Franz Mehring‎ > ‎1909‎ > ‎

Franz Mehring 19090206 Aus Molochs Schuldbuch

Franz Mehring: Aus Molochs Schuldbuch

6. Februar 1909

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Erster Band, S. 689-692. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 418-422]

Im Jahre 1874, als der deutsche Reichstag seinen ersten entscheidenden Gang mit dem Militarismus unternehmen sollte, meinte der fortschrittliche Reichstagsabgeordnete Freiherr v. Hoverbeck, die Kämpfe gegen den Ultramontanismus und die Sozialdemokratie seien geringfügige Aufgaben, verglichen mit dem frischen fröhlichen Kampfe gegen den Militarismus, den die Fortschrittspartei rücksichtslos zu führen habe.

Hoverbeck war ein altpreußischer Demokrat vom Schlage der Waldeck und Ziegler, ein Mann, der über die schwarzweißen Grenzpfähle nicht hinausblickte, aber innerhalb ihrer nicht übel Bescheid wusste. Sein politischer Ehrgeiz reichte noch weiter als der politische Ehrgeiz der Mugdanesen, der mit einem Bierzipfel vierter Güte reichlich gestillt ist. Hoverbeck wusste recht gut, dass unter der Voraussetzung der preußischen Verhältnisse der Sozialismus wie der Ultramontanismus nicht nur kein Interesse daran hatten, die liberalen Parteien von der politischen Herrschaft abzusperren, sondern viel eher ein mehr oder minder großes Interesse, ihnen in den Sattel zu helfen; er sah ein, dass ihm und seiner Partei tatsächlich der Militarismus den Weg zur Macht versperrte. Aber Hoverbeck war damals schon ein weißer Rabe innerhalb des Liberalismus. Herr Friedrich Dernburg, der Vater des kolonialen Datteln- und Diamantenmannes, klagte über die „unglaubliche Geduld und Flauheit" des Reichstags, die ein solches „Phänomen von plumper Nüchternheit und klopffechterischer Plattheit", wie Hoverbeck sei, überhaupt noch zu Worte kommen lasse, und die liberale Reichstagsmehrheit schwang sich danach in ungeduldiger Begeisterung dazu auf, in ihrem ersten Gange mit dem Militarismus umzufallen, wie dann auch in allen späteren.

Diese historische Erinnerung wurde in uns wachgerufen, als wir in den Zeitungen lasen, dass am Geburtstag des Kaisers das Kriegsgericht in Darmstadt neun Dragonern insgesamt vierundzwanzig Jahre und etliche Monate aufgehängt hat, nicht etwa wegen widernatürlicher Unzucht; wie sie unter den Offizieren allzu oft vorkommt, auch nicht wegen viehischen Misshandlungen, wie sie unter den Unteroffizieren noch häufiger grassieren, sondern weil sie nach 9 Uhr noch Skat gespielt hatten, einem unteroffizierlichen Gebot zum Trotze. Dadurch sind sie einem viertel oder halben Dutzend von Paragraphen des Militärstrafgesetzbuchs verfallen, haben sich des militärischen Aufruhrs, der Achtungsverletzung, der Gehorsamsverweigerung und welcher militärischen Sünden sonst noch schuldig gemacht, büßen mit einem verfehlten Leben die harmlose Unbesonnenheit einer Viertelstunde. Es ist eine grauenvolle Vorstellung, aber im preußischen Kultur- und Rechtsstaat versteht sie sich ganz von selbst; wenn der Philister die Notiz liest, so schüttelt er vielleicht einen Augenblick seine Nachtmütze, aber dann hat er die unglücklichen Opfer des Militarismus vergessen, und aus dieser Stumpfheit lässt sich ihm nicht einmal ein Vorwurf machen; der Darmstädter Fall ist nur einer unter unzähligen und noch lange nicht der schlimmste seiner Art.

Was uns an ihm frappierte, war nicht sowohl der Umstand, dass Moloch in dieser Weise den Geburtstag des Kriegsherrn feierte, denn das mochte ein Zufall sein, sondern der auch nur zufällige, aber sofort eine sehr erklärliche Ideenassoziation anregende Umstand, dass die Notiz über die kriegsgerichtlichen Urteile in einem Zeitungsblatt stand, worin über die Verhandlungen der Reichstagskommission berichtet wurde, die konstitutionelle Garantien schaffen soll. Der schreiende Widerspruch liegt auf der Hand; es ist der reine Hohn, in einem Lande, wo ein Militarismus dieses Kalibers noch besteht, von Bürgschaften einer verfassungsmäßigen Entwicklung zu reden. Was bedeuten Spinnweben, wenn ein eiserner Sporn durch sie fährt? Man baut geschäftig Kartenhäuser auf, während der Gegner, vom Scheitel bis zur Sohle gewaffnet, von den Zinnen seiner waffenstarrenden Festung gemächlich zuschaut.

Es ist gesagt worden, dass solche Fälle, wie die kriegsgerichtlichen Verurteilungen in Darmstadt, gerade durch ihre herausfordernde Krassheit eben doch nur ein Beweis dafür seien, dass der Militarismus das nahende Ende in den Knochen spüre. Darin mag auch wohl eine gewisse Wahrheit liegen, aber sehr tröstlich ist sie nicht, solange der Militarismus durch seine Schreckensurteile die Angst, die ihn zu verzehren beginnt, wirklich noch zu bannen vermag. Ein greifbarer Anfang vom Ende wäre erst da, wenn jedes kriegsgerichtliche Urteil, das mit dreister Faust den Gesetzen der Menschlichkeit ins Gesicht schlägt, den berühmten Sturm der Entrüstung durch das Land hin anfachte. Denn so skeptisch wir solchen Stürmen an und für sich entgegenstehen, so erkennen wir doch bereitwillig an, dass im Lande der allgemeinen Wehrpflicht in allen Militärsachen auch die so genannte öffentliche Meinung eine Macht ist, der auf die Dauer nicht widerstanden werden kann, wenn sie sich nachdrücklich geltend macht. Aber daran fehlt es gänzlich, und solange es daran fehlt, ist es nicht ganz zutreffend, wenn unser Dortmunder Bruderblatt an die Darmstädter Ungeheuerlichkeit die Warnung knüpft: „Ich rate euch, nehmt euch in acht; es bricht noch nicht, jedoch es kracht!" Ja, wenn es wirklich krachen wollte! Aber solange es nicht einmal kracht, hat es mit dem Brechen seine guten Wege.

Um so mehr, als der Militarismus nicht bloß über die Schrecken der Kriegs-, sondern auch der Zivilgerichte verfügt, einschließlich des obersten Gerichtshofs im Deutschen Reiche. Es sei nur an den Hochverratsprozess gegen den Genossen Liebknecht erinnert. Vor einigen Monaten ist im Verlage der Buchhandlung Vorwärts unter dem Titel: Antimilitarismus und Hochverrat der Wortlaut des Urteils veröffentlicht worden, dem Liebknecht zum Opfer gefallen ist, „nebst einem kritischen Beitrag zur Naturgeschichte der politischen Justiz"; leider ist die kleine Schrift, die kaum zwei Druckbogen umfasst, in der Parteipresse wenig beachtet worden, was auch ein Beitrag zu der Frage ist, ob denn wirklich genug gegen den Militarismus „gekracht" wird.

Was die Schrift überaus lehrreich macht, ist der unleidliche Beweis, wie alle Garantien, die doch auf dem Gebiete der Rechtsprechung schon verbrieft und versiegelt sind, zu wanken beginnen, sobald ein klirrender Säbel in ihre Nähe kommt. Schon die Sachdarstellung des Urteils, der zusammenfassende Bericht über den Inhalt der angeklagten Schrift Liebknechts, gibt nicht nur den denkbar schiefsten Begriff von ihrem Inhalt und ihrer Tendenz, sondern strotzt von zahlreichen Unrichtigkeiten, die mehr oder minder den Angeklagten zu belasten geeignet sind. Da es bei dem höchsten Gerichtshofe des Deutschen Reiches natürlich ausgeschlossen ist, dass diese Unrichtigkeiten aus bösem Willen entspringen, so bleibt nur die Annahme übrig, dass mit einer Flüchtigkeit gearbeitet worden ist, die einen Tertianer, der in gleich flüchtiger Weise etwa den Inhalt einer Schillerschen Ballade wiedergäbe, die Versetzung nach Sekunda kosten würde. Es ist doch eine eigene Sache, wenn sich das Reichsgericht öffentlich in unanfechtbarer Weise nachweisen lassen muss, dass es einem „geradezu grotesken Missverständnis" zum Opfer gefallen, dass es dem Angeklagten „gräulichen Unsinn" unterstellt oder eine „ungeheuerliche Unrichtigkeit" gesündigt hat.

Was dann die strafrechtliche Würdigung des also hergestellten Tatbestandes angeht, so unterzieht die kleine Schrift das Urteil des Reichsgerichtes einer nicht minder treffenden als beißenden Kritik, die ebenso amüsant zu lesen ist wie das Urteil mit seiner papierenen Aktensprache und seinen juristischen Stilblüten langweilig.

Da die Rücksicht auf unseren Raum uns alles Eingehen auf Einzelheiten verbietet, so wollen wir hier nur eine Probe geben:

Nach alledem drückt sich der vom Reichsgericht gelieferte Beweis der Gewaltsamkeit des Liebknechtschen Planes kurzweg aus in dem Exempel: 0 + 0 + 0 + 0. Und das macht bei genauestem Zusammenzählen nicht mehr als eben 0! Aber eine rechtskräftige Null! Alle die schönen Konstruktionen haben den einen Fehler: Sie sind falsch und passen nicht zueinander, es wird kein Schuh draus. „Kopf, Rumpf und Schwanz – Es passt nicht ganz; Wolf, Fuchs und Lamm: wer flickt's zusamm?" Aber die Rechtskraft schafft die wahre concordia discordantium1. Wer kennt nicht jenen berühmten Shakespeareschen Weber Zettel, bei dem die Logik des menschlichen Leibes in das Fazit eines durchaus nicht menschlichen Kopfes ausmündete? Der verblendeten Titania aber wollte er ein Ausbund aller Schönheit und Logik dünken. Ob sich die Dame Justitia von der absonderlichen Logik unseres Urteils wohl auch zu dem Rufe begeistern lassen wird: Du bist so weise, wie du reizend bist? Doch damit genug von der „Gewalt".

Auf einen Punkt des Urteils müssen wir jedoch noch etwas näher eingehen, um seiner praktischen wie seiner symptomatischen Bedeutung willen. Bekanntlich hat das Reichsgericht gegen Liebknecht nicht auf Zuchthaus-, sondern auf Festungsstrafe erkannt, und zwar nach der mündlichen Verkündigung des Urteils, weil der Angeklagte aus einer politischen Überzeugung gehandelt habe, die, möge sie verkehrt sein oder nicht, den Voraussetzungen, die das Gesetz für eine ehrlose Gesinnung verlange, nicht entspreche. Darüber erhoben die Scharfmacherblätter und auch einige junkerliche Mitglieder des preußischen Dreiklassenparlamentes großes Lamento, und nun heißt es in der schriftlichen Ausfertigung des Urteils, der Gerichtshof habe ehrlose Gesinnung nicht festgestellt, „da nicht nachweisbar sei, dass der Angeklagte bei Abfassung der Schrift nicht nur seiner politischen Überzeugung folgte".

Das schriftlich ausgefertigte Urteil schränkt also in dieser Frage das mündlich verkündete Urteil wesentlich ein; es stellt nicht mehr positiv fest, dass der Angeklagte nicht ehrlos gehandelt hat, sondern erklärt die Ehrlosigkeit nur als nicht nachweisbar; es lässt die allgemeine Formulierung des Grundsatzes fallen, dass ein Handeln aus einer – gleichviel welcher – politischen Überzeugung die Ehrlosigkeit ausschließe, und endlich legt es durch die Worte „nicht nur" nahe, dass beim Hineinspielen anderer Motive Ehrlosigkeit anzunehmen sei. Mit anderen Worten: Der Weg zur Verhängung von Zuchthausstrafe auch über politische Hochverräter ist geöffnet; in geräuschlosem Handumdrehen wird eine wesentliche Verschlechterung des öffentlichen Rechtszustandes angebahnt.

Wir sagen nicht: post hoc propter hoc, oder, um das gute Latein in das schlechte Deutsch des Reichsgerichtes zu übersetzen: Die Feststellung, dass sich das Reichsgericht dem Geschrei der Junker und Scharfmacher gebeugt hat, können wir nicht treffen, da nicht nachweisbar ist, dass dieser Gerichtshof bei der Änderung des Urteils nicht nur seiner richterlichen Überzeugung folgte. Aber eine richterliche Überzeugung, die so hin und her schwankt, ist als Bollwerk gegen die Übergriffe des Militarismus nur eine papierene Schlange.

Ob bei dem Versuch des Reichstags, konstitutionelle Garantien zu schaffen, überhaupt etwas herauskommt, ist bekanntlich sehr fraglich, aber wenn dabei auch alles herauskommen sollte, was irgend herauskommen kann, so dürfen wir uns nicht darüber täuschen, dass auch dann noch gar nichts gewonnen ist, solange Dinge möglich sind wie das kriegsgerichtliche Urteil gegen die Darmstädter Dragoner oder das reichsgerichtliche Urteil gegen den Genossen Liebknecht.

1 concordia discordantium (lat.) – uneinige Eintracht (urspr.: concordia discors: die zur höchsten Einheit führenden Kämpfe der verschiedenen Naturkräfte).

Kommentare