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Franz Mehring 19080125 Taktisches zur Blockpolitik

Franz Mehring: Taktisches zur Blockpolitik

25. Januar 1908

[Die Neue Zeit, 26. Jg. 1907/08, Erster Band, S. 605-608. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 331-334]

Die Interpellation, die die sozialdemokratische Fraktion des Reichstags wegen der Stellung des Reichskanzlers zur preußischen Wahlrechtsfrage eingebracht hatte, ist in der schnöden Weise beantwortet worden, die von Bülow erwartet werden musste. Er verschanzte sich hinter formale Einwände, die er nur mit „wohlmeinenden Warnungen" an die entrechteten Massen und sonstigem sinnlosen Gerede über das Wohlwollen verzierte, das die Regierung für diejenigen Volksklassen hege, deren ebenso bescheidene wie berechtigte Forderungen sie nicht müde wird zu verhöhnen.

In dieselbe Kerbe hieben dann die Redner der bürgerlichen Parteien, mit Ausnahme des Zentrums und der Polen, die sich darauf beschränkten, eine mehr oder weniger platonische Erklärung zugunsten der preußischen Wahlrechtsreform abzugeben, ohne sich mit der Denunziation der Massenkundgebungen zu beflecken: die einen, wie der Konservative Kreth, unter unflätigem Geschimpfe auf die Sozialdemokratie, die anderen, wie die freisinnigen Schwätzer, unter heuchlerischem Augenverdrehen über die schroffe Ablehnung jeder preußischen Wahlrechtsreform durch Bülow, aber sich ihm sonst demütig zu Füßen werfend, mit dem „ganzen und vollen", mit dem „unentwegten" Bekenntnis: Herr, dein Wille geschehe! Die freisinnigen Fraktionen waren denn auch – mit vier oder fünf Ausnahmen, zu denen weder Herr Träger noch Herr Schräder noch Herr v. Payer gehörten – unanständig genug, für den Schluss der Debatte zu stimmen, der den sozialdemokratischen Rednern die Möglichkeit abschnitt, auf die verleumderischen Angriffe des Kreth zu antworten.

Kann man sich aber darüber wundern, nachdem die freisinnigen Patrioten ein paar Tage vorher beim Ordensfest die ersten Früchte ihrer Blockpolitik eingeheimst hatten und mit preußischen Orden dekoriert worden waren? Freilich nicht mit dem Schwarzen Adler – denn mit dem Spielhöllenmann von Monako, auf dessen untadeliger Brust dieser Vogel horstet, können sie sich doch nicht messen –, aber wenigstens mit dem Roten Adler vierter Güte, dem kein preußischer Kanzleirat zu entgehen vermag. Wohlfeiler haben sich nie Verräter bezahlen lassen als diese freisinnigen Schelme, auch die Nationalliberalen der siebziger Jahre nicht, die sich für ihre Opferung der liberalen Grundsätze wenigstens anständige Trinkgelder ausbedangen.

Aber verdient haben die Gyssling, die Mugdan, die Wiemer ihre roten Vögel; das muss ihnen auch unser vaterlandsloser Neid lassen. Herr Mugdan darf sogar mit seinem ganzen Pathos erklären: Was? Es soll ein Kanzleiratsvogel sein, der in meinem christlich-germanischen Knopfloch schaukelt? Es ist vielmehr ein historischer Vogel. Ja, freilich ist er das. Ein historischer Vogel, wie jener Rote Adler dritter Güte, den im Jahre 1816 der Denunziant Schmalz dafür bekam, dass er den Arndt und Niebuhr und Schleiermacher nachgelogen hatte, sie führten pöbelhafte Schmähungen gegen die Regierung und predigten Mord, Plünderung und Notzucht. Nur insofern besteht ein Unterschied, dass Schmalz den Roten Adler dritter Güte erhielt, die Mugdan und Konsorten aber denselben Vogel vierter Güte. Es ist ein Trost, dass wir wenigstens in der preußischen Generalordenskommission eine preußische Behörde besitzen, die ganz auf der Höhe der historischen Erkenntnis steht: Die Lügen, womit die Mugdan und Wiemer hinter der modernen Arbeiterbewegung herlaufen, stehen wirklich noch einen Grad tiefer als die Lügen, womit der Denunziant Schmalz zu seiner Zeit hinter den Arndt und Niebuhr und Schleiermacher herlief.

Hätte noch ein Zweifel daran bestanden, dass die Blockpolitik bankrott ist, aber dass die Bankrottierer entschlossen sind, sie fortzusetzen, bis sie an ihrer inneren Fäulnis zusammenbricht – gemäß dem Grundsatze: Nach uns die Sintflut! –, so hat ihn der Verlauf der Debatte beseitigt, die sich an die sozialdemokratische Interpellation knüpfte. Der brave Freisinn will endlich einmal mitessen, wenn auch nicht am selben Tisch und aus derselben Schüssel wie die Junker, denn so hoch lassen diese Blockgenossen seinen Ehrgeiz nimmermehr steigen, aber doch unterm Tisch lungernd und nach den Knochen schnappend, die die Junker abgenagt haben. Sie kennen weder Gram noch Scham mehr, sondern nehmen mit allem vorlieb, selbst mit solchem Spielzeug, wie rote Vögel sind. Auch die Träger und Payer und Schräder, von denen man anzunehmen pflegt, dass sie nicht so ohne weiteres mit den Gyssling und Mugdan und Wiemer in denselben Topf zu werfen seien, haben in der neulichen Debatte völlig versagt. Ihr Hauptargument gegen die Straßenkundgebungen zugunsten der preußischen Wahlrechtsreform, nämlich dass durch solche Kundgebungen die bürgerlichen Freunde dieser Reform zurückgescheucht würden, schlägt sie selbst auf den Kopf. Wer so feige ist, dass ihm das Herz schon in die Hosen fällt, wenn die entrechteten Massen ein politisches Mittel anwenden, das in allen zivilisierten Staaten herkömmlich und selbst von den deutschen Gesetzen nicht verboten ist, der mag sich in Gottes Namen zum Teufel scheren, denn mit solchen Falstaffs ist nie ein Recht zu erobern, am wenigsten [ein] Recht, das preußische Junker mit Nägeln und Zähnen verteidigen.

Es scheint nun, dass im Schoße der freisinnigen Fraktionen, namentlich in der Freisinnigen Vereinigung, einiges Rumoren entstanden ist über die freisinnige Blockpolitik, und gewiss ist, dass freisinnige Wählerversammlungen in einer nicht unbeträchtlichen Anzahl von Orten sich dagegen erklärt haben. Das ist menschlich ein ganz erquickend Zeugnis für die Tatsache, dass auch bei den allemal Unentwegten die Scham noch nicht gänzlich zu den Bestien entflohen ist, allein politisch darf man sich nicht dabei aufhalten. Die Macher kehren sich daran in keiner Weise, denn sie wissen selbst am besten, dass der Freisinn einer inneren Wiedergeburt völlig unfähig ist und das Räsonieren einer gewissen Opposition, das übrigens auch unter Eugen Richters Diktatur schon immer laut geworden ist, nicht mehr bedeutet als das Röcheln des Todeskampfes. Sie haben zudem einen Zauberspruch, der die unruhigen Geister immer wieder bannt, das auch die ungebärdigsten Philister schließlich überwältigende Wort: Hütet euch vor den Roten! Es liegt ja auch eine Art verzweifelter Logik darin, wenn die „Vossische Zeitung", so ziemlich das größte Angsthuhn der freisinnigen Presse, nicht müde wird zu wiederholen: entweder Hilfstruppe Bülows oder Hilfstruppe Bebels; in der Tat ist der Freisinn politisch so verkommen, dass ihm nur diese Wahl bleibt, und am letzten Ende lässt sich der Spießbürger, auch der rebellische, lieber von Bülow kommandieren als von Bebel.

Woran niemals ein ernsthafter Zweifel bestanden hat, daran ist jetzt auch der törichteste Zweifel beseitigt; erstens, dass die Arbeiterklasse in dem Kampfe um die preußische Wahlrechtsreform einzig und allein auf ihre eigene Kraft angewiesen ist, und zweitens, dass sie diejenige preußische Wahlrechtsreform, die sie verlangt und die zu verlangen ebenso ihre Pflicht wie ihr Recht ist, um keinen geringeren Preis bekommen wird als um den Sturz der preußischen Junkerherrschaft überhaupt. Nichts gefährlicher, als wenn sich die elementare Kraft, die sich in der gegenwärtigen Bewegung der Massen ausgelöst hat, darüber täuschen und einer vorzeitigen Ermattung verfallen würde, weil sich voreilige Hoffnungen nicht erfüllen können. Was bisher getan worden ist, hat seines Eindrucks auf die herrschenden Klassen nicht verfehlt, aber zunächst den Widerstand verstärkt, der gebrochen werden soll. Das elende Gerede von dem biederen Bürgersmann, der durch die proletarischen Straßenkundgebungen ins Bockshorn gejagt würde, ist nichtsdestoweniger wahr; gerade seine Wahrheit macht das Gerede so elend. Eine solche Wirkung der Straßenkundgebungen spricht nicht gegen, spricht vielmehr für sie, denn ein Heer, das einen ernsthaften Kampf führen will, kann zunächst nichts Besseres tun, als seine Reihen von allen Possenreißern zu säubern, die sich in täuschender Tracht und Gewandung hineinschleichen möchten. Es konzentriert dadurch seine Kraft, wenn auch nur um den Preis – den keineswegs zu teuren Preis –, durch das verscheuchte Pandurengesindel zunächst die Reihen des Feindes zu verstärken.

Seitdem selbst Herr v. Payer den „Schlag ins Gesicht", den Bülow mit seiner Erklärung gegen das allgemeine Wahlrecht ihm und seinen Myrmidonen erteilte, nur mit einem Segensspruch für die Bajonette zu quittieren gewusst hat, die in den Kasernen konsigniert waren, um die friedlichen Massenkundgebungen der Arbeiterklasse für das allgemeine Wahlrecht zu bedrohen, ist auch die gewaltsamste und reaktionärste Junkerpolitik ihres Blocks sicher. Unsere Aufgabe wird es nun sein, den Druck von außen zu verstärken, indem wir immer größere Massen um die Fahne der preußischen Wahlrechtsreform sammeln. Es gibt auch hier eine Grenze, wo die Quantität in die Qualität umschlägt, wo der Druck einer massenhaft aufgespeicherten Kraft dieselben Wirkungen erzeugt wie ein noch so zerschmetternder Sieg mit den Waffen. Die Angst, die die Straßenkundgebungen in den herrschenden Klassen hervorgerufen haben, entspricht nicht deren unmittelbarer Sorge um Haut und Beutel; sie wissen recht gut, dass es ein Kinderspiel für Moloch ist, zwanzig- oder fünfzig- oder auch hunderttausend wehrlose Menschen nieder zu kartätschen. Aber sie wissen auch ebenso gut, dass sie rettungslos verloren sind, wenn die „ungeheure Mehrzahl" erst die Interessen der „ungeheuren Mehrzahl" begreift, und deshalb erscheint ihnen die elementare Leidenschaft, womit die preußische Wahlrechtsfrage die Massen ergriffen hat, mit Recht als ein Menetekel.

So darf diese Leidenschaft nicht wieder erlöschen, weil das Ziel, das sie verfolgt, in schnellen und stürmischen Anläufen nicht erreicht werden kann. Es kommt darauf an, die bürgerliche Gesellschaft mit all ihren Parteien durch einen ununterbrochenen Guerillakrieg abzumatten und derweil die Kraft der Massen zu sammeln, bis der Augenblick kommt, wo sie sich in vernichtendem Stoße entladen kann. Und dieser Augenblick wird kommen, sei es nun in der inneren oder sei es in der äußeren Politik, denn der Block ist kein Gebilde, vor dem die historische Entwicklung mit dem verhaltenen Atem bewundernder Ehrfurcht stille stände.

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