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Franz Mehring 19090123 Der zweite Geburtstag

Franz Mehring: Der zweite Geburtstag

23. Januar 1909

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Erster Band, S. 625-628.Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 410-413]

Der Block feiert in diesen Tagen seinen zweiten Geburtstag, aber die Blockgenossen stimmen keine Festgesänge hinter Braten und Wein an. Eher gehen Todesschauer durch ihr klapperndes Gebein, und aus der Rede, die der Blockvater vor einigen Tagen zur Erleuchtung des Dreiklassenparlamentes hielt, klang es wie das Stöhnen des Todeskampfes.

Das Hausmeiertum ist eine schöne Sache, jedoch nicht jedem ist es gegeben, den Hausmeier zu spielen. Man braucht nur die bekanntesten Hausmeier der Geschichte zu nennen, etwa Karl Martell oder Stilicho oder den Großwesir Mehemed oder den Kardinal Richelieu – und man wird nicht mehr auf den komischen Einfall geraten, den Fürsten Bülow in solcher Gesellschaft aufzuführen. Mommsen sagt in seiner Art ganz richtig: „Die Staatsomnipotenz in der Form des Ministerabsolutismus ist sehr wohl durchführbar und oft in der Geschichte dagewesen, zuweilen als der Eingriff eines allzu mächtigen Geistes, aber auch dauernd als die letzte Phase einer untergehenden Nation." Nun wird der Reichskanzler selbst nicht beanspruchen, ein allzu mächtiger Geist zu sein, aber die deutsche Nation denkt auch nicht daran unterzugehen, dank ihrer Arbeiterklasse, die dem Hausmeier Bismarck den Kehraus getanzt hat und nur mit ungetrübter Heiterkeit die Erklärung Bülows aufnimmt, dass er ein Tänzlein mit ihr wagen will.

Er selbst scheint sich über Nacht klar geworden [zu] sein, wie lustig sich solche Drohungen in seinem Munde ausnehmen; am nächsten Tage ließ er durch den preußischen Finanzminister erklären, ein Ausnahmegesetz gegen die Arbeiterbewegung habe er nicht ankündigen wollen. In Wirklichkeit hat er nur den höfischen Kamarillen, die an seinem Sturze arbeiten, ein Unterpfand seiner guten Gesinnung zu geben beabsichtigt, jedoch auch diesen bescheidenen Zweck hat er nicht erreicht. Sogar seine Blockgevattern verbieten ihm, sich als „starken Mann" zu produzieren, woran doch niemand glaube. Die „Kölnische Zeitung" wie die „Kreuz-Zeitung" zucken die Achseln über die Rodomontaden, die sich Fürst Bülow gegen die deutsche Arbeiterbewegung erlaubt hat. Nicht weil sie endlich von der Unwirksamkeit solcher Gewaltmittel überzeugt wären, sondern weil sie wissen, dass Bülow sie ihnen nicht schaffen kann.

Was ihm noch eine Galgenfrist sichert, das ist die halbe Milliarde neuer Steuern, die er in den Hafen lotsen soll. An diesem edlen Ziele arbeitet er im Schweiße seines Angesichtes, ohne, wie es scheint, zu begreifen, dass er danach gehen muss, wie der Mohr, der seine Arbeit geleistet hat. So verhieß er neulich den freisinnigen Blockbrüdern, dass kein Beamter wegen freisinniger Gesinnung gemaßregelt werden solle, aber dass er alle Beamte, die der Blockpolitik Steine in den Weg würfen, mit Bismarcks reaktionärem Beamtenerlass1 kujonieren werde, eine Verheißung, die in der Tat genügte, alle freisinnigen Herzen vor freudiger Genugtuung schwellen zu lassen. Eine ganz andere Wirkung erzielte der Reichskanzler aber mit seinem schüchternen Versuch, die Junker auf den „Weg nach Damaskus" zu führen und ihnen die Nachlasssteuer schmackhaft zu machen. So liebreich er ihnen um den Bart ging, so blieben sie kaltblütig bei ihrem Quod non2; sie halten mit eiserner Konsequenz an dem feudalen Grundsatz fest, dass Junker und Junkergenossen keine Steuern zu zahlen haben, sondern dass diese patriotische Pflicht in erster Reihe auf die Schultern der arbeitenden Klassen und in zweiter Reihe etwa noch auf die Schultern des mobilen Kapitals abzuwälzen sei.

Es ist ganz richtig und bedarf keines weitläufigen Nachweises, dass der Widerstand der Junker gegen die Nachlasssteuer, nun gar so, wie diese Steuer von der Regierung geplant wird, die eigennützige Selbstsucht dieser Klasse wieder ohne jedes Feigenblatt zeigt und dass die Beschönigungen dieses Widerstandes durch die Redereien von der Schonung des germanischen Familiensinns soviel wert sind wie die gottseligen Gedichte des Knuten-Oertel, der sie mit besonderer Emphase predigt, nämlich keinen Schuss Pulver. Aber es ist ebenso richtig und bedarf ebenso wenig eines weitläufigen Nachweises, dass die Junker sich um alle moralischen Betrachtungen und Verpflichtungen den Teufel scheren, wenn es auf ihre Klasseninteressen ankommt; auch dem zärtlichsten Liebeswerben wird es nie gelingen, sie davon zu überzeugen, dass die Pflichten gegen das teure Vaterland, dem die hungernden Massen unweigerlich das Blut ihrer Adern und das Mark ihrer Knochen zu opfern haben, auch für sie in bescheidenem Maße gelten. Am wenigsten schreckt sie die Aussicht, durch ihren Widerstand gegen die Nachlasssteuer den Block zu sprengen; ihre Blätter erklären klipp und klar, darauf ließen sie es in aller Seelenruhe ankommen.

Diesen Widerstand zu brechen, hat Bülow kein Mittel, und den Mut, sich wenigstens einen guten Abgang zu sichern, indem er die so genannte „Finanzreform" an der konservativen Opposition scheitern lässt, wird er schwerlich haben. Bleibt also noch die Möglichkeit, die halbe Milliarde neuer Steuern ganz und gar auf die Schultern der besitzlosen Klassen abzuwälzen oder mit einem Teil davon die Börse oder sonst das mobile Kapital zu beglücken. Und hier hat Bülow, wie nicht verkannt werden kann, noch einige Chancen. Denn den freisinnigen Blockbrüdern ist nachgerade alles feil um den Genuss, das fünfte Rad am Wagen zu spielen. Diesen Leuten gelingt es, immer noch die finstersten Prophezeiungen zu übertreffen, die ihre grimmigsten Gegner von ihrer moralisch-politischen Verkommenheit machen mögen; noch vor acht Tagen hätte es keinen Menschen in Deutschland gegeben, der an die Möglichkeit des, wie der „Vorwärts" mit Recht sagt, „Schurkenstreichs" geglaubt hätte, der von freisinniger Seite geplant wird, um der Sozialdemokratischen Partei vier der Mandate zu entreißen, die sie bei den letzten Landtagswahlen erobert hat.

Es handelt sich um diejenigen Berliner Mandate, die den Freisinnigen noch einen Schimmer der Möglichkeit lassen, sie bei neuen Wahlen zu erobern. Zwar ist in diesen vier Berliner Wahlkreisen genauso gewählt worden wie in den anderen acht, so dass, wenn nach freisinniger Behauptung die Wählerlisten in Berlin falsch aufgestellt worden sind, alle zwölf Berliner Mandate kassiert werden müssten. Aber in beispielloser Perfidie ist durch eine Reihe formeller Schiebungen, die hier nicht näher auseinandergesetzt zu werden brauchen, da sie aus den Tagesblättern der Partei bekannt genug sind, die Möglichkeit geschaffen worden, gerade nur die vier Mandate zu kassieren, die bei neuen Wahlen vielleicht dem Freisinn zufallen können. Zweck der Übung, die von dem Freisinn mit der feierlichen Parole unternommen wird: Niemand hat das Recht, das Recht zu beugen, ist nach der weniger feierlichen, aber dafür um so richtigeren Ansicht des Brotwuchererorgans, „die Sozialdemokratie über den Löffel zu barbieren".

Dieses Barbieren geht nun freilich in der Weise vor sich, dass die Hand, die das Rasiermesser führt, sich selbst damit den Hals abschneidet. Es gibt auch in der Geschichte der bürgerlichen Parteien keinen Fall, der sich an ehrloser Gesinnung mit diesem messen könnte, und die konservative wie die nationalliberale Presse widmet ihm im Allgemeinen nur ein sehr bescheidenes Maß von Hochachtung. Damit ist gewiss nicht gesagt, dass sich das Dreiklassenparlament den freisinnigen Streich versagen und entweder alle Berliner Mandate kassieren oder alle für gültig erklären wird; diese Katze wird schließlich das Mausen nicht lassen. Aber die Ehre, die feige und heimtückische Intrige angezettelt zu haben, überlassen die sonstigen Blockparteien offenbar ohne jeden Neid dem Freisinn, der in beglückter Einsamkeit am Pranger steht. Er hat den sichersten Weg beschritten, die vier Mandate, nach denen er giert, für immer zu verlieren, und selbst wenn er sie noch einmal gewönne, sie wären eine erbärmliche Entschädigung für den nunmehr besiegelten Ruf des Freisinns, im elenden Block die elendeste Partei zu sein.

Nach solcher Leistung ist es vollends unberechenbar, ob Bülow nicht den freisinnigen Blockgenossen jede „Finanzreform" aufzwingen kann, die ihm die Junker vorschreiben. Das Unglück des Freisinns ist, dass er sich mit der Blockpolitik ganz und gar verfilzt hat, während die Junker so pfiffig gewesen sind, sich immer freie Hand zu behalten. Es ist eitel Renommage, wenn die freisinnigen Blätter sich anstellen, als könnten ihre Leute den Block aufgeben, und dann so tun, als wäre nichts geschehen; sie haben dem Block so viel geopfert, dass, wenn er jetzt auffliegt, ohne irgendeine nennenswerte Gegenleistung, sie nicht weniger um ihren politischen Kredit gekommen sind, als wenn sie den Block dadurch erhalten, dass sie willenlos nach der Pfeife der Junker tanzen.

Mag es nun aber so kommen oder so, die gänzliche Abwirtschaftung des Blocks und des Blockvaters nach kurzen zwei Jahren und das trübselige Schicksal aller Triumphatoren von dazumal sind erfreuliche Zeichen dafür, dass die Nemesis aufgehört hat, im langsamen Tempo der österreichischen Landwehr zu marschieren.

1 Gemeint ist das Reichsbeamtengesetz vom 31. März 1873, das nicht nur für die eigentlichen („unmittelbaren") Reichsbeamten galt, sondern auch für diejenigen, die „den kaiserlichen Anordnungen Folge zu leisten verpflichtet sind", wie z. B. Post- und Militärbeamte. Das Gesetz führte auch die Disziplinarordnung für Beamte ein: Verweise, Suspensierungen, selbst Haftstrafen bis zu acht Tagen, auch wenn keine juristisch zu ahndenden Vergehen vorlagen.

2 quod non (lat.) – warum nicht; darum nicht.

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