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Franz Mehring 19090130 Die Theorie vom blauen und roten Blut

Franz Mehring: Die Theorie vom blauen und roten Blut

30. Januar 1909

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Erster Band, S. 657-660. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 414-417]

Die Junker triumphieren, dass alle Wahlrechtsanträge im preußischen Abgeordnetenhaus gefallen sind, und von ihrem Standpunkt aus haben sie auch allen Grund dazu. Gegen den Sturm der entrechteten Massen glauben sie durch „Ross und Reisige" geschützt zu sein, was zwar ein verzweifelter Irrtum ist, aber ein Irrtum, der sich erst auf die Dauer als solcher entpuppen kann; von den anderen bürgerlichen Parteien fürchten sie aber nichts, und in diesem Punkte hat ihnen die neuliche Wahlrechtsdebatte allerdings alle Bürgschaft gegeben, die sie nur wünschen können.

Sicherlich ist es diesen Parteien nicht angenehm, dass die Dreiklassenwahl den Junkern die Mehrheit oder nahezu die Mehrheit im preußischen Abgeordnetenhaus sichert, und jede von ihnen ist bereit, das Wahlrecht so zu „reformieren", dass ihr die angenehme Situation geschaffen wird, in der sich jetzt die Junker befinden. Aber keine von ihnen denkt ernsthaft daran, das allgemeine, gleiche Wahlrecht zu fordern, worüber die Wahlrechtsdebatte, gerade durch ihren völlig negativen Ausgang, auch die letzten Zweifel zerstreut hat, falls überhaupt noch solche Zweifel in weniger intelligenten Kreisen bestanden haben sollten. Anders als durch ihre eigene Kraft wird die Arbeiterklasse das allgemeine Wahlrecht nicht erobern, und wie sehr sie von dieser einzig richtigen Überzeugung durchdrungen ist, hat sie durch ihre Massenkundgebungen gezeigt, Kundgebungen, die auch den Junkern um so peinlicher auf die Nerven fallen, je mehr sich ihre Presse bemüht, in hochnäsigem Tone davon zu sprechen.

Den bürgerlichen Parteien, die, wie der Freisinnsheld Wiemer in der Wahlrechtsdebatte mit komischem Pathos sagte, „die Front nach rechts" nehmen, kommt es nicht darauf an, den entrechteten Massen wieder ihr Recht zu verschaffen, sondern ein bisschen mit aus der Schüssel zu essen, vor der jetzt allein das Junkertum breit und protzig sitzt. Wenn es sich nicht um das allgemeine Wahlrecht für das Proletariat, sondern etwa um ein Sekondeleutnantspatent oder eine Legationsratsstelle für ein jüdisches Bankierssöhnchen handelt, dann verwandelt sich das komische Pathos der Freisinnsmannen sofort in den lodernden Zorn tief gekränkter Mannesseelen.

Man konnte diesen Unterschied studieren, als ziemlich gleichzeitig mit der Wahlrechtsdebatte im preußischen Abgeordnetenhaus der Staatssekretär v. Schön in der Budgetkommission des Reichstags über die Bevorzugung des Adels im diplomatischen Dienste interpelliert wurde. Er sagte, von den 137 gegenwärtig im diplomatischen Dienste beschäftigten Personen gehörten 70 dem Uradel, 23 dem alten Briefadel, 35 dem neuen Briefadel an, 9 seien bürgerlich. Wolle man eine Scheidung nach der Herkunft vornehmen, so müsste man 70 zum blauen Blute, 67 zum roten Blute rechnen. Darüber gerät die freisinnige Presse aus dem Häuschen; die „Vossische Zeitung" zum Beispiel, die über die Wahlrechtsdebatte mit antiker Seelenruhe säuselte, donnert nun los: „Es darf erwartet werden, dass der Reichstag auf einem gründlichen Wandel im diplomatischen Rekrutierungssystem bestehen und dass er es an einer nachdrücklichen Zurückweisung der Theorie vom blauen und roten Blute nicht fehlen lassen wird. Es ist an der Zeit, mit der Bevorzugung des Adels sowohl in der Diplomatie wie überall im öffentlichen Leben aufzuräumen und die verfassungsmäßige Gleichberechtigung des Bürgertums zur vollen Wahrheit zu machen." Tant de bruit pour une Omelette!

Da man bei preußischen Diplomaten nie sicher ist, ob sie ihre Witze freiwillig oder unfreiwillig machen, so müssen wir dahingestellt sein lassen, ob Herr v. Schön die sittliche Entrüstung „des Bürgertums" hat verhöhnen wollen, aber verhöhnt hat er sie, und noch dazu in beißendster Weise. Jede regierende Klasse bedarf einer gewissen Fähigkeit, um regieren zu können, und sei sie noch so schlecht und recht; dem ostelbischen Adel ist diese Fähigkeit aber schon seit dem sechzehnten Jahrhundert in die Brüche gegangen, seit bald vier Jahrhunderten ist das „blaue Blut" nicht ohne das „rote Blut" ausgekommen.

Seit dem Jahre 1556 bis zu seinem Tode im Jahre 1588, also über ein Menschenalter, führte das brandenburgische Kursiegel, war erster Minister der Leipziger Schneiderssohn Lampert Distelmeyer, neben und unter ihm standen der Vizekanzler Koppen und der Finanzminister Matthias, beide ebenfalls von „rotem Blute". Im siebzehnten Jahrhundert rollte „rotes Blut" bis zum Überfließen in den Adern des Geheimen Staatsrats und der brandenburgischen Diplomatie (Jena, Meinders, Fuchs, Rheetz, Danckelmann, Ilgen); der bürgerliche Bartholdy erschacherte die preußische Königskrone in Wien, nachdem der Graf Dohna an dem faulen Handel gescheitert war1.

Ebenso im achtzehnten Jahrhundert die Minister Boden, Thulemeyer, Cocceji, Viebahn; von den fünf Ministern des Generaldirektoriums unter Friedrich Wilhelm I. waren nur zwei adlig, Grumbkow und Görne, dagegen drei bürgerlich, Creuz, Katsch und Kraut. Anders allerdings unter dem Nachfolger, dem „genialen Selbstherrscher", der tatsächlich bis tief ins neunzehnte Jahrhundert hinein der ärgste Junkerknecht unter den preußischen Königen gewesen ist. Friedrich II. hat mit einer einzigen Ausnahme nur adlige Minister ins Generaldirektorium berufen, aber dafür waren seine Kabinettsekretäre, in deren Hand die eigentliche Führung der Geschäfte lag, durchweg bürgerlich, und ebenso berief er – da er die begehrlichen Finger seiner Junker kannte – in die Oberrechenkammer nur bürgerliche Räte. Unter seinen Nachfolgern drang wieder das bürgerliche Element vor; es sei nur an den Bauernsohn Scharnhorst erinnert, der übrigens im siebzehnten Jahrhundert schon an dem Bauernsohn Derfflinger sein Gegenstück gehabt hatte, oder an den Minister Rother, der sich vom gemeinen Kantonisten eines Kürassierregiments emporgearbeitet hatte.

Diese Erscheinung war nun keineswegs eine brandenburgisch-preußische Eigentümlichkeit; der moderne Staat ließ sich nicht durch feudale Junker, sondern nur durch „Roturiers" einrichten. Das galt für andere Staaten sogar noch viel mehr als für den brandenburgisch-preußischen Staat, in dem Maße, wie dieser Staat nur in höchst bescheidenem Sinne den Namen eines modernen Staates verdiente. Aber mit Recht führt ein kürzlich erschienenes schwer gelehrtes Werk des Universitätskurators E. v. Meier aus, dass der „Briefadel" sich im preußischen Staat zu einer „Eigenart" ausgebildet habe wie nirgends sonst, mit anderen Worten, dass die „Roturiers" nirgend sonst wo so schnell ihren Ursprung und ihre Klasseninteressen vergessen hätten wie in diesem gesegneten Musterstaate.

Dafür sind weder die preußischen Könige noch die preußischen Junker in erster Reihe verantwortlich. Wenn die Könige mit den Junkern kämpften – lang, lang ist's her –, so durften sie doch nicht allzu sehr auftrumpfen und beeilten sich, ihre bürgerlichen Helfer wenigstens als Junker zu verkleiden.

Diese Huldigung nahmen die Junker gnädig entgegen, zumal da ihnen die bürgerlichen Kanaillen alle reelle Arbeit abnahmen, und natürlich mit dem Vorbehalt, den im achtzehnten Jahrhundert irgendein obskures Gräflein Schaffgotsch gegen Cocceji, den ersten Justizbeamten des Staates, machte, „dass ein Mensch von so nobler Geburt wie ich mit jemanden von so schlechter Extraktion wie der Herr Großkanzler nicht dürfte konfundieret werden". Könige und Junker blieben auf dem Boden dieser Interessen, wenn sie den „Briefadel" förderten oder duldeten; die lächerliche Schande dieser preußischen „Eigenart" fiel, um im freisinnigen Heldenstil zu sprechen, „ganz und voll" auf die „Roturiers", die – vom Schneiderssohn Distelmeyer im sechzehnten bis zum Schneiderssohn Stephan im neunzehnten Jahrhundert –, sobald sie es zu etwas gebracht hatten, nichts Besseres zu tun wussten als das „rote Blut" zu verleugnen und das „blaue Blut" zu mimen.

Gewiss, es gibt Ausnahmen. Vor fünfzig Jahren, im Januar 1859, erklärte der damals angesehenste Lehrer der Berliner Universität, Jakob Grimm, bei feierlichem Anlass vom Katheder: „Dem unerbittlichen Zeitgeist erscheinen solche Erhebungen längst unedel, geschmacklos, ja ohne Sinn … Ein Geschlecht soll auf seinen Stamm wie ein Volk auf sein Alter und seine Tugend stolz sein, das ist natürlich und recht; unrecht aber scheint, wenn ein vorragender freier Mann zum Edeln gemacht und mit der Wurzel aus dem Boden gezogen wird, der ihn erzeugte, dass er gleichsam in andere Erde übergeht, wodurch dem Stande seines Ursprungs Beeinträchtigung und Schande widerfährt … Alle Beförderungen in den Adel werden ungeschehen bleiben, sobald der freie Bürgerstand seinerseits stolz und entschlossen sein wird, sie jedes Mal auszuschlagen." Zum Jubiläum dieser Rede hat sich aber der nunmehr angesehenste Lehrer der Berliner Universität, Gustav Schmoller, nichts Höheres zu erbitten gewusst als vor seinen Namen ein, um mit Jakob Grimm zu sprechen, „sprachwidrig vorgeschobenes von".

Ach, es sind arge Zeiten für den „freien Bürgerstand". Wenn jeder echte Bürgersmann, der es bis zum Major oder Legationsrat gebracht hat, sofort bis an den Steiß nieder taucht, um den „Briefadel" zu fischen, so wird die „verfassungsmäßige Gleichberechtigung des Bürgertums" ein ewiger Traum bleiben.

Eben raunte und wisperte es im Blockfreisinn, der Kaiser werde zu seinem fünfzigsten Geburtstag eine Amnestie erlassen und so die Versöhnung zwischen Fürst und Bürgertum besiegeln, aber statt der Amnestie kam eine andere Gabe: Sämtliche noch bürgerliche Offiziere des kaiserlichen Hauptquartiers wurden „in den Adelsstand erhoben" und dazu auch die Gebrüder Borsig, diese klassischen Vertreter „echten Bürgerfleißes", deren Großvater in jedem manchesterlichen Katechismus zur Nasführung des Proletariats als Musterbeispiel figuriert, wie es blutarme Arbeiter zu vielfachen Millionären bringen können.

Danach wird man leicht den Witz verstehen, den Herr v. Schön mit seiner Theorie vom blauen und roten Blute gemacht hat. Die feinste Pointe dieses Witzes ist aber, dass Herr v. Schön selbst „Briefadel" ist, und zwar allerneuester.

1 Christian Friedrich Bartholdi, 1698-1706 preußischer Gesandter in Wien, erhandelte mit dem so genannten Kronvertrag vom 16. November 1700 die Zustimmung des Kaisers, das Herzogtum Preußen zum Königreich zu erheben, gegen die Verpflichtung Preußens, das Erbfolgerecht des österreichischen Hauses auf Spanien durch Stellung eines Hilfskorps zu unterstützen. Elf Jahre lang musste eine große Anzahl preußischer Truppen auf den Schlachtfeldern Belgiens und Süddeutschlands für diesen Preis kämpfen. B. wurde 1701 zum Freiherrn geadelt.

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