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Franz Mehring 19090328 Der zerfallende Block

Franz Mehring: Der zerfallende Block

28. März 1909

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Zweiter Band, S. 1-4. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 432-435]

Man könnte auch von einer „Sprengung des Blocks" reden, denn selbst die bisher blockfreudigsten Organe scheuen sich nicht, diesen Ausdruck zu gebrauchen. Aber sprengen kann man schließlich nur, was einen gewissen festen Zusammenhalt hat; man kann einen Felsen sprengen oder auch ein Regiment, aber der Block zerfällt wie das Gewebe eines Körpers, an dem der Krebs nagt, und auch kundige Ärzte wissen den letzten Atemzug des Kranken nicht so ganz genau anzugeben.

Einstweilen sieht es freilich nicht sehr danach aus, als ob sich die Agonie noch lange hinzögern könne. Unmittelbar noch nicht bei der Nachlasssteuer, sondern bei der Branntweinliebesgabe von 45 Millionen jährlich, die die junkerlichen Schnapsbrenner mit Gott für König und Vaterland in dem Augenblick, wo sie danach trachten, den darbenden Massen eine halbe Milliarde neuer Steuern aufzubürden, nicht nur nicht preisgeben, sondern noch um jährlich 10 Millionen erhöhen wollen, ist es zum Klappen gekommen. Über diesen Stock wollten die liberalen Blockbrüder doch nicht springen, und so haben die Junker denn vorläufig gemeinsam mit den Ultramontanen, den Antisemiten und den Polen die schnapsbrennerischen Interessen befriedigt, mit der höhnischen Botschaft an die bisherigen Blockgenossen, in allen „nationalen Fragen" könne der Block ja weiter bestehen, aber in Geldfragen höre die Gemütlichkeit auf.

Die junkerliche Habgier feiert einmal wieder ihre Triumphe, und man kann der guten Tante Voss nicht so unrecht geben, wenn sie meint: „Hüllenloser ist die agrarische Unersättlichkeit kaum jemals in die Erscheinung getreten als mit einem Beschluss, der in einem Augenblick, wo an die Steuerkraft der Nation die höchsten Anforderungen gestellt werden, leichtherzig 10 Millionen an eine Interessentengruppe verschenkt, die ohnehin schon seit Jahren zu den anspruchsvollsten Kostgängern der Reichsfinanzen zählt." Die Junker spielen selbst für ihre Verhältnisse ein etwas hohes Spiel. Sie haben eigentlich alle Welt gegen sich, denn auch die Ultramontanen würden es lieber sehen, wenn der Block noch die „Reichsfinanzreform" auf seine Kappe nähme, und die preußische Regierung, sosehr sie sonst nach der junkerlichen Pfeife zu tanzen gewohnt ist; wird einigermaßen lahm gelegt durch die mittel- und kleinstaatlichen Regierungen, die in der Verteidigung ihrer „Finanzhoheit" eine Zähigkeit beweisen, die man sonst an ihnen noch nicht erlebt hat. Schließlich beginnt sich auch die „Volksseele" zu regen; der ekelhafte Anblick, dass die Junker sich selbst dagegen noch sträuben, dass von den 500 Millionen neuer Steuern wenigstens der fünfte Teil auf die besitzenden Klassen fällt, rüttelt nachgerade die schläfrigsten Philister auf, und das hörbare Murren der liberalen Spießbürger scheint denn auch die „staatsmännischen" Gelüste der Kopsch, Mugdan und Wiemer einigermaßen gebändigt zu haben.

Inzwischen wenn den Ultramontanen auch nicht sehr wohl dabei zumute sein mag, dass sie den Junkern die Kastanien aus dem Feuer holen sollen, so ist ihr Gelüsten doch sehr groß, wieder das Zünglein an der parlamentarischen Waage zu werden. Flickt nun aber eine konservativ-ultramontane Mehrheit die „Reichsfinanzreform" nach ihrer Weise zusammen, so fragt es sich, ob der Reichskanzler diese Gabe aus diesen Händen entgegenzunehmen bereit ist. Darauf antworten die junkerlichen Organe: Natürlich, das ist ja ganz selbstverständlich. Aber ein ärgerer Schimpf ist wohl noch niemals einem leitenden Minister zugefügt worden. Fürst Bülow soll den „nationalen Aufschwung" der Wahlen von 1907 für reinen Humbug erklären; er soll durch das kaudinische Joch der ultramontanen „Nebenregierung" kriechen, und er soll durch den Verzicht auf die Nachlasssteuer seine Kollegen vom Bundesrat verraten. Ist es für die Junkerpresse ganz zweifellos, dass Bülow zu allen diesen Dingen bereit und fähig sei, so mag sie am Ende ihren „agrarischen Reichskanzler" kennen, aber es will profanem Verstand fast unglaublich erscheinen, dass es einen Politiker geben soll, und sei dieser Politiker selbst ein Fürst Bülow, der ein solch gestrichenes Maß von Demütigungen auf sich nähme.

Daher mögen denn auch die Gerüchte von einer bevorstehenden Auflösung des Reichstags entstanden sein. Aber es ist wieder nicht abzusehen, was mit diesem verzweifelten Streiche für Bülow gerettet werden kann. Eine halbe Milliarde neuer Steuern ist eine verzweifelt schlechte Wahlparole, und man bringt die Massen nicht auf die Beine für das höchst bescheidene Ziel, den fünften Teil davon auf die besitzenden Klassen abzuwälzen. Da gehen sie lieber gleich aufs Ganze, mit anderen Worten: Sie gehen gleich zur Sozialdemokratie, und das ist für Bülow ja das Entsetzlichste von allem, viel entsetzlicher noch als eine ultramontane „Nebenregierung". Gerade weil vom sozialdemokratischen Standpunkt nichts sehnlicher zu wünschen wäre als neue Wahlen, sind sie im höchsten Grade unwahrscheinlich.

Am nächsten läge dem Kanzler immer noch, den Block abermals zusammenzuleimen, und an Bemühungen für diesen edlen Zweck wird es nicht fehlen. Einen Schimmer der Hoffnung bietet die Tatsache, dass sich die freikonservative Fraktion dem konservativ-ultramontanen Rütli für die Schnapsbrenner nicht angeschlossen hat. Allerdings der Ton, den die bisherigen Blockbrüder gegeneinander anschlagen, lässt an herzerfrischender Deutlichkeit nichts vermissen, aber das hat nicht allzu viel auf sich, gemäß dem alten Sprichworte: Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Auch die verschimmelte Phrase: Zurück auf die Schanzen!, die einzelne todesmutige Freisinnshäuptlinge aus dem Kehricht der Jahrzehnte hervorsuchen, wird niemandem imponieren. Als ob der Freisinn mit einem abgegriffenen Blech alle die Schulden zahlen könnte, die er in der Blockära aufsummiert hat! Geht das Wrack aus dem Leim, so fallen die Payer und Genossen, die auf ihm vor Wind und Wetter trieben, rettungslos ins Wasser, und die freisinnige Presse täuscht nicht einmal sich selbst, sondern will nur ihre Leser täuschen, wenn sie so tut, als ob der Freisinn der Auflösung des Blocks mit aller Seelenruhe entgegensehen könne, als ob die freisinnige Fraktionsgemeinschaft wieder in aller Herrlichkeit strahlen würde, wenn sie von den Junkern, denen sie zwei Jahre lang die schimpflichsten Knechtesdienste geleistet hat, nun endlich mit einem Fußtritt verabschiedet wird.

Kann der Block überhaupt noch einmal zusammengeleimt werden, so ist die freisinnige Opposition nicht das gefährlichste Hindernis, ja überhaupt kein wirkliches Hindernis. Der Hausknecht des Junkertums wird sich schließlich mit dem bescheidensten Trinkgeld abspeisen lassen. Schwieriger ist die Frage, wie der Konflikt ausgeglichen werden soll, der dadurch entstanden ist, dass die mittel- und kleinstaatlichen Regierungen um ihrer „Finanzhoheit" willen an der Nachlasssteuer festhalten, während die preußischen Junker sich gegen die Nachlasssteuer so festgelegt haben, dass ihnen der Rückzug nicht möglich ist, ohne sich gründlich zu blamieren. Hier ist das Kreuzfeuer, von dem schwer abgesehen werden kann, wie Bülow sich aus ihm retten will. Die Interessen, die sich hier gegenüberstehen, lassen sich nicht beschwatzen, am wenigsten durch die „nationalen Interessen", auf die, sobald es sich um den Nervus rerum handelt, die Regierungen ebenso pfeifen wie die Junker.

So ist es gewiss ein verzweifeltes Unternehmen, den Block noch einmal zusammenzuleimen, und glücklich, wer sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen braucht! In dieser glücklichen Lage befindet sich die Sozialdemokratie, die in aller Beschaulichkeit der Entwicklung der Dinge zuschauen kann. Aus dem Durcheinander der „Reichsfinanzreform" kann keine der bürgerlichen Parteien mehr heraus, ohne so oder so schwere moralische und politische Einbußen erlitten zu haben; die Junker sowenig wie die Ultramontanen oder die Liberalen. Die an sich recht jämmerliche Frage, ob endlich einmal von der riesenhaft anschwellenden Schulden- und Steuerlast ein verhältnismäßig geringer Teil durch die besitzenden Klassen getragen werden soll, hat völlig genügt, das mühsam aufgeschwindelte Gebäude von hochtrabenden Phrasen zu zerstören, womit die besitzenden Klassen ihre nackte Selbstsucht verkleiden; in blödem Eigennutz grinsen sie einander an und zerfleischen sich bis auf die Knochen, gänzlich unbekümmert darum, was aus der „nationalen Ehre" und den „vaterländischen Interessen" wird, die sie sonst hochpreislich vor sich hertragen.

Das ist gewiss nichts Neues für das klassenbewusste Proletariat, aber wohl kommt die Tragikomödie wie bestellt, um die Massen aufzurütteln, die bisher noch nicht zu erkennen vermocht haben, worum es sich in den Kämpfen der Gegenwart handelt. Ein sprechendes Zeugnis dafür sind die ängstlichen Sorgen der bürgerlichen Ideologen, die in einer Massenpetition „hoch angesehener Männer" dem Reichstag ihr bekümmertes Herz ausschütten und ihn anflehen, er möge doch endlich mit dem gräulichen Spektakel aufhören, der dem Volke allzu weit die Augen öffne. Es muss weit gekommen sein, wenn Leute wie Schmoller und Wagner, die ihre siebzig Jahre hinter sich und wohl am wenigsten dazu beigetragen haben, die agrarische und fiskalische Begehrlichkeit großzuziehen, den Kassandraruf erheben, aber sie fühlen nicht ohne Grund das Feuer auf ihren Nägeln brennen.

Ihre Mahnungen und Warnungen werden ungehört verhallen; wann hätte die weiseste Predigt je eine Schar bissiger Hunde auseinander gebracht, die um einen Knochen miteinander raufen! Das Toben und Wüten wird weitergehen, bis die Schwächeren ermattet sind und die Stärkeren den Platz behaupten. Heute ist nur erst ein Gewinn gesichert, der, um einmal beim Freisinnslexikon eine Anleihe zu machen, „ganz und voll" dem Konto der Sozialdemokratie zufällt: Nach solcher gegenseitigen Selbstkritik der bürgerlichen Parteien zieht der „nationale" Schwindel der Reichstagswahlen von 1907 niemals wieder.

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