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Franz Mehring 19090717 Der Kanzlerwechsel

Franz Mehring: Der Kanzlerwechsel

17. Juli 1909

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Zweiter Band, S. 561-564. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 448-452]

Fürst Bülow ist nunmehr gegangen, begleitet von einem dichten Schwarm stachliger Nachrufe, das verdiente Schicksal eines Mannes, der es allen recht machen wollte und es tatsächlich keinem recht gemacht hat. Für den Honig, den er ihnen geboten hat, kredenzen sie ihm Galle, und nur die eine Partei, die nichts mit ihm zu schaffen gehabt hat, die von ihm immer bekämpft und, wie er sich einbildet, sogar besiegt worden ist, gibt ihm den gelassenen Abschied, ohne Eifer und Zorn.

In einem glänzenden Artikel, einem kleinen Meisterwerk ökonomisch-kritischer Analyse, zieht der „Vorwärts" das Fazit der Ära Bülow. „Fürst Bülow war stark, solange ihn die stützten, deren Machtinteressen er gegen das Lebensbedürfnis des deutschen Volkes vertreten hat. Als sie ihn verließen, da stand seine eigene reaktionäre Vergangenheit gegen ihn auf, und der Kanzler, der stets ein Kanzler der Junker und der Kapitalmagnaten und nie ein Diener des deutschen Volkes gewesen ist, konnte den Appell an das Volk nicht wagen." Zur selben Stunde, wo diese Zeilen geschrieben wurden, erklärte Bülow einem Ausfrager, dass er die Auflösung des Reichstags nicht gewagt habe aus Furcht vor einem sozialdemokratischen Wahlsieg, vor einer „gar nicht abzuschätzenden Verstärkung" der sozialdemokratischen Mandate.

Es kennzeichnet diesen so genannten „Staatsmann", dass er in demselben Atemzuge für sich beanspruchte, „die Sozialdemokratie nicht nur in ihren Führern rednerisch überwunden, sondern ihr eine schwere, praktisch und politisch bedeutungsvolle Wahlniederlage beigebracht", dass er sich rühmte, bewiesen zu haben, wie man die Sozialdemokratie „auch ohne Ausnahmegesetze und Polizeimaßregeln besiegen" könne. Welch seltsamer Sieger, der sich von der junkerlichen Faust abwürgen lässt, aus zitternder Sorge und in der sicheren Zuversicht, dass die einzige Möglichkeit des Widerstandes ihn und sein ganzes System der Sozialdemokratie vor die Füße werfen würde.

Bülow ist an der Blockpolitik gescheitert wie Bismarck an der Kartell- und Miquel an der Sammelpolitik. Nicht als ob er diesen Vorgängern politisch irgend gewachsen gewesen wäre; selbst sein getreuester Leibmameluck, der bekannte Offiziöse der „Frankfurter Zeitung", schnellt ihm den Partherpfeil nach: „Vielen Einzelheiten, auch wichtigen, stand er fremd gegenüber; mancher fleißige Parlamentarier war entsetzt über die Unkenntnis des leitenden Mannes." Immerhin enthüllt dieser echte Lakaienstreich nur, was jedermann wusste; Bülow war nie mehr als ein amüsanter Plauderer, und wenn er gleichwohl nahezu ein Jahrzehnt und scheinbar sogar mit größerem Erfolg die Politik der Bismarck und Miquel treiben konnte, so nicht, weil er sich mit ihnen auch nur entfernt messen konnte, sondern weil für ihn die Umstände günstiger lagen, weil er nicht mehr über Felsen zu klettern, sondern nur noch durch den Sumpf zu waten brauchte.

Je mehr sich herausstellte, dass die gewerkschaftliche und politische Organisation der Arbeiterklasse nicht aufzuhalten und noch viel weniger auszurotten sei, je mehr die Sozialdemokratie jeder einzelnen bürgerlichen Partei über den Kopf wuchs, um so mehr ergab es sich aus den Dingen selbst, dass alle bürgerlichen Parteien sich zusammenschlossen, um den Feind niederzuhalten, der sie alle bedrohte, und zwar um so mehr, als jeder Kampf zwischen den bürgerlichen Parteien so oder so Wasser auf die proletarischen Mühlen trieb. Jedoch sind die Klassengegensätze innerhalb der bürgerlichen Welt viel zu scharf und schroff, als dass sie sich binnen kurzer Frist hätten völlig ausgleichen lassen. Zwar über eine gewisse Gemeinsamkeit der Interessen war man sich von vornherein klar; alle bürgerlichen Parteien eilten zum Beispiel der Partei zu Hilfe, die bei einer Stichwahl in den Reichstag mit der Sozialdemokratie rang. Allein wo es sich um materielle Interessen handelte, wo etwa der Kapitalprofit vor der Grundrente kapitulieren sollte oder umgekehrt, da steiften sich doch hüben und drüben die Rückgrate, und es bedurfte der Zeit, sie allmählich mürbe zu machen.

Ohne eine solche Kartell- oder Sammel- oder Blockpolitik kann im Reiche überhaupt nicht regiert werden, es sei denn, dass die Sozialdemokratie eine ohnmächtige Sekte würde oder ganz vom Erdboden verschwände. Die Sammelpolitik ist von keinem genialen oder nichtgenialen Staatsmann erfunden worden, sondern für die herrschenden Klassen ein Gebot der Notwendigkeit, das sich unabweisbar aufdrängt. Und nicht ohne triftigen Grund müssen die Träger dieser Politik in erster Reihe den Junkern um den Bart gehen, was der liberale Herr Miquel bekanntlich nicht weniger eifrig getan hat als die geborenen Junker Bismarck und Bülow. Denn das Junkertum beherrscht die ganze Staatsmaschine; es lässt ändere Parteien sehr ungern an die Staatskrippe und setzt sie dann auf die kürzesten Rationen. Das geschieht ebenso aus angeborenem Geize und unersättlicher Habsucht wie auch aus Sorge, dass ihm der „leitende Staatsmann" nicht aus den Fingern geht, der in dem Maße, wie er auch andere Parteien zu „sammeln" versteht, von den Junkern unabhängiger werden würde.

Unter Bismarck und Miquel war der Selbstzersetzungsprozess des bürgerlichen Parteiwesens immerhin noch nicht so weit vorgeschritten, als dass sie nicht mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt hätten; es gab immer noch einzelne Parteien, die ihre Prinzipien oder doch ihre Interessen nicht so ohne weiteres aus bebender Angst um Haut und Beutel für ein Linsengericht verkaufen wollten. Bismarck und Miquel mussten die reifenden Früchte ihrer Korruptionspolitik ihrem glücklichen Nachfolger überlassen, und Bülow hat sie denn auch geerntet; in seinem Sturze kann er sich damit trösten, dass er die Freisinnigen wie die Ultramontanen, die seinen Vorgängern noch so manchen Stein in den Weg gewälzt hatten, als politische Mollusken hinterlässt, denen kein Knöchelchen mehr im Leibe steckt.

Bülow begann damit, um die Gunst der Junker zu buhlen, sich für einen „agrarischen" Reichskanzler zu erklären und ein solides Unterpfand seines Wohlverhaltens zu geben, indem er durch den Zolltarif von 1902 die ländliche Grundrente um etwa eine halbe Milliarde jährlich steigerte. Dabei fielen dann noch gewaltige Summen für die kartellierten Kapitalmagnaten, ein parlamentarischer Staatsstreich, der die Rechte der Minderheit kappte, und der – Umfall des Freisinns ab, was alles denn schon ein hübscher Anfang war. Im Sommer 1903 kam freilich ein harter Rückschlag, ein beispielloser Wahlsieg der Sozialdemokratie, aber auch aus diesem Becher der Wermut vermochte der „glückhafte" Kanzler seinen Honig zu saugen. Denn je mächtiger die Sozialdemokratie wurde, umso notwendiger wurde auch der Zusammenschluss der bürgerlichen Parteien unter der Ägide Bülows.

Inzwischen zwang ihn die Schutzzollpolitik, durch die er den junkerlichen und kapitalistischen Heißhunger sättigte, zu einer ausgreifenden Kolonialpolitik, die nicht nur den Volksmassen neue, unerschwingliche Opfer auferlegte, sondern auch eine Reihe internationaler Verwicklungen nach sich zog, von denen selbst der bescheidenste Bewunderer Bülows nicht behaupten konnte, dass sie ihn mit Ruhm bedeckt hätten. Im Gegenteil sank das internationale Ansehen des Reiches so tief, dass nur die preußische Geschichte in den Perioden von Jena und Olmütz Gegenbilder dazu bot. Ob Bülow bei all diesen Blamagen der Alleinschuldige oder ob und inwieweit er nur ein Mitschuldiger gewesen ist, kann einstweilen dahingestellt bleiben; jedenfalls war sein Glanz bedenklich im Erbleichen, und er muss schon in einer ziemlich verzweifelten Situation gewesen sein, als er im Dezember 1906 den Reichstag auflöste um eines verhältnismäßig ganz unbedeutenden Streites willen, den er mit dem Zentrum hatte.

Es war ein gewagtes Spiel, über dessen Gründe und Zwecke heute noch nicht völlige Klarheit zu gewinnen ist. Und Bülow gewann es nur scheinbar. Er nahm den Ultramontanen, die er niederschmettern wollte, auch nicht einen Sitz ab, und wenn er bei den Hottentottenwahlen von 1907 der Sozialdemokratie ziemlich die Hälfte ihrer parlamentarischen Mandate abjagte, ähnlich wie Bismarck einst bei den Faschingswahlen von 1887, so geschah es mit gleich schäbigen Mitteln, und nur denselben unabwendbaren seines baldigen Todes. Die „konservativ-liberale Paarung" war den Junkern viel unangenehmer als die „ultramontane Nebenregierung", und sie waren viel weniger geneigt, den Liberalen irgendwelche Zugeständnisse zu machen als den Ultramontanen. Nur darin hatte sich Bülow nicht verrechnet, dass die Liberalen das äußerste Maß von Demütigung auf sich nahmen, um sich „regierungsfähig" zu erhalten; aber auch für sie gab es eine gewisse Grenze, die sie nicht überschreiten konnten, ohne allen Kredit bei ihren Wählern zu verlieren. Über die Furcht vor dem Verlust ihrer Mandate konnten selbst die Mugdanesen nicht durch die roten Adler vierter Güte getröstet werden, die ihnen Bülow freigebig genug spendete.

Vor allem aber – wenn Bülow das Ziel erreichte, im Block eine dauernde Stütze zu gewinnen, so wurde er den Junkern viel zu mächtig, und sie stellten sich dem Block-Bülow gegenüber wie einst dem Kartell-Bismarck, als Stoecker seinen Scheiterhaufenbrief schrieb und Diest-Daber drohte: Er muss so klein gemacht werden, dass er jedem hinterpommerischen Junker aus der Hand frisst. Sie fanden bereitwillige Helfer an den Ultramontanen und Polen, die ihre Revanche an Bülow haben wollten, und so nahm die Ära Bülow das verdiente Ende mit Schande und Schrecken. Jetzt mag der Gefallene seine Klagelieder darüber anstimmen, dass ihn die Junker gestürzt haben, aber ein Recht, ihnen frivole Politik vorzuwerfen, hat der Held des Wuchertarifs und der Hottentottenwahlen nicht. Da heißt es: Gleiche Brüder, gleiche Kappen!

An der allgemeinen Lage der Dinge wird durch Bülows Sturz nichts geändert. Sein Nachfolger v. Bethmann Hollweg soll ein ernsterer und gebildeterer Mann sein als Bülow, aber auch wenn dem so wäre, wird er sich höchstens noch früher abwirtschaften als dieser. Er hat es einmal für ein „Unglück" erklärt, dass bei allen gesetzgeberischen Akten auf die Sozialdemokratie zurückgeblickt werde, allein um dies „Unglück" wird er ebenso wenig herumkommen wie seine Vorgänger. Freilich sind die Liberalen durch ihre Teilnahme an Bülows Politik und die Ultramontanen durch ihre Teilnahme am Schnapsblock so gründlich diskreditiert, dass sie der Regierung keine ernsthafte Opposition mehr machen können, und eine Weile mag der neue Reichskanzler mit seiner halben Milliarde neuer Steuern wohl fortwursteln, allein dem Schicksal der Bismarck, Miquel und Bülow wird er auch nicht entgehen.

Der Aufruf, den der sozialdemokratische Parteivorstand heute erlässt, „aufzuräumen mit den Volksverrätern und Volkszertretern", wird bei den kommenden Wahlen ein millionenfaches Echo finden, und mag Herr v. Bethmann Hollweg sein Auge vor dem „Unglück" verschließen: Der Henker steht doch vor der Türe.

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