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Franz Mehring 19090925 Ein willkommenes Bekenntnis

Franz Mehring: Ein willkommenes Bekenntnis

25. September 1909

[Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Erster Band, S. 1-4. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 465-468]

Während in der Parteipresse überwiegend das gleiche Urteil über den Leipziger Parteitag laut wird, und zwar ein Urteil, das sich mit dem Verlauf befriedigt erklärt, geht in der bürgerlichen Presse der Streit darüber fort, was die Leipziger Tagung für die Partei im besonderen und die allgemeine politische Lage im allgemeinen bedeute. Kaum jemals früher ist über einen sozialdemokratischen Parteitag so viel hin und her geredet, so viel sich innerlich widersprechender Unsinn produziert worden als über diesen letzten, eine Tatsache, die sich daraus erklärt, dass die Sozialdemokratie die einzige Partei ist, die auf festem Boden steht und mit sicherem Blick die Zukunft abmessen darf, während allen bürgerlichen Parteien nichts weniger als wohl in ihrer Haut ist. Ihre Vergangenheit steht gegen sie auf, und mit bangen Zweifeln blicken sie in die Zukunft.

In der Konservativen Partei rumort es hörbar. Es mag dahingestellt bleiben, ob es immer ihre besten Elemente sind, die sich gegen ihre Führung auflehnen; gerade in dieser Partei bildet ja nach Bismarcks unverdächtigem Zeugnis allerlei Strebertum einen starken Prozentsatz, und diesem Strebertum mag der summarische Prozess, den der „ungekrönte König von Preußen" mit der Regierung des gekrönten Königs gemacht hat, einigermaßen auf die Nerven gefallen sein. Aber dass der Abfall doch weit über solche Kreise hinausgeht, zeigt die Haltung des „Reichsboten", der, was man ihm sonst auch vorwerfen mag, von Strebertum ganz frei ist, und der dennoch der Konservativen Partei rund und nett das Ansinnen stellt, sie solle wegen ihrer Sünden ein reuiges pater, peccavi sagen, um dem wachsenden Abfall ihrer Anhänger zu steuern.

Auch der „Turm des Zentrums" beginnt bedenklich zu wackeln. Der Ausfall der Nachwahl in Koblenz, wo die Ultramontane Partei gegen die Hauptwahl von 1907 zwei Fünftel ihrer Stimmenzahl, nicht weniger als 8000 Stimmen, verloren hat, ist ein Denkzettel, wie ihn das Zentrum in seinen Jahrbüchern noch nicht zu verzeichnen gehabt hat. Vor allem gärt es in den Arbeiterschichten, die ihm noch anhängen; so geduldig und langmutig sie bisher allen reaktionären Zettelungen der Führer gegenüber gewesen sind, so scheint ihnen die gewaltsame Herabdrückung ihrer Lebenshaltung durch eine unerträgliche Steuerlast, zu keinem edleren Zwecke, als dass die Herren Spahn, Gröber, Roeren oder gar Erzberger die fadenscheinige Rolle von so genannten „Staatsmännern" spielen können, doch endlich die Augen zu öffnen. Der Hunger ist ein trefflicher Lehrmeister, der auch Lämmer aufzupeitschen vermag; wenn aber einmal die Fahnenflucht unter den ultramontanen Wählern beginnt, so wird sie um so reißender vor sich gehen, je länger es gewährt hat, bis sie endlich begann.

Über den vollkommenen Wirrwarr im liberalen Lager braucht nun erst gar nicht viel gesagt zu werden. Die höchst unzeremoniöse Art, wie diese Braven aus dem Block spediert worden sind, macht sie zwar gegen die Junker einigermaßen rebellisch, und wenn es nur ginge, so möchten sie gern an dem Feuer des Zorns, der die breitesten Volksschichten wegen der neuen Steuerlast ergriffen hat, ihr Süppchen kochen. Aber es geht eben nicht, da sie selbst mit aller Emphase ihre patriotische Bereitwilligkeit erklärt hatten, 400 Millionen indirekter Steuern zu bewilligen, und mit diesem Knüppel am Bein lässt sich nicht vorwärts marschieren. So überwiegt denn bei den Liberalen immer noch die Sehnsucht nach einer Wiederherstellung des Hottentottenblocks, und Herr Bassermann, der nationalliberale Führer, hat ihr eben jetzt auf einer Landesversammlung der badischen Nationalliberalen in Freiburg einen ganz unzweideutigen Ausdruck gegeben. Es kennzeichnet die Situation, dass dies Liebesgirren nicht ohne Echo bleibt; die „Kreuz-Zeitung" redet einer „Versöhnung" und „Verständigung" mit den Liberalen das Wort, und selbst die „Deutsche Tageszeitung" fühlt ein menschliches Rühren in ihrer zottigen Brust, nur dass sie – was von ihrem Standpunkt aus ja auch nicht so uneben ist – vorher gänzlichen Verzicht auf alles liberale „Hetzen" gegen die „Reichsfinanzreform" fordert.

Für die Regierung ist die peinliche und schiefe Lage, in die alle bürgerlichen Parteien geraten sind, nicht ungünstig, aber man würde den modernen Absolutismus in seiner deutschen Fasson überschätzen, wenn man ihm zutraute, dass er seine Originalität in höheren Leistungen betätigen könnte als in diesen oder jenen Geniestreichen auf dem Gebiete der auswärtigen Politik. Was ehedem der alte Absolutismus so gut verstanden hat, ja was ihm seine eigentliche Kraft gab, nämlich sich oben zu halten, indem er die verschiedenen Klassen und Parteien der Nation gegeneinander ausspielte, das versteht der neue nicht mehr. Eben jetzt, wo ihm das klerikal-konservative Bündnis eine beschämende Niederlage beigebracht hatte, konnte er sich sehr schnell erholen, und nicht einmal in der unchristlichen Empfindung der Rachsucht, sondern indem er den Volksmassen einen wirklichen Dienst leistete, indem er eine preußische Wahlreform einleitete, für die ohnehin schon ein kaiserliches Wort verpfändet ist.

In der Tat hat der neue Reichskanzler an diesem Punkte eingesetzt, aber wenn man fragt: Wie?, so kann man nur antworten: Dass Gott erbarm! Nicht nur, dass er in einer offiziösen Kundgebung „eine Reform im liberalen Sinne, allgemeines geheimes direktes Wahlrecht, vollständig neue Einteilung der Wahlkreise als ein totgeborenes Kind" erklären lässt, sondern er versteigt sich sogar zu dem pyramidalen Satze: „Eine solche Reform muss vor allem so ausgearbeitet sein, dass sie bei der gegenwärtigen Parteikonstellation auch im Landtag auf Annahme rechnen kann." Das heißt also mit anderen Worten, da der Schnapsblock im preußischen Landtag die Mehrheit hat: Der neue Reichskanzler will das preußische Wahlrecht nur so „reformieren", wie es der Schnapsblock gestattet. Im Frühjahr 1910 will der Reichskanzler sein Machwerk den „einflussreichen Parlamentariern" des preußischen Landtags vorlegen, von deren Gutachten „zum größten Teile das Werden des Werkes" abhängen soll. Falls sie ihre „vertrauliche" Genehmigung erteilen sollten, so ist zu „hoffen", dass im Jahre 1911 dem Landtag eine neue Wahlrechtsvorlage zugehen werde.

Sicherlich – wer sich eingebildet hätte, dass mit dem Wechsel im Reichskanzleramt sich auch ein durchgreifender Wechsel in der deutschen Politik vollziehen würde, der wäre ein Narr gewesen. Herr v. Bethmann Hollweg hat ja die ganze Politik Bülows mitgemacht und ist von Bülow zu seinem Nachfolger empfohlen worden: Da war also nichts oder doch nicht viel zu erwarten. Aber ein gewisses Zugeständnis an das Sprichwort: Neue Besen kehren gut, war man bisher noch selbst an preußisch-deutschen Staatsmännern gewohnt, einen gewissen Versuch, sich vor ihren Vorgängern auszuzeichnen, zumal wenn sie die Dinge in einem so bankrotten Zustand überkommen hatten, wie sie Herr v. Bethmann Hollweg von Bülow überkommen hat. Indessen scheint der neue Reichskanzler seinen Ruhm gerade in dem Bruche mit dieser preußischen Tradition zu suchen; von vornherein beugt er sein Haupt freiwillig unter ein Joch, das am letzten Ende selbst Bülow abgeschüttelt hat.

Insoweit wirkt diese offiziöse Kundgebung mit dem Reize einer Überraschung. Aber auch nur insoweit, und wir schenken uns gern das Versteckspiel, worin sich einzelne liberale Blätter gefallen, als ob Herr v. Bethmann Hollweg mit der offiziösen Offenbarung nichts zu tun habe, die ihm vielmehr als ein Kuckucksei von den Junkern untergeschoben worden sei. Sie trägt durchaus den Stempel der Echtheit, und wer es wirklich ernst nimmt mit der preußischen Wahlreform, der mag sich vielleicht verwundern, aber hat sicherlich keinen Grund zu klagen, wenn der Nachfolger Bülows seine Karten offen aufdeckt. Viel besser so als ein Hinhalten mit Erwartungen und Hoffnungen, die sich schließlich doch nicht erfüllen.

Denn bisher sind Wahlreformen, die diesen Namen im historischen Sinne des Wortes verdienen, niemals anders erreicht worden als durch den Druck von außen. Die scheinbaren Ausnahmen, die Verleihung oder Wiederherstellung des allgemeinen Wahlrechtes durch Bonaparte und Bismarck, bestätigen die Regel nur, denn die beiden Schwarzkünstler wollten alles andere eher als eine wirkliche Wahlreform; sie bildeten sich vielmehr ein, das allgemeine Stimmrecht zur Nasführung der Massen missbrauchen zu können, um auf diese Weise ihre Staatsstreiche zu sichern. Dass sie sich dabei gründlich verrechneten, war eine Sache für sich; gerade daraus aber haben ihre Nachfahren gelernt und erklären das allgemeine Wahlrecht für ein „totgeborenes Kind", was in ihrem Sinne auch ganz richtig sein mag, es sei denn, dass nach jener mittelalterlichen Sage dies totgeborene Kind durch das Brüllen des Löwen zum Leben erweckt wird.

Für die Arbeitersache kann nichts willkommener sein als dies Bekenntnis des Herrn v. Bethmann Hollweg. So groß gegenwärtig die Empörung der breitesten Volksmassen über die neue Steuerlast ist, so droht immer die Gefahr, dass sie, wo diese Massen noch nicht genügend aufgeklärt sind, allmählich einschläft, zumal unter dem Hochdruck, womit die Schuldigen sie über die wahre Sachlage zu täuschen suchen. Es ist notwendig, der Empörung ein positives Ziel zu geben, und was könnte in dieser Beziehung dankbarer begrüßt werden, als dass derselbe „Staatsmann", der die Ausblutung der Massen gezeichnet hat, nun auch ihre Entrechtung proklamiert? Die Erkämpfung des allgemeinen Wahlrechts für den preußischen Landtag ist das Schwert, das der neue Reichskanzler selbst in die drohende Faust der erregten Volksmassen drückt.

In diesem Kampfe wird sich dann auch ganz von selbst eine Frage lösen, die in letzter Zeit allzu eifrig erörtert worden ist. Macht der Freisinn den Druck von außen mit, so kann ihm viel vergeben werden; lässt er sich aber auf die Pläne des Reichskanzlers ein, so mag er fortfahren, im reaktionären Sumpfe zu verkommen.

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