Franz Mehring‎ > ‎1909‎ > ‎

Franz Mehring 19090626 Die erste Probe

Franz Mehring: Die erste Probe

26. Juni 1909

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Zweiter Band, S. 457-460. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 440-443]

Die junkerlich-klerikale Koalition hat den Bogen nun doch bis aufs Biegen oder Brechen gespannt, indem sie vorgestern die Erbanfallsteuervorlage bis auf Stumpf und Stiel ausrottete, und zwar schon in der zweiten Lesung, so dass dem schwächlichen Kinde nicht einmal die ärmliche Ehre eines halbwegs anständigen Begräbnisses in dritter Lesung gegönnt worden ist. Es war ein Schlag mitten ins Gesicht der Regierung, wie jedermann fühlte, nur die Regierung nicht, die er traf.

Selbst die „Frankfurter Zeitung", die sich politisch durch den Leiboffiziösen des Reichskanzlers erleuchten lässt, wagt das kühne Wort, Bülow könne das Misstrauensvotum der Reichstagsmehrheit nicht hinnehmen, ohne „den letzten Rest von Reputation" zu verlieren. Aber der also Angefahrene erklärt kaltblütig, ihn gelüste nicht nach dem Beifall der Galerie, und er werde auf seinem Posten ausharren, bis die Verhandlungen über die neuen Steuern beendet seien; dann werde für seine Entschließungen maßgebend sein, ob die Finanzreform überhaupt und wie sie zustande gekommen sei.

Deutlicher wird der Orakelspruch dadurch, dass Bülow der konservativen Fraktion hat eröffnen lassen, die Kotierungssteuer, die Mühlenumsatzsteuer und der Kohlenausfuhrzoll seien unannehmbar, weil sie Handel und Verkehr schädigen, die Industrie unerträglich belasten und unsere gesamtwirtschaftliche Stellung verschlechtern würden. Bülow pflanzt noch am Grabe die Hoffnung auf; er sucht durch ein prunkend herausgehängtes Patronat über die Industrie die Liberalen oder mindestens die Nationalliberalen kirre zu machen, so dass sie sich schließlich der agrarisch-klerikalen Diktatur unterwerfen und ihm so das Bleiben auf seinem Posten ermöglichen sollen. In dieselbe Kerbe haut auch die „Kreuz-Zeitung", nach deren Behauptung Bülow nicht die Annahme der Erbanfallsteuer, sondern nur die Mitwirkung der Liberalen an der so genannten „Reichsfinanzreform" zur Kabinettsfrage gemacht habe. Sie sucht auch an ihrem Teile die Nationalliberalen heranzulocken durch das Versprechen, dass die Konservativen bei der Börsensteuer mit sich reden lassen würden.

Das stimmt nun zwar nicht ganz. Denn Bülow hat allerdings erklärt, dass er an der Erbanfallsteuer „festhalten" werde, und der Reichsschatzsekretär Sydow hat diese Steuer als conditio sine qua non der „Reichsfinanzreform" erklärt. Indessen es kommt nicht sowohl darauf an, ob sich diese Herren als eherne Charaktere erweisen werden, was ohnehin niemand von ihnen erwartet und nach ihren bisherigen Leistungen nicht einmal beansprucht, sondern wie nunmehr der Hase laufen wird. Werden die Nationalliberalen sich in der Tat auf die Leimrute locken lassen?

Bisher sieht es nicht danach aus. Herr Bassermann hat im Reichstag in ihrem Namen eine Erklärung abgegeben, wonach die Partei nach der Ablehnung der Erbanfallsteuer den Strauß neuer Steuern im Ganzen wie im Einzelnen verwerfen werde. Dazu stimmte es zwar nicht recht, dass Herr Bassermann zugleich erklärte, seine Fraktion werde sich an den ferneren Verhandlungen beteiligen und sogar eine Dividendensteuer vorschlagen. Indessen darf man aus dieser Unstimmigkeit nicht sofort folgern, dass die Nationalliberalen ihrerseits bereit seien, den „letzten Rest ihrer Reputation" daranzugeben, um dem Reichskanzler an seinem Teil solch kümmerliches Erbe zu erhalten. Auch ihre Presse und in noch höherem Maße die freisinnige Presse ist sehr kampfes- und todesmutig; sie verlangt kategorisch den Rücktritt des Reichskanzlers oder die Auflösung des Reichstags.

Diese Alternative ist aber einigermaßen schief gestellt. Was soll denn der Rücktritt Bülows nützen? Gewiss ist der Reichskanzler bis auf die Knochen blamiert, ist er um jedes politische Ansehen gebracht, sobald er sich der konservativ-ultramontanen Mehrheit unterwirft; wenn er persönlich das elende Fiasko erleidet, das er persönlich so reichlich verdient hat, so mag das ein Gefühl moralischer Befriedigung auslösen. Aber politisch ist damit nichts geholfen. Hat die klerikal-konservative Mehrheit den gegenwärtigen Reichskanzler gestürzt, so muss nach allen Grundsätzen des modernen Konstitutionalismus der künftige Reichskanzler ein Mann nach dem Herzen dieser Mehrheit sein, und die ganze Änderung der Lage bestände darin, dass an die Stelle eines vernutzten Junkers ein noch unvernutzter Junker tritt. Oder wenn man sagt, diese Grundsätze gälten nun einmal nicht im preußisch-deutschen Reiche, und der Kaiser könne sehr wohl einen Reichskanzler ernennen, der das klerikal-konservative Spiel zu durchkreuzen bereit und fähig sei, nun, so setzt man seine Hoffnungen auf das persönliche Regiment, das man doch eben erst in Grund und Boden verdammt hat.

Also die Alternative: Abdankung des Reichskanzlers oder Auflösung des Reichstags ist recht anfechtbar; worum es sich allein handeln kann, ist Auflösung des Blockreichstags und die Wahl eines neuen Reichstags, der den Bülow und ihresgleichen ein für allemal das Handwerk legt. Das ist die einzige Möglichkeit, aus der verworrenen Lage herauszukommen, und sie ist von der Sozialdemokratie stets vertreten worden. Es ist nun gewiss ein Fortschritt, dass die liberalen Blätter sich wenigstens alternativ zu derselben Ansicht bekennen; wenn man ihre Fanfaren zum frischen und fröhlichen Kampfe gegen das Junkertum ertönen hört, so kann man sich's schon gefallen lassen. Um so mehr, als die siegreiche Mehrheit des Reichstags sich gegen diese Probe ihres Sieges sträubt wie das Kalb gegen die Bank des Schlächters. Sie hat auch allen Grund dazu, denn toll genug hat sie's getrieben, und ihr mag wohl die Ahnung aufdämmern, dass der Gott, zu dem sie betet, ihr nicht an jedem Wochenschluss die Zeche zu machen braucht.

Jedoch fragt sich, ob bei der liberalen Schwärmerei für die Auflösung des Reichstags nicht einiges Strohfeuer brennt. Die Liberalen gehen auch recht schwer bepackt in die Wahlschlacht. Wenn die Nationalliberalen eine gewisse Aussicht haben mögen, den Konservativen einiges Terrain abzugewinnen, so doch wesentlich aus dem Grunde, den der nationalliberale Herr Sieg mit dankenswerter Offenheit im Reichstag verkündet hat, weil der Hansabund mit seinen größeren Geldsäcken noch größere Schwätzer stellen kann, um das Blaue vom Himmel herunter zu lügen, als der Bund der Landwirte. Sonst wird es nicht gerade begeisternd auf die Massen wirken, dass sie ohne Mucken und Murren 400 Millionen neue Steuern auf ihre Schultern nehmen, aber sich auf Tod und Leben schlagen sollen um die Frage, wie der kleine Rest von 100 Millionen auf die besitzenden Klassen verteilt werden soll. Ebenso ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass die Wählermassen alle liberalen Blocksünden auf einen Schlag vergeben und vergessen werden, weil die Liberalen nicht einmal durch eigene Einsicht die volksfeindliche Blockpolitik aufgegeben haben, sondern weil sie trotz grenzenloser Nachgiebigkeit durch die Junker aus dem Block hinausgeworfen worden sind.

Vor allem ist es ein heiserer Ton, der durch das tönende Kampfgeschrei schwirrt, das die Liberalen gegen die Junker erheben. Sie sind sich darüber klar – und Herr Bassermann hat es selbst im Reichstag ausgesprochen –, dass neue Wahlen der Sozialdemokratie die willkommene Gelegenheit bieten werden, ihre Wahlverluste von 1907 wieder auszugleichen. Diese Wahlverluste waren in erster Reihe dadurch verschuldet, dass die Liberalen bei den Stichwahlen lieber den ärgsten Reaktionär wählten als einen sozialdemokratischen Kandidaten. Die Liberalen taten es nicht zum ersten Male, sondern folgten einer lieblichen Gewohnheit, die sie seit dreißig Jahren stets beobachtet haben, aber umso dringlicher erhebt sich die Frage, ob sie nun endlich davon lassen wollen. Nicht um der Sozialdemokratie willen, die auch ohne die liberale Stichwahlhilfe fertig geworden ist und fernerhin fertig werden wird, sondern um ihrer selbst willen. Denn ihr Kampf gegen das Junkertum wird ja trotz allen Trompetengeschmetters zur reinen Posse, wenn er, wie nun schon so oft, damit endet, dass sie am letzten Ende aus Hass gegen die Arbeiterklasse dem Junkertum wieder in den Sattel helfen.

Indessen alle diese Bedenken, so nahe sie durch die Erfahrungen der Gegenwart und der Vergangenheit gelegt sein mögen, können grundlos sein, und es liegt in der Hand der liberalen Parteien, schon jetzt zu zeigen, dass sie wirklich grundlos sind. Auf die Unterwerfung der Regierung unter die agrarische Diktatur müssen sie damit antworten, dass sie das Werk dieser Diktatur an ihrem Teile zum Scheitern bringen, dass sie die Mehrheit des Reichstags hindern, ihre steuerlichen Machenschaften „durchzupeitschen", um den von der „Kreuz-Zeitung" selbst gebrauchten Ausdruck anzuwenden. Die Mehrheit ist ziffernmäßig so gering, dass die fast ebenso starke Minderheit bei einiger Ausdauer und Konsequenz sie wohl lahm zu legen vermag. Dann ist die Auflösung des Reichstags eine Notwendigkeit, ganz unabhängig vom Wollen oder Nichtwollen der Regierung, und der Liberalismus hätte ganz andere Chancen für den Wahlkampf, wenn er durch eine erste Probe gezeigt hätte, dass es ihm bitterer Ernst ist mit dem Kampfe gegen das Junkertum.

Tut er das aber nicht, sondern begnügt er sich mit bloßem, sei es noch so ergreifendem Protestieren und Reden gegen die junkerliche Wirtschaft, so wird er nicht von der Stelle kommen. Sentimentale Seelen mögen dann über sein trauriges Schicksal klagen, aber die Junker werden deshalb doch obenauf bleiben. Denn sie sind frei von aller Sentimentalität, was ihnen nicht einmal auf ihr ohnehin schon genug belastetes Sündenkonto zu setzen ist.

Kommentare