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Franz Mehring 19090725 Arbeiter- und Junkerklasse

Franz Mehring: Arbeiter- und Junkerklasse

25. Juli 1909

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Zweiter Band, S. 593-596.Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 453-456]

Es versteht sich und bedarf keiner langwierigen Begründung, dass die neuen Steuern die allgemeine Aufmerksamkeit beanspruchen, weit mehr noch als die neuen Minister, die nicht viel anders wirtschaften können, selbst wenn sie anders wirtschaften wollten, als Bülow gewirtschaftet hat. Aber die neuen Steuern erstrecken ihre Wirkungen bis in die ärmsten und kleinsten Haushalte, und in diese sogar am stärksten.

Könnte man sich auf den ersten oberflächlichen Schein verlassen, so sähe die Sache nicht so übel aus. Die Entrüstung ist allgemein und schlägt sehr hohe Wellen; hätten die Flüche, die auf das Haupt des Schnapsblocks gehäuft werden, tödliche Wirkung, so wäre er alsbald nach seinem Siege eines seligen Todes verblichen. Fänden gegenwärtig neue Wahlen für den Reichstag statt, so könnten die Regierungen ihr blaues Wunder besehen.

Aber nach allen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte ist solcher sittlichen Entrüstung des biederen Philisters nicht über den Weg zu trauen; sie pflegt sehr schnell abzuflauen, und wir müssen uns mit der Möglichkeit vertraut machen, dass sie am Termin der nächsten Reichstagswahlen bis auf die letzte Spur verflogen sein wird. Man braucht sich nur zu vergegenwärtigen, dass all die behäbigen Patrioten, wenn sie aus ihrer Empörung über den Schnapsblock die logische Konsequenz ziehen wollten, für sozialdemokratische Kandidaten stimmen müssten. Denn gerade alle die Steuern, die ihnen am schwersten auf die Seele und noch schwerer auf den Geldbeutel fallen, waren ja auch die liberalen Volksvertreter zu bewilligen bereit und würden sie ohne Zögern bewilligt haben, wenn sie nicht von den Junkern aus dem Block spediert worden wären.

Nichts komischer, als wenn einzelne freisinnige Blätter, wie die wackere Tante Voss, auch jetzt noch von der hohen Befriedigung reden, die sie angeblich über die freisinnige Blockpolitik empfinden. Dagegen ist jener Hausierer, der, zur Vordertür mit einem Fußtritt hinausgeworfen, alsbald mit seliger Miene die Hintertreppe hinauf schleicht, noch ein Muster von Würde. Man mag sagen, dass die Liberalen mit einem blauen Auge davongekommen sind, indem ihnen ihre unhöfliche Behandlung durch die konservativen Blockbrüder wenigstens die Schande erspart hat, tatsächlich die vierhundert Millionen indirekter Steuern zu bewilligen, die sie zu bewilligen bereit waren. Aber belastet bleibt ihr politisches Konto mit dieser Bereitwilligkeit doch, und wenn sie jetzt sich anschicken, die Empörung über die Steuerbescherung des Schnapsblocks für sich auszunutzen, so müssen sie schweigend den Hohn der „Germania" und der „Kreuz-Zeitung" einstecken, dass sie sich damit selbst moralisch ins Gesicht schlagen.

Allerdings sind es nur einzelne freisinnige Blätter, die sich noch freiwillig dem Spotte der Gegner ausliefern, die ihre Partei eben so schwer misshandelt haben. Im Allgemeinen liegen den liberalen Fraktionen die Folgen ihrer traurigen Blockpolitik schwer in den Gliedern, worüber auch der Lärm, den der Hansabund von sich macht, nicht hinweghelfen kann. Nur darf man nicht so weit gehen, in der katzenjämmerlichen Stimmung schon einen Anfang der Besserung zu erblicken. An einen ernsthaften Widerstand gegen die konservativ-ultramontane Herrschaft denken die Leute nicht, die eben all die jammerseligen Streiche der Blockpolitik mitgemacht haben, und so wie sie nun einmal sind, können sie auch gar nicht daran denken. Der Hass gegen die Sozialdemokratie übertäubt in ihnen jedes andere Gefühl, und bei den nächsten Wahlen werden wir es wieder erleben, dass die liberalen Biedermänner der konservativ-ultramontanen Koalition die Kastanien aus dem Feuer holen.

Selbst ein liberales Blatt spottete dieser Tage über die gänzliche Unfähigkeit der Fischbeck und Wiemer, der Kopsch und Mugdan, die nicht einmal fähig seien, ein Landratsamt zu verwalten, geschweige denn ernsthafte Politik zu treiben. Haben wir es doch vor einigen Wochen erlebt, dass die Kopsch und Mugdan, weil ihnen auf die Angriffe, die sie unter dem Schutze der parlamentarischen Redefreiheit gegen einen politischen Gegner gerichtet hatten, entsprechend gedient worden war, nicht nur wegen formaler Injurien vor den Kadi liefen, sondern auch die politischen Vorstrafen, die ihr Gegner im Dienste ihrer eigenen Sache vor zwanzig Jahren erlitten hatte, gegen ihn geltend machten, um ihn ins Gefängnis zu bringen: eine Selbstbesudelung der eigenen Partei, wie sie auch in den reaktionärsten Parteien noch nicht vorgekommen ist. Was ist von solchen Helden im politischen Kampfe zu erwarten? Nichts, gar nichts!

Man muss sich nicht darüber täuschen, dass der Schnapsblock für absehbare Zeit das Heft in den Händen hat, dass er innerhalb der bürgerlichen Welt keinen Widerstand mehr findet, den er zu fürchten braucht. Aber so viel darf man ihm zutrauen, dass er diese günstige Lage auszunutzen bemüht sein wird. Eine wirkliche Grenze seiner Macht findet er erst da, wo das proletarische Klassenbewusstsein beginnt. Auch diese neueste Krise des deutschen Parteiwesens bestätigt wie jede frühere, dass in Deutschland bei aller Buntscheckigkeit der Fraktionen sich tatsächlich nur zwei Parteien als wirkliche Mächte gegenüberstehen: die Partei des Junkertums und die Partei der Arbeiterklasse. Was dazwischen herumwimmelt, mag für den alltäglichen Lauf der Dinge seine mehr oder minder beträchtliche Bedeutung haben, aber sobald eine große Entscheidung heranreift, reduziert sich der politische Kampf auf dies Hüben und dies Drüben.

Äußerlich steht die Partie sehr ungleich, denn in der Hand des Junkertums konzentrieren sich alle Machtmittel des modernen Klassenstaats. Auch hierüber sollte man endlich aufhören, sich zu täuschen. Wenn die Geschichte des Blockes etwas gelehrt hat, so ist es die Tatsache, dass die Junker entschlossen sind, ihre Macht zu behaupten, dass sie es lieber aufs Biegen oder Brechen ankommen lassen, ehe sie auch nur ein Tüttelchen davon preisgeben, ehe sie auch nur die bescheidensten Brosamen opfern, mit denen sich die Liberalen schließlich hätten abspeisen lassen. Es ist heute noch wahr, was Lassalle vor nun bald einem halben Jahrhundert erkannte, dass sich den preußischen Junkern nichts abzwingen lässt, es sei denn mit dem Daumen aufs Auge und mit dem Knie auf der Brust. Eben jetzt graben die betrübten Lohgerber von Liberalen wieder in den Jahrbüchern der preußischen Geschichte, um nachzuweisen, dass die eigennützige Klassenselbstsucht der Junker immer dieselbe gewesen, dass sie selbst durch die fürchterlichen Prügel, die Napoleon bei Jena den Junkern beibrachte, nicht einen Augenblick kuriert worden ist. Das ist alles vollkommen richtig, aber das Wehklagen darüber hat nicht den geringsten Zweck; es kitzelt die Junker höchstens angenehm, solange sie sicher sein dürfen, dass die Klageweiber weder entschlossen noch fähig sind, ihnen einen Krieg auf Leben und Tod zu machen.

Aber eben hierzu ist die Arbeiterklasse so entschlossen wie fähig, und dadurch gewinnt sie die Möglichkeit eines Widerstandes, an dem die Junker auf die Dauer scheitern müssen. Denn historisch sind sie eine überlebte Klasse, die sich nur dadurch im Besitz der Macht erhalten kann, dass die über sie hinaus geschrittenen Schichten der bürgerlichen Welt sich ihr freiwillig unterwerfen. Was die Arbeiterklasse aber trotz ihrer scheinbaren Ohnmacht hinter sich hat, das ist der große Gang der historischen Entwicklung, der seiner nicht spotten lässt; während jeder neue Tag das Junkertum parasitischer macht im nationalen Organismus, macht jeder neue Tag die Arbeiterklasse unentbehrlicher für das Leben der Nation; mit jedem neuen Tage wächst ihre Macht, den herrschenden Klassen das Leben so sauer zu machen, dass gegen den Willen des Proletariats nicht mehr regiert werden kann.

Das ist keine Politik der blendenden Aktionen, sei es nun auf parlamentarischem oder auf unparlamentarischem Boden. So hart es sein mag, so muss man sich mit der Tatsache abfinden, dass die Junkerherrschaft von heute auf morgen nicht zu stürzen ist, dass sie auch durch die Empörung über die neuen Steuern, die augenblicklich so hell auflodert, durchaus noch nicht gefährdet wird. Aber woran sie wie an einem granitenen Felsen auf die Dauer zerschellen muss, das ist der unbeugsame Widerstand der proletarischen Massen, der sich durch nichts und durch niemanden davon abbringen lässt, der Junkerherrschaft auf Schritt und Tritt, auf Weg und Steg jeden großen und jeden kleinen Stein in den Weg zu wälzen. Was auf diesem Wege erreicht werden kann, zeigen die zwölf Jahre des Sozialistengesetzes.

Eine Politik, wie sie in diesen Jahren von der Arbeiterklasse getrieben wurde, schafft die einzige Möglichkeit, die Junkerherrschaft lahm zu legen. Unter diesem Gesichtspunkt ist nichts schädlicher als das Gerede von der Sturmkolonne, die „von Bassermann bis Bebel" gegen das Junkertum gebildet werden soll; nichts könnte dem Junkertum willkommener sein als ein solcher Mischmasch, der weder zu denken noch zu schlagen verstände. Auch muss es den Junkern wie Musik in die Ohren klingen, wenn es Parteimitglieder gibt, die die Demokratische Vereinigung1, jenes Häuflein bürgerlicher Ideologen, denen es noch aufrichtig um den Kampf gegen das Junkertum zu tun ist, feierlich ermahnen, doch ja nicht zu schroff mit den Fischbeck und Konsorten ins Zeug zu gehen. Auf solchen Wegen ist den Junkern nicht beizukommen.

Freilich – in den Tagen des Sozialistengesetzes bestand ein Zwang, der jeden Arbeiter jeden Tag sozusagen mit Gewalt auf den richtigen Weg stieß. Aber weshalb wären seitdem zwanzig Jahre reichster Erfahrung ins Land gegangen, wenn heute nicht der freie Blick in den inneren Zusammenhang der Dinge vermöchte, was damals zunächst ein äußerer Druck bewirkte?

1 Die 1908 von einem Teil der Freisinnigen gegründete bedeutungslose Partei dieses Namens ging bereits 1910 wieder in der Fortschrittlichen Volkspartei auf. (Führer: Theodor Barth, Helmut von Gerlach und Rudolf Breitscheid, der 1912 zur Sozialdemokratie übertrat.)

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