gleich schmählich und widerwärtig selbst das kaiserliche Rom, ja nicht einmal das kaiserliche Byzanz gesehen hat. Wahrhaftig, die Wilden, die einen Holzblock zu ihrem Götzen machen und ihn dann prügeln, weil er nicht zaubern kann, sind in ihrer waldursprünglichen Naivität entschuldbarer als diese Zeitungen, die jahrzehntelang den Kaiser als ein unvergleichliches Genie umschmeichelt haben, obgleich die Bildung, womit sie einher prunken, ihnen sagen musste, dass eine so systematische Kriecherei vor einem Menschen von Fleisch und Blut, mag er noch so gut geartet sein, eben jene Entfremdung von der rauen Wirklichkeit zeitigen muss, deren Folgen sie nun so sehr beklagen.

Dem Großoheim des Kaisers hat einmal ein furchtloser Mann gesagt: Es ist das Unglück der Könige, dass sie die Wahrheit nicht hören wollen. Friedrich Wilhelm IV. spann sich allerdings geflissentlich in romantische Nebel, um die Wahrheit nicht zu hören, der gegenwärtige Kaiser will als ein moderner Mensch die Wahrheit hören, aber sein Unglück ist, dass er auf keinen Menschen stößt, der ihm die Wahrheit zu sagen wagt. Wir sprechen nicht von den Höflingen; diese Sippe ist immer und überall dieselbe. Andere aber und höhere Ansprüche muss man an die Minister stellen, und mit ihnen ist Wilhelm II. so unglücklich daran wie keiner seiner Vorgänger. Selbst Manteuffel hat als Leiter der preußischen Politik gegen Friedrich Wilhelm IV. ein steiferes Rückgrat gehabt als Bülow gegen Wilhelm II. In der preußisch-deutschen Geschichte ist nie ein Minister auf so häufige und für einen Mann so leicht zu bestehende Proben gestellt worden, ob er seine politische Würde höher stellt als sein politisches Amt, aber einstweilen hat die Welt nur die Dauerhaftigkeit an dem ministeriellen Dasein des Fürsten Bülow zu bewundern gehabt.

Es lohnt sich nicht, darüber zu rätseln, ob und wie er diese neueste Probe bestehen wird. Denn im letzten Grunde ist auch Fürst Bülow nicht der Schuldige. Über seinen Schatten kann er sowenig springen wie sonst ein Mensch, und wenn er den Reichstag in Fragen der auswärtigen Politik mit feuilletonistischen Schaumschlägereien abspeist, so kann er sich darauf berufen: Ein Schelm gibt mehr als er hat. Aber dass der Reichstag sich mit solchen Schaumschlägereien abspeisen lässt in Fragen, für deren richtige Behandlung das Volk mit seinem Gut und Blut aufkommen muss, das ist der eigentliche Grund des Übels, und viel vernünftiger als das heimliche oder laute Räsonieren über den Kaiser wäre die Aufforderung an den Reichstag, die günstige, in solcher Weise niemals wiederkehrende Gelegenheit zu benutzen und sich endlich den entscheidenden Einfluss auf die äußere und die innere Politik zu sichern, der weder dem Kaiser noch dem Kanzler, sondern der Volksvertretung gebührt. Sicherlich ist auch das parlamentarische Regime eine sehr menschliche Einrichtung, und wir am wenigsten sind seine unbedingten Bewunderer, aber alles was recht ist: Dinge, wie wir sie eben jetzt erleben, wären einfach unmöglich, wenn ein Parlament, und sei es auch der deutsche Reichstag in seiner gegenwärtigen Verfassung, die Zügel der Politik in der Hand hätte.

So ist es eine letzte, vielleicht die letzte Gelegenheit, die dem deutschen Parlamentarismus ermöglicht, ein Stück wirkliche Macht zu erobern. Auf der einen Seite ein Tiefstand der deutschen Diplomatie, wie er sich nicht einmal mit den Brandenburg und Manteuffel von Olmütz, sondern nur mit den Haugwitz und Lucchesini von Jena vergleichen lässt, auf der anderen Seite die Forderung, dem Volke jährlich eine halbe Milliarde neuer Steuern aufzuerlegen, um dieser Diplomatie neue ungeheure Machtmittel in die Hand zu geben. Wir möchten dem Reichstag nicht mehr zumuten, als sein schwacher Leib vertragen kann, aber wenn er nicht den Bankrott durch den Bankrott zu heilen weiß, wenn er die Bewilligung neuer Steuern nicht mindestens davon abhängig macht, dass ihm das ausschließliche Recht zugebilligt wird, über Krieg und Frieden zu entscheiden, so wird er ein Bild des Jammers sein, das selbst in der Geschichte des bürgerlichen Parlamentarismus nicht seinesgleichen finden mag.

Ob sich der Reichstag zu einer halbwegs mannhaften Haltung aufraffen oder nach einigem unschädlichen Räsonieren wieder durch schöne Redensarten des Fürsten Bülow beschwichtigen lassen wird, das müssen wir natürlich dahingestellt sein lassen. Von unserem Parteistandpunkt aus können wir uns mit dem einen abfinden und mit dem anderen auch. Den Wind hat kein Äolus in seinem Schlauche, der nicht so oder so der revolutionären Entwicklung der Arbeiterklasse etwas Gutes zu bliese. Nur den dringenden Wunsch haben wir, dass der gegenwärtige Lärm der bürgerlichen Presse nirgends irrtümlich aufgefasst wird. Bleibt es bei den offenen oder versteckten Malicen an die Adresse des Kaisers, und wenn sie gleich zentnerweise produziert werden, so ist damit nicht das Geringste an der Lage der Dinge geändert. Kommt es zu nicht mehr, so geht es in immer schnellerem Galopp hinab nach Jena; will man die rasende Fahrt hemmen, so muss man schon dem Wagen des Phaethon die Speichen zerschlagen.

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