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Franz Mehring 19090306 Der permanente Selbstmord

Franz Mehring: Der permanente Selbstmord

6. März 1909

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Erster Band, S. 857-860. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 423-427]

Nach dem feierlichen Gespreize von einigen Tagen, wonach sie dieses Mal nicht umfallen würden, sind die Freisinnigen nun doch umgefallen, allerdings nur „vorläufig" und „unter Vorbehalt". Auch soll eine starke Minderheit in der freisinnigen Fraktionsgemeinschaft sich dagegen gesträubt haben, und jedenfalls räsonieren manche freisinnige Organe, sogar die sanftmütige Tante Voss, gegen die neueste Machenschaft, die unter der Form eines so genannten Kompromisses dem Freisinn das Gebot der Junker auferlegt.

Es handelt sich bei diesem Kompromiss um den Plan, der schon vor acht Tagen an dieser Stelle erwähnt wurde, um den Plan, die Matrikularbeiträge um den Betrag zu erhöhen, der durch die Nachlasssteuer aufgebracht werden sollte, und die Einzelstaaten zu binden, dass sie diesen Betrag durch „Besitzsteuern" aufbringen sollen. In ihren Einzelheiten ist die saubere Bescherung aber noch ruch- und sinnloser ausgefallen als nach den allgemeinen Zügen, in denen sie zuerst auftauchte. Die Höhe der neuen „Besitzsteuer" wird nicht bestimmt; sie darf nur bis zum 1. April 1914 die Summe von 100 Millionen Mark nicht überschreiten und dann von fünf zu fünf Jahren um nicht mehr als fünf vom Hundert erhöht werden. Jeder Antrag auf Änderung dieser Vorschrift soll als Verfassungsänderung behandelt werden, das heißt als abgelehnt gelten, wenn 14 unter den 58 Stimmen des Bundesrats dagegen abgegeben werden. Wohl aber kann die „Besitzsteuer" je nach der Lage des Reichshaushaltes jährlich auf 50 oder 20 Millionen ermäßigt oder ganz beseitigt werden.

Den Einzelstaaten aber ist überlassen, die „Besitzsteuer" durch Zuschläge zur Einkommensteuer aufzubringen, wobei nur Einkommen unter 3000 Mark frei bleiben sollen. Selbst die „Post" erkennt an: „Die Besteuerung des Arbeitereinkommens, namentlich in den mittleren Einkommenslagen, fällt in der Tat weder nach dem Wortlaut noch nach dem Sinne unter den Begriff einer Besitzsteuer." Und die „Vossische Zeitung" erklärt voll sittlicher Entrüstung, es sei ein Missbrauch des Wortes, eine Verschleierung der Wahrheit, Zuschläge zur Einkommensteuer, selbst völlig vermögensloser Personen, Besitzsteuer zu nennen. Was in keiner Weise gehindert hat, dass die politischen Freunde des empörten Blattes sich mit dieser „Verschleierung der Wahrheit" abgefunden haben – „vorläufig" und „unter Vorbehalt".

Die „Vossische Zeitung" und in ähnlicher Weise das „Berliner Tageblatt" müssen noch böse Mienen zum bösen Spiel machen, da sie einen mehr oder minder großen Leserkreis besitzen gerade auch in denjenigen Bevölkerungsschichten, die durch diesen neuesten Blockverrat an ihrem Geldbeutel empfindlich berührt werden. Die „Freisinnige Zeitung", die solche Rücksichten nicht zu nehmen hat, da sie unter Ausschluss der Öffentlichkeit erscheint, feiert ihrerseits den Schwindel als einen Sieg des liberalen Gedankens über agrarische Anschauungen. Sie schreibt: „Bisher war von der Rechten und vom Zentrum wie auch von der Regierung die Theorie vertreten worden: die indirekten Steuern für das Reich, die direkten für die Einzelstaaten. Dieser Standpunkt ist jetzt aufgegeben und die Bahn für den Ausbau der direkten Reichssteuern frei gemacht." Der Knuten-Oertel begnügt sich, in seiner „Deutschen Tages-Zeitung" diese tiefsinnige Weisheit mit zwei Ausrufungszeichen zu registrieren, die in blockbrüderlicher Höflichkeit den agrarischen Kernfluch umschreiben: Verdammter Blödsinn!

So ohne jede Bedeutung die „Freisinnige Zeitung" als Organ der Presse ist, sosehr ist sie das Sprachrohr der Mugdanesen, und so groß ist demgemäß die Wahrscheinlichkeit, dass diese Biedermänner ihren permanenten Selbstmord fortzusetzen entschlossen sind und „unentwegt", wie immer, aus dem halben Umfall einen ganzen Umfall machen werden. Sie fürchten den schwarzen Mann, aus dem in unserer vorigen Nummer ein Druckfehler sehr irrtümlich einen „schwachen Mann" gemacht hat: Sie fürchten das Zentrum, und es scheint, dass Bülow alles getan hat, sie vor dem verhassten Nebenbuhler noch besonders graulich zu machen. Diese Sorge kann ihnen auch nicht die „Vossische Zeitung" wegräsonieren, indem sie behauptet, der Freisinn dürfe der Sprengung des Blocks ohne Zagen und Zittern entgegensehen. Das wissen die um Fischbeck, Kopsch und Wiemer besser. Sie können in der zwölften Stunde nicht mehr die politische Ehre retten, die sie den ganzen Tag über preisgegeben haben; kracht der Block zusammen, so können sie nicht, wie ihnen das die „Vossische Zeitung" vormacht, stolz erhobenen Hauptes als der edelmütig irrende Ritter Don Quichotte zurückkehren; vielmehr wie geprügelte Sancho Pansas traben sie dann auf ihren Eseln heim. Aus Angst vor dem Ende mit Schrecken wählen sie die Schrecken ohne Ende.

Noch hoffen sie, dass die Hefe des Kelches an ihnen vorübergehen wird, im Vertrauen auf den Bundesrat. Diese Nachfahren der alten Unitarier Waldeck und Ziegler sind nun glücklich so weit gekommen, den letzten Anker der Rettung beim Partikularismus zu suchen. Ohne Zweifel ist die neue „Besitzsteuer" ein harter Bissen für die Regierungen der deutschen Einzelstaaten; ihre „Finanzhoheit" geht rettungslos zum Teufel, wenn gemäß dem Finanzkompromiss der Bundesrat für diejenigen Staaten, die sich nicht fügen und nicht selbst für „Besitzsteuern" im Sinne dieses Kompromisses sorgen, solche Steuern anordnen darf. Nach der Behauptung ultramontaner Blätter soll der Reichskanzler sogar die Freisinnigen durch die Aussicht kirre gemacht haben, dass der Bundesrat dem Kompromiss seine Zustimmung versagen werde. Die Wahrheit dieser Behauptung mag füglich dahingestellt bleiben, aber es ist sicher, dass die mittel- und kleinstaatlichen Regierungen in ihrer Weise an dem Finanzkompromiss nicht minder schwer zu schlucken haben als der Freisinn in seiner Weise.

Aber von ihnen ist auch nicht mehr zu erwarten als vom Freisinn. Der Vertreter der Krone Bayern hat bereits erklärt, die verbündeten Regierungen dächten an keine Auflösung des Reichstags, und wie sie anders als durch ein Aufgebot der Massen den Trotz der ostelbischen Junker brechen wollen, das sollen sie erst zeigen. Seit vierzig Jahren haben diese Regierungen gern oder ungern getanzt, wie die Junker pfiffen, und es ist nicht gut zu erwarten, dass sie nun endlich noch ein Rückgrat finden, das sie vier lange Jahrzehnte hindurch haben vermissen lassen. Freilich kann man einwenden, hier handle es sich nicht um Volksrechte, die zu verraten die bayerische und die anderen deutschen Regierungen immer so bereitwillig gewesen sind wie die preußische Regierung, sondern in erster Reihe um die „Finanzhoheit" der Einzelstaaten, also um eine Sache, bei der auch für das souveräne Selbstbewusstsein die Gemütlichkeit aufhört. Möglich ist es danach immerhin, dass der „föderative Charakter" des Reiches bei dieser Gelegenheit im Bundesrat stärker rumoren wird als sonst wohl, aber dass der Bundesrat die Nachlasssteuer gegen den Willen der Junker durchsetzen wird, das werden wir erst glauben, wenn wir es sehen.

Weshalb die Junker gegen die Nachlasssteuer fechten, als gälte es ihr Leben oder ihren Tod, das hat inzwischen Professor Delbrück in den „Preußischen Jahrbüchern" verraten. Mag man die junkerliche Habgier so hoch einschätzen, wie sie sich seit Jahrhunderten stets erwiesen hat, so befremdet es immerhin auf den ersten Blick, dass sie sich mit so wilder Wut gegen den Versuch selbst der preußischen Regierung auflehnt, einen verhältnismäßig sehr geringfügigen Teil der öffentlichen Lasten auf die Schultern der besitzenden Klassen zu wälzen. Schließlich leben wir doch nicht mehr in den Zeiten der feudalen Weltanschauung, wo das Junkertum in zynischer Frechheit das Vorrecht der Steuerfreiheit beanspruchen konnte; man sollte meinen, schon das eigene Interesse geböte jeder besitzenden Klasse, wenigstens den Schein zu wahren, und über die bloße Wahrung des Scheines, als trügen die besitzenden Klassen verhältnismäßig ebenso zu den öffentlichen Lasten bei wie die besitzlosen Klassen, geht ja die ganze Nachlasssteuer nicht hinaus. Sonst hätte die Regierung sie überhaupt nicht vorgeschlagen, und das mobile Kapital würde sich ihr nicht mit sauersüßer Miene unterwerfen.

Herr Delbrück erklärt nun den Widerstand des Junkertums gegen die Nachlasssteuer aus der gewerbsmäßigen, in kolossalem Umfang betriebenen Steuerhinterziehung dieser angenehmen Klasse. Ihre Scheu davor, dass bei der Schätzung des Nachlasses durch den Reichssteuerinspektor herauskommen werde, um wie viel das Einkommen oder das Vermögen des Erblassers bei seinen Lebzeiten zu gering deklariert worden war, sei der greifbare Teil der zarten Sorge, die sie für das Heiligtum der germanischen Familie bekunde. Und gewiss müsste es das Zartgefühl junkerlicher Kinder- und Witwenherzen verletzen, wenn der Gatte und Vater an der offenen Gruft als gewerbsmäßiger Gauner entpuppt werden würde.

Natürlich schäumen die junkerlichen Blätter vor Wut über diese Enthüllung, die alle Wahrscheinlichkeit für sich hat, ja die in Ostelbien eine stadt- und landbekannte Tatsache ist. Was an dem Aufsatz des Professors Delbrück frappiert, ist nicht sowohl, dass die Tatsache ausgesprochen, als dass sie von einem Manne ausgesprochen wird, der eher konservative als liberale Anschauungen hegt. Jedoch was noch mehr an dem Aufsatz frappieren sollte als das Übel, das er denunziert, ist das Heilmittel, das er bereithält. Indem Herr Delbrück die Klasse des Junkertums eines auf großer Stufenleiter regelmäßig betriebenen Betrugssystems zeiht, weiß er nichts Besseres vorzuschlagen, als – dieses Betrugssystem zu sanktionieren, um die Nachlasssteuer im Reichstag durchzusetzen. Er schlägt vor, der „Reichsfinanzreform" eine Klausel einzufügen, dass die letzte Steuerdeklaration des Erblassers auch für die Nachlasssteuer maßgebend sein sollte oder wenigstens, dass, wenn irgendeine andere Schätzung eintrete, der Fiskus aus ihr kein Recht auf eine Nachforderung in der Vermögenssteuer ableiten dürfe.

Wir finden auch hier den permanenten Selbstmord, der alle bürgerlichen Gegner des Junkertums kennzeichnet. Um ein Zehntel von den Junkern zu erhalten, gibt man ihnen von vornherein neun Zehntel preis, ohne zu begreifen, dass man dadurch den Junkern die bequemste Handhabe liefert, auch das letzte Zehntel zu behaupten. Wer den Junkern gegenüber nicht aufs Ganze geht, nach ihrer eigenen praktischen Methode, der wird sie nie besiegen.

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