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Franz Mehring 19080620 Zur Kritik des Liberalismus

Franz Mehring: Zur Kritik des Liberalismus

20. Juni 1908

[Die Neue Zeit, 26. Jg. 1907/08, Zweiter Band, S. 441-444. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 353-357]

Nachdem nunmehr auch die Wahlmännerwahlen für das preußische Abgeordnetenhaus stattgefunden haben, ist über jeden Zweifel hinaus festgestellt, dass sich die preußische Kammer in nichts von ihrer Vorgängerin unterscheiden wird, mit der einzigen Ausnahme, dass die Sozialdemokratie die erste Bresche in den Wall der Dreiklassenwahl gelegt hat. Das ist eine Tatsache von historischer Bedeutung, die weit hinausreicht über das ziffernmäßige Gewicht, das die neue sozialdemokratische Landtagsfraktion in die Waagschale werfen kann, doch haben wir uns über diese Seite der Wahl bereits vor acht Tagen ausgelassen und möchten heute nur noch einige kritische Glossen zu der Tatsache machen, dass sich die Junkerherrschaft vollkommen unerschütterlich erwiesen hat gegen alle Angriffe des Liberalismus.

An und für sich freilich scheint diese Tatsache keiner weitläufigen Erklärung zu bedürfen. Der Liberalismus hat überhaupt keine ernsthaften Angriffe auf die Junkerherrschaft gemacht, oder wo einzelne Ideologen der Bourgeoisie erkannten, worauf es ankam, und die richtigen Konsequenzen aus dieser Erkenntnis zogen, da sind sie von ihrer eigenen Klasse im Stiche gelassen worden. Es mag sehr geschmacklos sein, wenn die Erben des seligen Eugen Richter von der „Riesenpleite" der Herren Barth, Breitscheid und Gerlach schwatzen, aber an der Tatsache selbst, dass dieser neueste Versuch, eine bürgerliche Demokratie zu schaffen, vollkommen gescheitert ist, lässt sich nicht rütteln. Ein Zweifel daran bestand ja von vornherein nicht, aber es ist ganz gut so, dass der schon zehnmal gescheiterte Versuch zum elften Male gescheitert ist. An eine Wiedergeburt des Liberalismus, an die Möglichkeit eines Bündnisses mit ihm, um die Junkerherrschaft zu stürzen, können jetzt nur noch komplette Narren glauben.

Insoweit liegt die Sache klar, aber nicht ganz so klar liegen die Konsequenzen, die sich aus ihr ergeben. Das wehleidige Geschrei, dass die Sozialdemokratie in erster Reihe den Liberalismus bekämpfe, der ihr doch so viel näher stehe als ihr Todfeind, das Junkertum, findet immer noch mehr Anhänger, als es finden sollte, und führt in der Tat wohl dazu, den Kampf gegen das Junkertum nicht energischer – denn er kann gar nicht energisch genug geführt werden –, aber doch ausschließlicher zu führen als sich rechtfertigen lässt und als namentlich vom praktischen Standpunkt aus nützlich ist. Das Junkertum lebt heute von Gnaden der Bourgeoisie, und gerade wenn man dem Junkertum ernsthaft an den Leib will, kann man die Bourgeoisie nicht hart und scharf genug treffen.

Der Lärm über die bewusste oder unbewusste Unterstützung der absolutistisch-feudalen Reaktion durch die deutsche Arbeiterbewegung ist so alt wie diese selbst. Man weiß ja, wie mit diesem Schwindel schon gegen Lassalle gefochten wurde, und der brave Eugen Richter hat sich all sein Lebtag davon genährt. Tatsächlich fand aber bis zu einem gewissen Grade das gerade Gegenteil statt; hätte die Bourgeoisie sonst nur gewollt, so hätte die neu entstehende Arbeiterbewegung ihren eigenen Emanzipationskampf nicht gehindert, sondern gefördert, nicht nur insofern, als die Sozialdemokratie stets bereit war, der Bourgeoisie willige Gefolgschaft zu leisten, wenn es bürgerliche Reformen zu erkämpfen galt, als auch in dem all gemeinen Sinne, dass die Arbeiterbewegung der Regierung selbst die Junkerherrschaft immer unerträglicher machte. Die seit dem Jahre 1840 langsam verwesende Monarchie hatte den Kampf zwischen Adel und Bourgeoisie, worin sie das Gleichgewicht erhielt, zur Grundbedingung gehabt; sobald es darauf ankam, nicht mehr den Adel gegen das Andrängen der Bourgeoisie, sondern alle besitzenden Klassen gegen das Andrängen des Proletariats zu schützen, musste die alte absolute Monarchie übergehen in die eigens für diesen Zweck herausgearbeitete Staatsform: in die bonapartistische Monarchie.

Engels hat diesen Entwicklungsprozess in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eingehend geschildert, in seiner Abhandlung über die Wohnungsfrage und auch sonst. Er hob zugleich hervor, dass dieser Übergang der größte Fortschritt gewesen sei, den Preußen seit 1844 gemacht habe. Preußen war eben immer noch ein halb feudaler Staat, und der Bonapartismus ist jedenfalls eine moderne Staatsform, die die Beseitigung des Feudalismus zur Voraussetzung hat. Preußen musste sich also entschließen, mit seinen zahlreichen feudalen Resten aufzuräumen, und das Junkertum als solches opfern. Es geschah natürlich in der mildesten Form und nach der beliebten Methode: Immer langsam voran. Als Beispiel führte Engels damals die vielberühmte Kreisordnung an, die von den Junkern so heftig angefochten wurde, dass die Regierung eines Pairsschubs bedurfte, um den Widerstand des Herrenhauses zu brechen. Die Kreisordnung hob die feudalen Vorrechte des einzelnen Junkers auf seinem Gut auf, aber nur, um sie als Vorrechte des gesamten Großgrundbesitzes für den Kreis herzustellen. „Die Sache bleibt, nur wird sie aus dem feudalen in den bürgerlichen Dialekt übersetzt. Man verwandelt den altpreußischen Junker zwangsweise in etwas wie einen englischen Squire, und er brauchte sich gar nicht so sehr dagegen zu sträuben, denn der eine ist so dumm wie der andere."1

Abschaffung des Feudalismus ist nun aber, positiv ausgedrückt, Herstellung bürgerlicher Zustände. In demselben Maße, wie die Adelsprivilegien fallen, verbürgerlicht sich die Gesetzgebung. Es war nun begreiflich, dass die Regierung, wenn sie genötigt war, bürgerliche Reformen durchzuführen, sie aufs engste beschränkte, sie als ein der Bourgeoisie gebrachtes Opfer, als ein den Junkern mit Mühe und Not entrissenes Zugeständnis darstellte, wofür die Bourgeoisie der Regierung nun auch wieder Zugeständnisse machen müsse. Was sich aber keineswegs begreifen oder wenn schon begreifen, so doch keineswegs verzeihen ließ, das war die Taktik der Bourgeoisie, die auf diese Täuschung einging, obwohl sie sich über den Sachverhalt vollkommen klar war. Daraus entstand dann der stillschweigende Vertrag, der die stumme Grundlage aller Reichstagsverhandlungen in den siebziger Jahren bildete. Einerseits reformierte die Regierung die Gesetze im Schneckengalopp im Interesse der Bourgeoisie, beseitigte sie die feudalen und kleinstaatlichen Hindernisse der kapitalistischen Produktionsweise, schaffte sie Gewichts-, Maß- und Münzeinheit, Gewerbefreiheit usw., stellte dem Kapital durch die Freizügigkeit die deutschen Arbeitskräfte zur unbeschränkten Verfügung, begünstigte Handel und Schwindel. Andererseits überließ die Bourgeoisie der Regierung alle wirkliche politische Macht, votierte Anleihen, Steuern und Soldaten und half alle neuen Reformgesetze so abfassen, dass die alte Polizeigewalt über missliebige Individuen in voller Kraft blieb. So erkaufte die Bourgeoisie ihre allmähliche gesellschaftliche Emanzipation mit dem sofortigen Verzicht auf ihre eigene politische Macht. Das war umso unverzeihlicher, als sie sowohl bei ihrer gesellschaftlichen Emanzipation als auch bei ihrem Streben nach politischer Macht gegenüber der Krone und dem Junkertum die Arbeiterklasse hinter sich hatte. Allein gerade die Furcht vor der Arbeiterbewegung, und keineswegs die Furcht vor der Regierung, machte der Bourgeoisie jenen Pakt mit der Krone und dem Junkertum annehmbar, bei dem sie selbst so schlecht abschnitt.

Dieser Zusammenhang der Dinge war allen gescheiten Leuten schon vor dreißig Jahren klar, jedoch was selbst den gescheitesten Leuten damals noch keineswegs einleuchtete, das war die Möglichkeit eines Verzichtes der Bourgeoisie selbst auf ihren Schneckengalopp. Engels schrieb 1874 in einem heute vergessenen Artikel: „Somit hat also Preußen das sonderbare Schicksal, seine bürgerliche Revolution, die es 1808-1813 begonnen und 1848 ein Stück weitergeführt, Ende dieses Jahrhunderts in der angenehmen Form des Bonapartismus zu vollenden. Und wenn alles gut geht und die Welt fein ruhig bleibt und wir alle alt genug werden, so können wir es vielleicht im Jahre 1900 erleben, dass die Regierung in Preußen wirklich alle feudalen Einrichtungen abgeschafft hat, dass Preußen endlich auf dem Punkt ankommt, wo Frankreich 1792 stand."2 Man sieht daraus, wie sehr Engels, dem man gewiss keine besondere Vorliebe für die deutsche Bourgeoisie vorwerfen kann, sie dennoch überschätzt hat; wenn er meinte, dass sie es im Jahre 1900 über die Junker endlich davongetragen haben werde, so ist sie vielmehr 1908 völlig im Schlepptau der Junker; im Reichstagsblock wird sie nur als Stimmvieh gezählt, und im Landtag mit seinem so recht auf ihre plutokratischen Interessen zugeschnittenen Wahlrecht bildet sie eine ohnmächtige Minderheit gegenüber der junkerlichen Mehrheit.

Natürlich ist gar nicht daran zu denken, dass eine solche historische Entwicklung jemals aus sich selbst heraus umschlagen, dass die deutsche Bourgeoisie sich politisch wieder finden könne, und wenn es wirklich Illusionäre geben sollte, die sich bisher mit solchen Gedanken getragen haben, so sind sie durch den Ausfall der preußischen Landtagswahlen eines anderen belehrt worden. Ebendeshalb darf man sich nun aber keinen Täuschungen mehr darüber hingeben, wo die eigentliche Wurzel der Junkerherrschaft steckt, keinen Täuschungen darüber, dass es nichts hilft, bloß auf den Sack zu schlagen, wenn man nicht auch den Esel trifft, der den Sack trägt. Allerdings heißt es im Kommunistischen Manifest, dass die Sozialdemokratie mit der Bourgeoisie gegen die absolute Monarchie und das feudale Grundeigentum kämpfen müsse, aber wohlgemerkt unter der Voraussetzung, dass die Bourgeoisie revolutionär auftrete3, und wenn Marx zur Zeit des preußischen Verfassungskonfliktes meinte, er habe bei Abfassung des Kommunistischen Manifestes vorausgesetzt, die deutsche Bourgeoisie werde immer mindestens so viel Kampflust und Selbstbewusstsein bewähren wie in den vierziger Jahren4, so sind wir heute über den holden Wahn hinaus, dass sie auch nur noch jenes geringe Maß von Kampflust und Selbstbewusstsein besitze, das sie in den Tagen des preußischen Konfliktes noch aufzutreiben wusste.

Verkannt soll deshalb keineswegs werden, dass sie ihre historische Schuldigkeit, die sie auf politischem Gebiet so jammervoll vernachlässigt, seit 1848 und namentlich seit 1870 auf ökonomischem Gebiet in vollem Maße getan hat. Sie hat einen großen Handel und große Industrien geschaffen, und sie entwickelt die kapitalistische Produktionsweise in einem Umfang, der ein immer zahlreicheres Proletariat erzeugt, drillt und schult. Diesen Ruhm kann sie mit Recht beanspruchen, und wenn es auch sehr wider ihren Willen geschieht, so macht sie dadurch ihre politischen Sünden doch wieder gut. In dem Maße, wie sie sich unter die Füße des Junkertums wirft, entfremdet sie sich die Arbeiterklasse, und indem sie das Rad der historischen Entwicklung rückwärts zu drehen sucht, beschleunigt sie seinen Gang nach vorwärts.

Daran ist nun einmal nichts zu ändern, und am törichtesten wäre es, wenn die Sozialdemokratie durch ein Entgegenkommen oder auch nur ein schonendes Schweigen die selbstmörderische Politik der Bourgeoisie hemmen wollte. Das würden ihr die braven Bourgeois als ein Zeichen innerer Schwäche auslegen und an ihrem Teil umso übermütiger werden. Wenn sie durch die unzähligen Niederlagen, die sie seit vierzig Jahren erlitten haben, nicht zu bekehren und zu belehren gewesen sind, so werden sie es durch Güte noch viel weniger sein.

Und alles in allem – welchen Grund haben wir, uns zu beklagen, wenn die Bourgeoisie ökonomisch immer neue Proletarier schafft und jedem neu geschaffenen Proletarier politisch gleich jede Hoffnung benimmt? Das ist ganz unser Interesse, und wir haben uns nur zu hüten, durch unzeitige Schonung des Liberalismus in den eigenen Reihen trügerische Hoffnungen zu erwecken.

3 „In Deutschland kämpft die Kommunistische Partei, sobald die Bourgeoisie revolutionär auftritt, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute Monarchie, das feudale Grundeigentum und die Kleinbürgerei." (Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 4, S. 492.)

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