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Franz Mehring 19081024 Epigonen

Franz Mehring: Epigonen

24. Oktober 1908

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Erster Band, S. 145-148. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 378-381]

Unter den Geschossen, die in den Kämpfen der Gegenwart gern gebraucht werden, steht in erster Reihe der Vorwurf des Epigonentums. Am häufigsten wird er gegen diejenigen Historiker, Ökonomen und Politiker gerichtet, die auf den Grundlagen, die Karl Marx gelegt hat, weiterzubauen bemüht sind, und nicht nur von Gegnern, die es nicht besser wissen und es nicht einmal besser wissen wollten, wenn sie es besser wissen würden, sondern auch aus der Mitte der Partei heraus, deren „Massen" neuerdings beschworen worden sind, sich gegen die „Marx-Epigonen" zu erheben.

Uns mit dem konkreten Falle näher zu befassen, haben wir an dieser Stelle keinen Anlass. Aber es lohnt sich wohl, einmal die Frage des Epigonentums näher zu beleuchten. Sollen die „Massen" sich gegen die „Marx-Epigonen" empören, so müssen sie doch vor allem wissen, woran sie die „Marx-Epigonen" erkennen können. Sonst würden sie ja nur aufgefordert werden, sich gegen irgendwelche Persönlichkeiten zu wenden, die ihnen als „Marx-Epigonen" denunziert werden, und wir sind weit entfernt, bei denjenigen Parteigenossen, die aus heißem Drange, die Partei zu retten, den Heerruf gegen die „Marx-Epigonen" erschallen lassen, diese demagogische Methode vorauszusetzen. Suchen wir also zu ergründen, was sie Sachliches damit gemeint haben können.

Epigonen heißt auf deutsch Nachgeborene, und in diesem allgemeinen Sinne hat es in der Geschichte der Wissenschaft immer nur Epigonen gegeben. Schon die ältesten griechischen Philosophen, mit denen diese Geschichte für unsere wissenschaftliche Erkenntnis beginnt, waren die Epigonen ägyptischer, persischer oder irgendwelcher sonstigen orientalischen Weisheit. Solche Epigonen sind also alle Männer der Wissenschaft gewesen, auch die genialsten und größten. Kein einzelner vermag sich von dem geistigen Erbe der Vergangenheit loszusagen. Das mag eine Schranke der menschlichen Vollkommenheit sein, wie Goethe sagt: Weh dir, dass du ein Enkel bist! Aber derselbe Goethe hat noch drastischer gesagt, wohin man kommt, wenn man über diese Schranke hinaus will, in seinem Epigramm:

Ein Quidam sagt: „Ich bin von keiner Schule!

Kein Meister lebt, mit dem ich buhle;

Auch bin ich weit davon entfernt,

Dass ich von Toten was gelernt."

Das heißt, wenn ich ihn recht verstand:

Ich bin ein Narr auf eigne Hand."

Nun wird man uns einwenden, das sei ein Spiel mit Worten; in diesem allgemeinen Sinn erhebe niemand gegen niemanden den Vorwurf des Epigonentums. Epigonen in tadelnswertem Sinne seien eben nur solche Leute, die ohne die Fähigkeit selbständigen Schaffens immer nur die Worte der Meister wiederzukäuen wüssten, ohne deren Geist zu verstehen oder genauer ohne diesen Geist im Sinne der fortschreitenden historischen Entwicklung umzubilden. Marx sei ja undenkbar ohne Hegel und ohne Ricardo, allein deshalb denke niemand daran, ihn einen Epigonen Hegels und Ricardos zu nennen. Aber es habe doch Leute genug gegeben, die eben nur die Worte Hegels und Ricardos nachgebetet hätten und Epigonen im schlimmsten Sinne des Wortes gewesen seien.

Dies zu bestreiten, sind wir weit entfernt. Die große Masse der Hegelianer, die in den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Welt mit dem Schall ihrer Namen erfüllten, ist heute mit Recht vergessen und verschollen; geblieben sind nur die Namen der Männer, die die Philosophie Hegels gemäß der fortschreitenden historischen Entwicklung umzugestalten verstanden, etwa – von Marx und Engels ganz abgesehen – David Strauß und Bruno Bauer auf theologischem, Vischer auf ästhetischem, Lassalle auf juristischem Gebiet. Ebenso wie bei Hegel liegt die Sache bei Ricardo und sogar noch schlimmer, denn der Ricardo der deutschen Freihändler, die in den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Welt mit dem Schall ihrer Namen erfüllten, war schon ein sehr verfälschter Ricardo, verschandelt durch die praktischen Interessen der englischen (Cobden), der französischen (Bastiat) und endlich der deutschen Bourgeoisie (Prince-Smith und Konsorten). Die große Masse dieser Epigonen ist denn auch mit Recht vergessen und verschollen, während die Männer, die die fruchtbaren Keime Ricardos zu entwickeln verstanden haben, also etwa – von Marx und Engels wieder abgesehen – Mill, Thünen und Rodbertus, heute noch mit Ehren genannt werden.

Um nun aber auf die „Marx-Epigonen" zu kommen, so ist es um sie etwas anders bestellt als um die Epigonen Hegels und Ricardos. Hegel und Ricardo wollten, jeder in seiner Art und jeder auf seinem Gebiet, absolute Systeme aufgestellt und ewige Gesetze entdeckt haben. Mit solchen Ansprüchen macht die historische Entwicklung gewöhnlich kurzen Prozess und scheidet dadurch sehr schnell ihre ersten Schüler und ihre unechten Epigonen. Marx jedoch beansprucht nur, eine wissenschaftliche Methode gefunden zu haben, die von vornherein allem absoluten System und allen ewigen Gesetzen den Kehraus tanzte. „Marx-Epigonen" in dem Sinne, wie es Epigonen Hegels und Ricardos gegeben hat, kann es also gar nicht geben; wer die Worte dieses Meisters einfach wiederholen, wer die von ihm durch seine wissenschaftliche Methode gewonnenen Resultate als für immer unanfechtbare Sätze verteidigen wollte, der würde mit Marx überhaupt nichts zu tun haben, der würde ihn nicht einmal nachbeten, sondern einfach verleugnen.

Aber nun kann eine wissenschaftliche Methode auch als unwissenschaftliche Schablone gehandhabt werden, eine Gefahr, vor der namentlich Engels oft genug gewarnt hat, und in diesem Sinne mag es auch „Marx-Epigonen" geben. Jedoch wenn es sie geben sollte, so sind sie nicht durch dieses oder jenes Schlagwort, sondern nur durch den „Beweis des Geistes und der Kraft" zu beseitigen. Man widerlegt sie, indem man durch eine richtigere Anwendung der Methode bessere Ergebnisse schafft oder indem man der marxistischen Methode überhaupt eine richtigere Methode entgegenstellt. Wenn zum Beispiel ein „Marx-Epigone" ein Werk über die Agrarfrage schreibt und ein Gegner der „Marx-Epigonen" ein Werk über dieselbe Frage veröffentlicht, so ist dagegen durchaus nichts einzuwenden; im Gegenteil ist dies der richtige Weg, die wissenschaftliche Methode, die Marx entwickelt hat, zu widerlegen, wenn sie falsch oder zu bestätigen, wenn sie richtig ist.

Allein auf diesen Weg begeben sich die Gegner der „Marx-Epigonen" nur in seltenen Ausnahmefällen; gemeiniglich begnügen sie sich mit allerlei Schlagworten oder im günstigsten Falle mit theoretischen Haarspaltereien über die Methode, womit schlechterdings gar nichts geleistet worden ist oder je geleistet werden kann. Auch dieser Pudding kann nur durch Essen erprobt werden. Man kann nicht ohne einen gewissen Ingrimm daran denken, wie viel Kraft und Zeit seit zehn Jahren an diese nutzlosen Diskussionen drüben gewandt worden ist und hüben gewandt werden musste, wie viel Kraft und Zeit, die tausendmal besser verwandt worden wäre, praktische Proben auf die wissenschaftliche Methode von Marx zu machen. Alle diejenigen, die solche praktische Proben zu machen bemüht sind, und sei es mit den bescheidensten Kräften und den bescheidensten Erfolgen, haften nicht an den Worten des Meisters, sondern handeln in seinem Geiste, während diejenigen, die sie deshalb „Marx-Epigonen" schelten, selbst nur Epigonen im unerquicklichsten Sinne des Wortes sind, unerfreulichere Epigonen sogar, als die große Masse der deutschen Hegelianer und die große Masse der deutschen Freihändler gewesen ist.

Nehmen wir einmal die beliebten Schlagworte: Zurück auf Kant! und Zurück auf Lange! Kants Ethik war völlig zugeschnitten auf die kleinbürgerlichen Zustände, in denen er lebte; von den sittlichen Konflikten, wie sie die Klassengegensätze der großindustriellen Gesellschaft jeden Tag erzeugen, hatte er nicht einmal die blasseste Ahnung und konnte sie auch gar nicht haben. Auf seine Ethik zurückgehen heißt die Glieder eines Riesen mit den verschlissenen Fetzen eines Kinderkleides bedecken wollen, heißt auf Worte eines Meisters schwören, die längst ihren historischen Sinn verloren haben, heißt somit das trostloseste Epigonentum bekunden.

Mit den Epigonen Langes steht es nicht anders. Wir schätzen ihn hoch als ein Kind seiner Zeit; er war sicherlich ein ehrlicher Mann und ein aufrichtiger Freund der Arbeiterklasse. Aber über seine wissenschaftliche Bedeutung darf man sich deshalb nicht täuschen. Er kannte das „Kapital" von Marx, also das klassische Meisterwerk des historischen Materialismus, sehr genau, und doch hat er in seinen zwei umfangreichen Bänden über die Geschichte des Materialismus die historisch-materialistische Methode nicht mit einer Silbe erwähnt; er hat sie nicht nur nicht begriffen, er hat sie nicht einmal gesehen, so nahe er sie berührte. Auf Lange zurückgehen heißt deshalb nichts anderes, als die wissenschaftliche Methode von Marx überhaupt aus der historischen Entwicklung ausschalten, und das ist denn freilich der Kernpunkt des ganzen Lärmes, der über die „Marx-Epigonen" erhoben wird.

Es liegt uns durchaus fern, für diese Übeltäter eine Lanze zu brechen; „Die Neue Zeit" wäre auch der ungeeignetste Platz dafür. Haben sie gesündigt, so vernichte man sie. Aber man vernichte sie durch die Waffen, die auf wissenschaftlichem Gebiet allein gelten: durch bessere Resultate oder durch bessere Methoden. Solange das nicht geschieht, so lange werden die „Massen" mit den „Marx-Epigonen" allerdings immer noch besser fahren als mit den Epigonen irgendwelcher bürgerlicher Denker, die der mächtige Wellenschlag des proletarischen Klassenkampfes längst auf den Strand geworfen hat.

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