Franz Mehring‎ > ‎1909‎ > ‎

Franz Mehring 19090102 An der Jahreswende

Franz Mehring: An der Jahreswende

2. Januar 1909

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Erster Band, S. 529-532. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 405-409]

Unter dem überwältigenden Eindruck einer furchtbaren Katastrophe ist das alte Jahr geschieden; seit dem Erdbeben von Lissabon, das im Knaben Goethe die ersten Zweifel an einer göttlichen Vorsehung erweckte, ist kein elementares Ereignis von gleich verheerender Wucht über die europäische Menschheit hereingebrochen, nur dass nach den neuen Schreckensnachrichten, die jeder neue Tag bringt, diesmal das Verderben noch ungleich verhängnisvollere Folgen gehabt hat. Kein Wunder, dass ein Echo dieses beispiellosen Schlages durch alle Neujahrsbetrachtungen dröhnt.

Jedoch kann man nicht sagen, dass allzu viel Gescheites dabei laut wird. Das beste Wort hat der Geologe Portis in der „Tribuna" gesagt, bei aller Anerkennung der regen Opfertätigkeit, die sich in Italien selbst und im Ausland bekundet. Almosen, die doch nur wenig von dem ersetzen, was verloren worden ist, mögen ein guter Trost sein, aber sie seien keine wirkliche Hilfe. Was da unten Not tue, sei eine gute Volksschule, die die dämmernden Geister aufrüttle und sie endlich erkennen lasse, in den seismisch unsicheren Gebieten anders zu bauen als bisher. Erdbeben wären für Kalabrien und Sizilien längst ein harmloses Naturereignis, wenn man die Ratschläge der Bautechniker und Geologen aus Faulheit nicht überhört hätte. Die Regierung möge endlich ihre Pflicht tun und der gleichgültigen Stumpfheit ein Ende bereiten!

Das ist ein ehrliches und mannhaftes Wort, aber es ist auch eine Stimme in der Wüste. Mit frömmelnden Salbadereien oder wohlfeilem Mitleid hilft man sich über den ersten Schrecken fort, und nur unheilbare Toren können darauf rechnen, dass die Mahnungen zur Buße und Einkehr, von denen namentlich die Blätter der Junker und Pfaffen triefen, irgend etwas anderes bedeuten als leeres Gerede. Es war noch kein Jahr seit dem Erdbeben von Lissabon verflossen, als ein furchtbarer Krieg ausbrach, der sieben Jahre lang zwei Weltteile verheerte und hundertmal mehr an Opfern kostete. Der „Finger Gottes", den die Frommen wieder in der italienischen Katastrophe drohen sehen, hat die herrschenden Klassen nie auch nur einen Augenblick behindert, ihre eigensüchtigen Herrschaftspläne zu verfolgen.

Lassen wir also diese Tiraden beiseite, so ist immerhin noch anzuerkennen, dass aus den Neujahrsbetrachtungen unserer bürgerlichen Presse wenigstens die satte Selbstzufriedenheit verschwunden ist, die bisher zum eisernen Bestände patriotischer Gesinnung gehörte. Missachtet und verspottet vom Ausland, zerrissen im Innern – das sind die Früchte einer vierzigjährigen Politik, über die alle Schönrednerei nicht mehr hinweghelfen kann. Und dennoch würden Vertuschungsversuche nicht unterbleiben, wenn den herrschenden Klassen die Angst, die bebende Angst nicht in den Knochen steckte. Entladen sich die Kriegswolken, die drohend am europäischen Horizonte stehen, so treibt das Reich in einem Malstrom, worin es sich nicht nur für die unterdrückten Massen – das würde ihre Unterdrücker nicht in ihrer Seelenruhe stören –, sondern auch für diese selbst um Kopf und Kragen handelt. Und die Angst des Ungewissen, die schrecklichste aller Ängste, schnürt ihnen die Kehle zusammen, so dass sich kein prahlerisches Wort mehr hervorzudrängen vermag.

Sie selbst sind freilich die Hauptschuldigen an dieser Angst. Denn das vergangene Jahr bot ihnen eine Aussicht, die ihnen wohl ermöglicht hätte, für eine Spanne Zeit wieder aufzuatmen. Der schmähliche Zusammenbruch des persönlichen Regiments warf dem Reichstag sozusagen von selbst ein Stück reeller Macht in den Schoß; er brauchte es nur aufzuheben, und nach außen wie nach innen wäre die Lage des Reiches eine andere und entschieden bessere geworden. Statt dessen begnügten sich die bürgerlichen Parteien mit großen Worten, die, so drohend sie klangen, nicht mit Unrecht matt genannt worden sind, matt deshalb, weil sie alle mit dem Kehrreim schlossen: Aber der Herr Reichskanzler muss dennoch auf seinem Platze bleiben. Ihm, als dem Träger der verantwortlichen Politik, die das Reich so tief in die Tinte geritten hat, mit dürren Worten aufzusagen, wäre vielmehr das Richtige gewesen; damals hätte ihn keine Macht der Welt auf seinem Platze halten können, wenn ihm die Mehrheit des Reichstags ein unzweideutiges Misstrauensvotum gegeben hätte. Damit wäre wenigstens ein Anfang heilsamer Umkehr gemacht, wäre etwas Besseres geleistet worden als mit all den großen Worten der bürgerlichen Wortführer, die heute schon vergessen sind wie ein abgestandener Witz von vorgestern.

Auf diese Weise wurden auch von vornherein die konstitutionellen Garantien preisgegeben, die nach den bürgerlichen Verheißungen ja noch durchgesetzt werden sollen. Man hat im Grunde Unrecht, über ihre Verschleppung in der Kommission zu klagen, denn diese Verschleppung ist nur die notwendige Konsequenz der ganzen Sachlage. Scheute man davor zurück, das Eisen zu schmieden, als es noch heiß war, so ist es nur logisch, wenn man es erst ganz kalt werden lassen will, ehe man es anfasst. Und was ist damit geholfen, wenn nun wirklich so etwas wie ein Ministerverantwortlichkeitsgesetz fertig wird? Klügere Reaktionäre raten selbst dazu, dem Walfisch diese Tonne zum Spielen hinzuwerfen, denn mit solchem papierenen Gesetz sei doch nichts am Stande der Dinge geändert. Möglich, vielleicht selbst wahrscheinlich, dass schließlich die Regierung gestattet, ihr einige Spinnweben an Hand und Fuß zu legen! Aber über deren Wert werden sich die Auguren weder hüben noch drüben täuschen; sie haben nur den Zweck, die misera contribuens plebs, den dummen Pöbel der Steuerzahler, gründlich zu nasführen.

Im letzten Grunde erklärt sich diese Feigheit der deutschen Bourgeoisie, die in der Geschichte kein Vorbild hat, aus ihrer Angst vor der Sozialdemokratie. Konstitutionelle Garantien, die diesen Namen verdienen und wie sie von der sozialdemokratischen Fraktion des Reichstags gefordert werden, sind den bürgerlichen Parteien verhasst, weil sie der Arbeiterpartei nicht minder zugute kommen würden als den bürgerlichen Parteien. Tatsächlich lässt sich die innere Krisis des eben verflossenen Jahres in die Schicksalsfrage zusammenfassen: Könnt ihr braven Bourgeois von eurer Angst vor der Arbeiterbewegung auch dann noch nicht lassen, wenn eine unfähige Leitung das Reichsschiff mitten in Klippen und Untiefen steuert?, worauf die also angesprochenen Staatsmänner prompt erwidert haben: Auch dann noch nicht! Und sollte es wirklich noch härtere Proben geben, auf die die politische Einsicht der Bourgeoisie gestellt werden könnte, so würde sie auch diese Probe in dem Sinne bestehen, dass ihre Angst vor der Sozialdemokratie die letzten Spuren von politischer Vernunft in ihr erstickt.

Wenn diese Tatsache anfechtbar ist, so ist umso unanfechtbarer die daraus gezogene Schlussfolgerung, dass die Sozialdemokratie durch freundschaftliches Entgegenkommen die Angst bannen möge, die sie einflößt. Einige Genossen finden ein absonderliches Vergnügen darin, zweimal im Monat durch die „Sozialistischen Monatshefte" zu verkünden, dass sie für ihr Teil zu solchem Entgegenkommen bereit seien. Sicherlich sprechen sie so aus ehrlicher Überzeugung, da sie sich sonst nicht immer wieder der immerhin peinlichen Lage aussetzen würden, ihre gute Absicht von den bürgerlichen Blättern mit herablassendem Hohne aufgenommen zu sehen. Indessen – so ehrlich ihre Überzeugung sein mag, so beruht sie doch auf der ganz falschen Voraussetzung, dass die Bourgeoisie sich nur an den so genannten „Auswüchsen" der Arbeiterbewegung stoße und nicht vielmehr an der Bewegung selbst. Man soll auch dem Gegner gerecht zu werden wissen, und wenigstens in dieser Beziehung hat die deutsche Bourgeoisie seit vierzig Jahren aus ihrem Herzen niemals eine Mördergrube, hat sie nie ein Hehl daraus gemacht, dass ihr jede Arbeiterbewegung – und die gewerkschaftliche noch viel mehr als die politische – ein Gräuel vor dem Herrn ist, dass sie eine politische Verbindung mit der Arbeiterklasse nur unter einer Bedingung eingeht. Unter der Bedingung nämlich, dass die Arbeiter ihr willenloses Stimmvieh werden, einer Bedingung, die sie selbst nicht einmal in dem undenkbaren und unmöglichen Falle erfüllt sehen würde, dass sich die Sozialdemokratie bedingungslos unter ihr Kommando stellte. Denn nach allen Erfahrungen der letzten vier Jahrzehnte würde sie auch dann noch nicht dem Frieden trauen und sich höchstens erst beruhigen, wenn die deutsche Arbeiterklasse sich in die Lage von 1859 zurückversetzen ließe, was ja nun freilich eine Unmöglichkeit ist.

Weshalb die deutsche Bourgeoisie um so viel kurzsichtiger ist als die Bourgeoisie anderer Nationen, das erklärt sich aus ihrer historischen Entwicklung, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Aber die Tatsache selbst, dass sie unter keinen irgend denkbaren Umständen, und selbst unter so bedrängten Umständen nicht, wie sie die gegenwärtige Lage des Reiches nach außen und innen für sie schafft, für ein halbwegs verständiges Verhältnis zur Sozialdemokratie zu gewinnen ist, steht durch hundert- und tausendfältige Proben zu fest, als dass daran gezweifelt werden könnte. Deshalb gehört ein eigener Geschmack dazu, ihr fortwährend Friedens- und Freundschaftsvorschläge zu machen, die ihr in keiner Weise imponieren und von ihr nur benutzt werden, um die Sozialdemokratische Partei, die – mit jenen Ausnahmen – nichts von solchen Vorschlägen wissen will, mit wohlfeilem Hohne zu überschütten.

An praktischen Erfolgen fehlt es dem klassenbewussten Proletariat deshalb doch nicht, weil es solchen Erfolgen nicht auf völlig unpraktischen und unpraktikablen Wegen nachzulaufen versucht. Der Zuwachs an Macht, den die Bourgeoisie in der inneren Krisis des vorigen Jahres erwerben konnte, aber verschmäht hat, ist umso reichlicher der Arbeiterklasse zugewachsen. Solche Dinge, wie der Krach des persönlichen Regiments, gehen auch an den unaufgeklärten Massen nicht spurlos vorüber, und an ihnen am wenigsten. Sie wirken umso länger und tiefer, je unfähiger die herrschenden Klassen sich zeigen, ihre Wiederkehr zu verhüten. Und das neue Jahr wird uns neue Ernte bringen, durch die halbe Milliarde neuer Steuern und was die Ausbeuter sonst in ihres Sinnes Torheit treiben.

Mag es für unser aller Erwarten und Hoffen zu langsam vorwärts gehen, so hilft es doch nicht, die Ungeduld mit utopischen Plänen zu beschwichtigen; notwendig und nützlich ist nur, desto gründlicher zu rüsten für den Tag der Entscheidung, dessen unheimliche Ahnung heute schon den herrschenden Klassen in allen Gliedern spukt.

Kommentare