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Franz Mehring 19080725 Vom Reichsbankrott

Franz Mehring: Vom Reichsbankrott

25. Juli 1908

[Die Neue Zeit, 26. Jg. 1907/08, Zweiter Band, S. 625-628. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 358-362]

Da es keine Regel ohne Ausnahme gibt, so musste auch die Regel, wonach sich der getretene Wurm zu krümmen beginnt, ihre Ausnahme haben, und der deutsche Liberalismus bemühte sich nach Kräften, diese Ausnahme vor aller Welt zu einer unbestreitbaren Tatsache zu machen. Um so mehr verdient registriert zu werden, dass dieser getretene Wurm nun doch eine gewisse Neigung verrät, sich zu krümmen, und obendrein, wo man es am wenigsten hätte erwarten sollen. Die nationalliberale Wetterfahne in Magdeburg, die sonst im Winde von oben her kaum weniger geschwind trillerte als die nationalliberale Wetterfahne in Köln, verfällt auf den für sie höchst verwegenen und verwogenen Gedanken, dass die liberalen Parteien die ungeheuerliche Reichssteuerlast, die den Massen demnächst wieder auferlegt werden soll, nicht bewilligen dürften, ehe sich die Regierung nicht zu einer Reform der preußischen Dreiklassenwahl bequeme.

Praktisch ist darauf natürlich nichts zu geben, und der Unglückliche, der auf diese Brücke treten wollte, würde kopfüber, kopfunter ins Wasser stürzen. Nichts ist möglicher oder selbst wahrscheinlicher, als dass die Magdeburgerin in acht Tagen schon der entgegengesetzten Ansicht ist, und selbst wenn dem nicht so wäre, so ist ihre Meinung noch lange nicht die Meinung ihrer Partei, deren offizielles Organ sich sogar schon mit einem hörbaren Ruck von der Ketzerin abwendet, während ein anderes nationalliberales Organ, das den Panzerplattenpatrioten zum Sprachrohr dient, obendrein von einer „Erpressertaktik" faselt. Lehrreich ist jedoch, dass ein zunächst so ganz harmloser und ungefährlicher Vorschlag auf die reaktionäre Presse, die ohnehin am besten weiß, wie harmlos und ungefährlich er ist, so kräftig wirkt wie das rote Tuch auf den Stier. Namentlich das Organ der Brotwucherer donnert gegen einen „Kuhhandel", wie er schmählicher noch nicht dagewesen sei, und kann sich gar nicht darüber beruhigen, dass die Interessen des Reiches preisgegeben werden sollen, um die eigensüchtigen Wünsche einer Partei zu befriedigen.

Daraus geht soviel hervor, dass die „Magdeburgische Zeitung", ob nun absichtlich und wissentlich oder nicht, einen sehr wunden Punkt berührt hat, von dem die Junkerklasse, die das preußisch-deutsche Reich beherrscht, sehr gut weiß, dass er keine unsanfte Berührung verträgt. Sie fürchtet die Zerstörung einer Illusion, die in all ihrer Windigkeit sehr nahrhaft für ihre Klasseninteressen gewesen ist und noch ist; sie sieht nicht ohne Grund den Zusammenbruch ihrer ganzen Herrlichkeit voraus, falls es der Bourgeoisie einmal einfallen sollte, mit dem Vorschlag der „Magdeburgischen Zeitung" wirklichen Ernst zu machen. Gewiss kann sie sich damit trösten, dass es noch gute Wege hat, ehe es so weit kommt, aber sie verfällt doch einem unwillkürlichen Hauche des Schauderns, wenn das Schreckgespenst, das sie am liebsten für immer begraben sähe, plötzlich wieder auftaucht, und sei es auch nur am entferntesten Horizont.

Was sie in ihrer ersten Bestürzung von einem „Kuhhandel" redet, wie er schmählicher noch nie dagewesen sei, das ist nicht gehauen und nicht gestochen. Die junkerlichen Blätter schmähen damit niemanden so arg als ihre in Gott ruhenden Ahnen. Die ganze Ständewirtschaft, die ja ihr politisches und staatsrechtliches Ideal ist, beruhte auf dem „Kuhhandel" in der krassesten Form; es fiel den Herren Junkern auch nicht im Traume ein, dem Fürsten einen Pfennig Steuer zu bewilligen, ehe er ihnen nicht einen Taler an neuen Vorrechten bewilligt hatte. Es sei nur an den brandenburgischen Landtagsabschied von 1653 erinnert, gewiss ein ehrwürdiges Aktenstück, da es die Geburtsurkunde des preußischen Militarismus war. Obgleich die Mark Brandenburg damals wirklich „wehrlos" war und einer bewaffneten Macht mindestens hundertmal nötiger bedurfte als heute das neudeutsche Reich einer Kriegsflotte, so ließen sich die Junker nicht einmal ein Haar krümmen von der „Wertlosigkeit des Vaterlandes", sondern bewilligten dem Kurfürsten die Steuern, die er brauchte, um ein paar Bataillone und Schwadronen aufzustellen, nur gegen die junkerlichen Vorrechte der Steuerfreiheit, der Besetzung aller Offiziersstellen, des Bauernlegens und der Himmel weiß welcher Vorrechte noch. Diese Edelsten und Besten würden, wenn sie hören könnten, wie ihr Feilschen und Schachern heute von ihren Nachfahren in der „Deutschen Tageszeitung" und der „Kreuz-Zeitung" als „schmählichster Kuhhandel" gebrandmarkt wird, jämmerliche Klagen über ihre entartete Nachkommenschaft erheben.

Indessen diese Nachfahren würden sich zu verteidigen wissen. Sie würden sagen: „Ihr biederen Altvordern, wir sind euer durchaus würdig und kennen auch noch kein höher Ziel, als mit Gott für König und Vaterland die Massen zu plündern, um die Taschen der Junker zu füllen. Aber, ihr teuren Ahnen, bedenket doch, dass wir jetzt am Ruder sind und den Nürnberger Tand, der uns dazumal ins Land geschneit kam, gar nicht mehr zu fürchten brauchen. Nun wollen uns aber die Ellenreiter und Pfeffersäcke an die Gurgel und gebrauchen dieselben Praktiken, mit denen ihr in euren glorreichen Zeiten die Allerdurchlauchtigsten und Großmächtigsten Kurfürsten, Könige und Herren untergekriegt habt. Und sollen wir nicht, wie ihr, ehrwürdige Ahnen, es doch auch stets gehalten habt, an unseren Gegnern als Teufelswerk verfluchen, was wir loben und segnen, und als Himmelswerk preisen, wenn wir selbst es tun?" Und wir glauben, dass die seligen Itzenplitze und Lüderitze und Zitzewitze eine so durchschlagende Auseinandersetzung anerkennen und sich wieder beruhigt in ihre Grabgewölbe begeben würden.

Man sagt nun wohl: Was sich für mittelalterliche Stände schickte, das schickt sich nicht für den modernen Konstitutionalismus. Allein dieser Satz ist nichts anderes als jene Illusion des Scheinkonstitutionalismus, den die preußischen Junker in raffinierter Weise ausgebildet haben. Er ist für sie noch viel vorteilhafter als die ehemalige Ständeverfassung, aber er heischt von ihnen eine andere Methode, als sie ehedem auf den Ständetagen ausgeübt haben. Aller wirkliche Konstitutionalismus beruht in der Macht des Parlamentes, der sich die Krone fügen muss, wenn beide verschiedener Meinung sind, und diese Macht hat noch kein Parlament anders erobert als dadurch, dass es den Daumen auf den Beutel hielt, bis sich die Krone seinem Willen fügte. Der Scheinkonstitutionalismus aber besteht darin, dass dem Parlament allerlei papierene Rechte verliehen werden, die es von der Tribüne mit allem rednerischen Nachdruck geltend machen kann, ja dass es auch diesen oder jenen kleinen Abstrich an den Geldforderungen der Regierung machen, aber sich beileibe nicht unterstehen darf, irgendeine namhafte Anleihe oder Steuer der Regierung zu verweigern, bei allen Strafen, die im Diesseits und Jenseits auf den Verrat am Vaterland gesetzt sind.

Nichts verständlicher, als dass sich das Junkertum bei dieser Sorte von Konstitutionalismus äußerst wohl befindet und sich gar nicht nach seinen Ständetagen zurücksehnt, auf denen es zwar auch die Sahne von der Milch zu schöpfen wusste, aber sich doch mit dem Fürsten auf der einen und den Städten auf der anderen Seite herum beißen musste. Nach dieser wie nach jener Seite sichert der Scheinkonstitutionalismus den herrschenden Klassen das denkbar größte Maß von Macht, und diese Klasse ist im preußisch-deutschen Reiche das Junkertum. Jedoch wenn ihm sonst noch sowenig nachzurühmen sein mag, so hat es sich doch immer auf seinen Vorteil verstanden, und es weiß deshalb sehr genau, dass dieser Scheinkonstitutionalismus auf tönernen Füßen steht, dass er eine pappene Kulisse ist, dass er nur solange als steinerne Mauer gelten kann, als die Bourgeoisie ängstlich und töricht genug ist, ihn dafür zu halten. Die Bourgeoisie kann diese Kulisse mit einem einzigen Fußtritt umstürzen, sobald sie erklärt: Wir bewilligen keine neuen Steuern mehr, ehe dem Parlament nicht die wirkliche Macht eingeräumt worden ist, die den Konstitutionalismus ausmacht. Dann ist die junkerliche Regierung lahm gelegt samt ihrer ganzen Land- und Seemacht.

Aus diesem Grunde sind die Organe der Junker so kitzlig, selbst einem so schüchternen Vorstoß gegenüber, wie ihn die „Magdeburgische Zeitung" macht. Sie wissen wohl, dass sie noch keine wirkliche Gefahr zu befürchten haben, aber sie scheuen mit Recht davor zurück, dass diese Frage auch nur in der sanftesten Weise angeschnitten wird. Taucht sie schon in so lammfrommen Blättern auf, wie die gute Magdeburgerin all ihr Lebtag gewesen ist, so ist das unter allen Umständen ein bedenkliches Zeichen. Kein Zweifel, dass sich die Bourgeoisie, nachdem sie sich seit sechzig Jahren von dem Scheinkonstitutionalismus hat narren lassen, nicht in sechs Wochen oder sechs Monaten wie ein Riese erheben und erklären wird: Bis hierher und nicht weiter! Aber sie ist ja auch viel weniger die Treibende als die Getriebene; die Anforderungen der Regierung an sie wachsen in so ungeheuerlichem Maße, dass sie selbst vom Abgrund verschlungen zu werden fürchtet, wenn sie sich nicht endlich einmal zur Wehr setzt gegen die unersättliche Gier der Junker.

Vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus hat die ganze Sache zunächst nur eine symptomatische Bedeutung. Sie selbst hat sich nie in den Netzen des Scheinkonstitutionalismus fangen lassen, und sie weiß auch, dass es am wenigsten ihr Interesse ist, das die Bourgeoisie antreibt, diese Netze ein wenig zu lockern. Wäre der Vorstoß der „Magdeburgischen Zeitung" so aussichtsvoll, wie er aussichtslos ist, brächte es die Bourgeoisie wirklich fertig, eine Reform der preußischen Dreiklassenwahl durchzusetzen, ehe sie einige hundert Millionen neuer Steuern bewilligt, so würde diese Reform für das Proletariat nur ein Schaugericht sein, um seine noch nicht hinlänglich aufgeklärten Schichten zu täuschen.

Aber symptomatisch sind die rollenwidrigen Seitensprünge der Magdeburgerin doch von einigem Interesse. Sie zeigen, dass die Flut steigt, dass die Schatten des drohenden Reichsbankrotts selbst schon die frömmsten Patrioten zu schrecken beginnen. Das Proletariat hat diesen Reichsbankrott nicht zu fürchten; das Vaterland der Junker ist nicht sein Vaterland, die nationale Ehre der herrschenden Klassen ist nicht seine nationale Ehre; der Reichsbankrott ist der Bankrott dieser Klassen, aber nicht der Bankrott der Arbeiterklasse. Die deutsche Nation wird sich nach dem Worte Lassalles wie der Phönix aus der Asche erheben, wenn das Junkerregiment, das den Massen Blut und Mark aussaugt, unter der Last seiner Sünden zusammengebrochen ist.

Es ist der Fluch der Klassengesellschaft, dass sich in ihr der historische Fortschritt nur unter schweren Katastrophen zu vollziehen vermag. Aber die historische Verantwortung für solche Katastrophen fällt allein auf die herrschenden Klassen. Sie sind es auch allein, die den Reichsbankrott herbeigerufen haben, aber wenn sie nun vor Schrecken erbleichen, da er vor den Toren steht, so kann der unholde Gast das Proletariat nur an das Wort seines Dichters erinnern:

Steckt der Karrn einmal im Drecke,

Hui, dann geht es rasch vom Flecke,

Und die Zäume fliegen frei!

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