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Franz Mehring 19090619 Die Finanzmisere

Franz Mehring: Die Finanzmisere

19. Juni 1909

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Zweiter Band, S. 393-396. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 436-439]

Wer den Fürsten Bülow als „Staatsmann" kennt, konnte der „großen Rede", womit er nach den Reichstagsferien den Kampf um die so genannte „Reichsfinanzreform" wieder aufnehmen sollte und wollte, nicht mit übertriebenen Erwartungen entgegensehen. Aber wenn man sie liest, so staunt man doch von neuem über dieses seichte Gerede, das so gar nichts hinter sich hat, weder Charakter noch Geist, das mit abgehausten Schlagworten um sich wirft, um einer verlorenen Gaukel- und Schaukelpolitik noch eine Galgenfrist zu sichern.

Ob der Ära Bülow diese Galgenfrist beschieden sein wird, lässt sich auch, nachdem die bürgerlichen Parteien ihr Sprüchlein im Reichstag hergebetet haben, immer noch nicht sagen. Es ist nach wie vor nicht ausgeschlossen, dass es zu einem schwächlichen Kompromiss kommen, dass die Junker sich mit einer arg verkrüppelten Erbschaftssteuer zufrieden geben und die Liberalen sich eine gelinde Anzapfung der Börse gefallen lassen werden. Auf der anderen Seite freilich wäre ein solches Kompromiss in dem Zeitpunkt, zu dem sich die Dinge entwickelt haben, für alle Beteiligten eine gräuliche Blamage, und es fragt sich immerhin, ob sie alle diese Blamage auf sich nehmen können und wollen.

Am ehesten lässt sich der Umfall bei den Liberalen voraussetzen, obgleich ihnen durch den famosen Hansabund1 wohl etwas das Rückgrat gesteift sein mag. Die nicht uneingeschränkte Hochachtung, die die sozialdemokratische Presse diesem neuen Gebilde entgegengebracht hat, veranlasste Herrn Wiemer im Reichstag zu der elegischen Klage, sobald das Bürgertum tapfer vorwärts marschiere, habe es die Sozialdemokratie in der Flanke. Tragisches Schicksal des bürgerlichen Siegfried, dass ihm sofort der Speer des tückischen Hagen in den Rücken fährt, sobald er sich nun endlich einmal wirklich anschickt, die Bäume auszureißen! Inzwischen werden sich die erlauchten Staatsmänner des Hansabundes ja durch die sozialdemokratische Kritik, auf die sie von oben herabzusehen gewöhnt sind, nicht in ihren staatsrettenden Bemühungen beirren lassen. Und woran es ihnen sonst immer fehlen mag, so fehlt es ihnen jedenfalls nicht am Nervus rerum, was für den Freisinn, der an permanentem Dalles leidet, jedenfalls eine erfrischende und stärkende Sache ist. Herrn Wiemers Rede zeichnete sich denn auch, verglichen mit früheren Reden seiner Gesinnungsgenossen, durch eine gewisse Kühnheit aus; hat es ehedem Herr Kopsch für eine „Erpresserpolitik" erklärt, als Entgelt für die neuen Steuern, die den Massen auferlegt werden sollen, denselben Massen bescheidene Rechte zu gewähren, so will Herr Wiemer eher mit sich reden lassen und erklärt seinerseits für ganz selbstverständlich, was Herr Kopsch als eine große Ruchlosigkeit erläutert hat.

Indessen auf solchen Flugsand lassen sich keine Hütten bauen, und wenn es ein hartes Schicksal ist, so ist es doch auch ein verdientes Schicksal, dass der Freisinn bei der Frage: Was nun? als eine Quantité négligeable behandelt wird. Worauf es ankommt, das ist die Politik der Junker, und die Ansicht, dass es mit dem Blockvater und der Blockpolitik ein und für allemal vorbei sei, stützt sich vor allem darauf, dass die Konservativen nicht mehr zurück könnten. Damit steht aber die Haltung der Junker gegenüber der Rede des Reichskanzlers nicht so ganz im Einklang. Sosehr sie an ihrem Widerstande gegen die Erbschaftssteuer festhalten – und nach den großen Worten, die sie seit Monaten darüber verschwendet haben, können sie vorläufig auch nicht wohl anders –, sowenig ist damit gesagt, dass sie sich nicht zu irgendeinem Zugeständnis auch in dieser Frage bequemen könnten. Die ganze Erbschaftssteuerfrage ist ja nur der Sack, auf den sie hauen, während sie den Esel meinen ; haben sie erst die Sicherheit, dass die Blockpolitik ihnen keine Opfer auferlegt und namentlich ihr kostbares Dreiklassenwahlrecht unangetastet lässt, so haben sie keinen Anlass mehr, die Dinge auf die Spitze zu treiben und einem Reichskanzler aufsässig zu sein, der ihnen eben erst eindringlich vorgehalten hat, dass er mehr für sie getan habe als irgendeiner seiner Vorgänger.

Mit Recht wies Genosse Singer als Redner der sozialdemokratischen Fraktion auf diesen springenden Punkt der Situation hin. Er allein von allen Rednern der mehrtägigen Debatte wusste die ganze Frage bis auf den Grund zu erleuchten, und wenn ihm seine Kennzeichnung der „Reichsfinanzreform" als einer infamen Raubpolitik auch einen Ordnungsruf eintrug, so wurde dadurch die Wirkung seiner Kritik nicht geschmälert. So forderte er auch die Auflösung des Reichstags als den einzigen vernünftigen Ausweg aus der völlig verfahrenen Lage, eine Forderung, zu der sich außer ihm nur noch der nationalliberale Redner Bassermann aufzuschwingen vermochte.

Es wird zu dieser Auflösung nicht kommen, eben weil sie die einzige vernünftige Lösung des Knotens wäre. Die Nationalliberalen hoffen, nachdem der große Handel und die große Industrie durch den „agrarischen Eigennutz" aufgepeitscht worden sind, bei neuen Wahlen gute Geschäfte auf Kosten der Konservativen zu machen, eine Hoffnung, die vielleicht sehr illusorisch ist, aber einstweilen den Mut in der nationalliberalen Brust seine Spannkraft üben lässt. Alle anderen bürgerlichen Parteien aber haben triftige Gründe, neue Wahlen zu scheuen, vor allem der Freisinn und die Ultramontanen, die dem Anhang, den sie noch im Proletariat besitzen, nicht mit den 400 Millionen neuen Steuern kommen dürfen, die sie der arbeitenden Klasse aufzubürden beabsichtigen. Zu einer Auflösung des Reichstags wird sich am wenigsten die Regierung entschließen, schon deshalb nicht, weil die Massen dann ein kräftig Wörtlein über die „Reichsfinanzreform" sprechen könnten und dies Wort selbst einem so leichtblütigen Politiker wie dem Reichskanzler gewaltig in die Ohren gellen dürfte. Die Lorbeerkränze, die die Sieger der Reichstagswahlen von 1907 errungen haben, sind zwar längst verwelkt und verstaubt, aber die Hüter dieser Herrlichkeiten werden sich schwerlich dazu bequemen, das Fenster zu öffnen, durch das der Sturm den letzten Rest des Plunders davon fegen würde.

Gelingt noch einmal eine kümmerliche Zusammenleimung des Blocks, so wird der Arbeiterklasse zwar zunächst die Möglichkeit genommen, ihre Revanche für 1907 zu nehmen, aber sie wird sich dann trösten können, dass aufgeschoben nicht aufgehoben ist. Im Gegenteil – haben die neuen Steuern erst ein paar Jahre als Schröpfköpfe gewirkt, so wird ihre revolutionierende Wirkung um so gründlicher sein, und es ist alle Aussicht vorhanden, dass im Jahre 1912 eine neue „Reichsfinanzreform" in die Reihen der herrschenden Klassen kopflose Verwirrung und in die Reihen der Volksmassen steigende Empörung tragen wird. Denn so gewaltig eine Steuerlast von einer halben Milliarde sein mag, so vermag sie doch nicht auf die Dauer Molochs unersättlichen Appetit zu stillen. Solange das Wettrüsten vorangeht – und der bornierte Dünkel des deutschen Militarismus wird am letzten zu der Einsicht kommen, dass hier endlich Schicht gemacht werden muss –, solange bleibt es bei der Finanzmisere, die mit der Sicherheit des Einmaleins zum völligen Bankrott führen muss.

Selbstverständlich sind die Redensarten von der „dauernden Sanierung" der deutschen Finanzen keinen Schuss Pulver wert. Der moderne Absolutismus oder Scheinkonstitutionalismus ist überhaupt unfähig, eine solide Finanzwirtschaft zu führen, weil es ihm durchaus nicht auf die Kulturbedürfnisse der Nation ankommt und, wenn er sich selbst am Leben erhalten will, auch nicht einmal ankommen darf. Er betreibt die kostspieligen Geschäfte der herrschenden Klassen und wälzt ihre Lasten auf die unterdrückten Klassen ab. Will er einmal um des lieben Scheines willen so tun, als sollten die herrschenden Klassen auch ein wenig für die Zeche haften, die sie machen, so kann er sich nicht einmal dies verhältnismäßig harmlose Augenverblenden gönnen, ohne in die heilloseste Verwirrung zu geraten. Dafür ist gerade das Schicksal der „Reichsfinanzreform" ein schlagender Beweis von symptomatischer Bedeutung. Es liegt ein tieferer Sinn in dem Witze eines französischen Politikers: „Wenn es gefährlich ist, wie man sagt, die Freiheit zu besitzen, so ist es doch sehr kostspielig, sie zu entbehren"; einen ausschweifenderen Luxus kann sich keine Nation gönnen als den Luxus, sich unterdrücken zu lassen.

Wer das einmal in unanfechtbarer Weise bewiesen haben will, der lese die Aufsätze Treitschkes über den Bonapartismus. Und doch – wie harmlos waren die damaligen französischen gegen die heutigen deutschen Zustände. Treitschke schüttet das ganze Maß seiner sittlichen Entrüstung – und dies Maß war gewiss nicht klein bemessen – über das zweite Kaiserreich aus, weil es im Jahre 1868 eine Anleihe, das heißt eine einmalige Anleihe und keineswegs eine dauernde Steuer, von 440 Millionen für militärische Zwecke aufnahm. Aber der „Prophet des Deutschen Reiches" war auch prophetisch genug, das Ende dieser Wirtschaft vorauszusagen, indem er schrieb: „Ein schöpferischer staatswissenschaftlicher Gedanke, der die Mittel der Nation für die Politik der Volksbeglückung von oben flüssig machte, tauchte nirgends auf. Frankreich litt unter dem unmöglichen Versuch, alle Üppigkeit des Friedens und zu gleicher Zeit das furchtbare Rüstzeug der Eroberungspolitik aufrechtzuerhalten. Früher oder später musste die Stunde kommen, da ein unglücklicher Krieg das Kartenhaus dieses schwindelhaften Staatshaushaltes über den Haufen warf." Und es dauerte nicht ein Jahr, bis dieser Krieg kam.

Nun, Kriege sind heute nicht mehr so leichtfertig zu machen, wie es vor vierzig Jahren den Bonapartes diesseits oder jenseits des Rheines noch möglich war, dank der internationalen Sozialdemokratie. Aber deshalb hat Treitschke doch ganz richtig erkannt, dass aller bonapartistischen Finanzwirtschaft ein schmähliches Ende beschieden ist; die Zeiten haben sich nur insoweit geändert, dass, wenn nicht heute, so doch morgen, die Arbeiterklasse das Kartenhaus solchen schwindelhaften Staatshaushaltes über den Haufen werfen wird.

1 Gemeint ist der am 12. Juni 1909 in Berlin gegründete „Hansabund für Gewerbe, Handel und Industrie", eine Organisation „zur politischen Vertretung ihrer berufsständischen Interessen". (Letzte Satzungen von 1924; 1926 neben 14.000 Einzelpersonen etwa 400.000 Mitglieder in 232 angeschlossenen Verbänden.)

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