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Franz Mehring 19091222 Immer langsam voran

Franz Mehring: Immer langsam voran

22. Dezember 1909

[Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Erster Band, S. 481-484. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 473-476]

Die zehn Tage, in denen der Reichstag beisammen gewesen ist, haben nur geringe Folgen in unserem öffentlichen Leben hinterlassen. Der neue Reichskanzler hat sich so gegeben, wie es nach allen Erfahrungen der Vergangenheit erwartet werden musste; er wird dem Schnapsblock keine Steine in den Weg wälzen, wobei wir es ihm nicht einmal als einen erschwerenden Umstand anrechnen, dass ihm die Gaben zu fehlen scheinen, die sein Vorgänger auf dem Gebiet rhetorischer Schaumschlägerei unzweifelhaft besaß. Je dürrer und nüchterner sich die Reaktion gibt, umso willkommener kann es denen sein, die ihr ernsthaft an den Kragen wollen.

Die tiefe Ermattung, die ihre Spuren der zehntägigen Reichstagssession aufgedrückt hat und die durch einige frische sozialdemokratische Reden viel mehr enthüllt als verhüllt wurde, wurde auch keineswegs durch die farblose und schlaffe Haltung des Herrn v. Bethmann Hollweg verschuldet, sondern sie lag in der Natur der Dinge selbst. Mit den Taten des Schnapsblocks ist die Frage gestellt: Soll diese elende Wirtschaft so weitergehen in alle Ewigkeit oder wird die Nation endlich einmal die Kraft gewinnen, ein schimpfliches und schmähliches Joch von ihren Schultern zu schütteln? Diese Frage liegt aber nicht mehr dem Reichstag vor, dessen bürgerliche Parteien in Sachen der so genannten „Reichsfinanzreform" mehr oder weniger kompromittiert sind, sondern den Reichstagswählern, und je mehr diese sich anschicken – wie namentlich die sozialdemokratischen Wahlerfolge zeigen –, reinen Tisch zu machen, um so ängstlicher ducken sich die bürgerlichen Reichstagsparteien zusammen wie eine Herde Schafe, die das erste Donnern eines unaufhaltsam heraufziehenden Gewitters erschreckt.

Auf dieses Gewitter, will sagen auf die nächsten Reichstagswahlen, ist ihre Aufmerksamkeit weit mehr gelenkt als auf das, was der innerlich schon tote Reichstag noch tun und treiben mag. Unter solchem Gesichtspunkt gewinnt denn auch die freisinnige Einigung, die nun endlich nach langem Ach und Krach gelungen zu sein scheint, ein größeres Interesse, als ihr sonst nach den zahllosen Fusionen und Sezessionen dieser Gruppen beiwohnen könnte. Sie erfolgt offenbar unter einem gewissen Drucke der freisinnigen Wähler, die das empfindliche Zwacken der Steuerschraube einigermaßen gegen die kindischen Eifersüchteleien ihrer so genannten „Führer" rebellisch gemacht zu haben scheint. Die Einigung ist gewissermaßen der Aufmarsch der freisinnigen Elemente für die Reichstagswahlen, und wir würden uns freuen, einen Hauch darin zu entdecken von Theodor Körners Lied: Das Volk steht auf, der Sturm bricht los. Aber davon ist nichts zu spüren, sondern man spürt nur einen starken Luftzug aus dem zu gleicher Zeit entstandenen Liede des österreichischen Landsturmes: Immer langsam voran!

Man kann sogar weitergehen und sagen, dass sich in dem Programm der „Deutschen Freisinnigen Volkspartei", wie sich das neue Gebilde nennen soll – schon dieser weitläufige Name ist ein wahres Hecknest von Halbheiten und Widersprüchen –, man kann also sagen, dass sich in dem Programm des neuen Gebildes nicht einmal der langsamste Fortschritt, sondern eher ein beträchtlicher Rückschritt vollzieht; ganz mit Recht ist in den sozialdemokratischen Tagesblättern nachgewiesen worden, dass dies Programm tatsächlich eine Rechtsschwenkung bedeute. Darauf wollen wir aber gar nicht einmal ein entscheidendes Gewicht legen; wir haben seit dreißig Jahren so viele freisinnige Programme gelesen, in denen die einzelnen Forderungen wie Dominosteine bald so, bald so aneinander geschoben waren, dass wir nachgerade jede Empfindung für die Unterschiede des Geklappers verloren haben, das praktisch ja immer gleich nutzlos und zwecklos geblieben ist. Wichtiger scheinen uns die Bestimmungen der neuen Organisation zu sein, da es zunächst darauf ankommt, ob sich der Freisinn überhaupt wieder zu einer schlag- und tatkräftigen Kriegstruppe gegen die junkerlich-klerikale Reaktion aufzuraffen vermag.

In dieser Beziehung sehen die Dinge nun aber noch viel trüber aus als in programmatischer Beziehung. Herr v. Gerlach, der hinter die freisinnigen Kulissen gesehen hat und, wenn er nicht gerade seinen Revisionistenpuschel schüttelt, ganz gut weiß, wo Barthel den Most holt, jammert in der „Welt am Montag" mit Recht darüber, dass bei der freisinnigen Einigung die Freisinnige Vereinigung völlig untergebuttert worden sei. Die Zahlen, die er anführt, sprechen allerdings für sich selbst. Im Reichstag hat die Freisinnige Volkspartei 27, die Freisinnige Vereinigung 15, die Deutsche Volkspartei 7 Abgeordnete. Ihre Stärke verhält sich also wie 4:2:1. In den Geschäftsführenden Ausschuss soll jedoch die Freisinnige Volkspartei 9, die Vereinigung nur 4, die Deutsche Volkspartei dagegen 3 Mitglieder entsenden. Noch charakteristischer ist ein anderer Vorgang. Ein Blatt der Freisinnigen Volkspartei meldete mit geheimen Hintergedanken, der bisherige Generalsekretär der Freisinnigen Vereinigung solle Generalsekretär der nunmehrigen Gesamtpartei werden. Sofort erhob fast die gesamte volksparteiliche Presse einen wilden Spektakel, und selbst die zahme Tante Voss erklärte in einem feierlichen Leitartikel an der Spitze des Blattes, lieber könne die ganze Einigung zum Teufel gehen, ehe solch verruchter Plan gelingen dürfe.

Über diese Vorgänge jammert Herr v. Gerlach deshalb, weil in der Freisinnigen Vereinigung die zuverlässigsten Freisinnigen säßen. Das ist nun freilich reichlich schief ausgedrückt. Mit der „Zuverlässigkeit" der Freisinnigen Vereinigung ist auch nicht viel Staat zu machen; im Block hat sie eifrig mitgetan. Aber allerdings bildet die Freisinnige Vereinigung den verhältnismäßig intelligentesten und weitsichtigsten Teil des ganzen Freisinns. Was sich in jenen Vorgängen abspielt, ist ein Klassenkampf innerhalb des Freisinns. Die Freisinnige Volkspartei hat Reste des norddeutschen, die Deutsche Volkspartei Reste des süddeutschen Kleinbürgertums hinter sich, während sich in der Freisinnigen Vereinigung die Reste der Bourgeoisie und der Intelligenz gesammelt haben, die sich doch nicht ganz mit Haut und Haaren in die Hände der Reaktion ausliefern möchten. Sie haben immerhin ein größeres Maß politischen Verstandes als das verbiesterte und verbohrte Kleinbürgertum, das in den Fischbeck und Kopsch, den Mugdan und Wiemer seine Götzen verehrt, in Parteiführern, wie sie gleich plump, hölzern und unbehilflich keine andere Partei besitzt, mit der einzigen Ausnahme der Antisemiten, was sich ja hinlänglich daraus erklärt, dass sich die Antisemiten ebenfalls aus Resten des hoffnungslos versinkenden Kleinbürgertums rekrutieren.

Diese Gesellschaft hat sich nun aber die so gut wie unumschränkte Herrschaft in der neuen Gesamtpartei des Freisinns gesichert; eine Herde Büffel hat die paar Gäule, auf denen sich etwa reiten ließe, an die Wand gedrückt. Selbst wenn sich die Deutsche Volkspartei – da das süddeutsche Kleinbürgertum immerhin eine etwas größere Geschichte hinter sich hat als das norddeutsche Kleinbürgertum – mit der Freisinnigen Vereinigung verbände, blieben beide doch immer in der Minderheit vor Eugen Richters seligen Erben. Damit läuft die freisinnige Einigung darauf hinaus, dass die intellektuell, moralisch und politisch am tiefsten stehende Gruppe des Freisinns die Oberhand über den gesamten Freisinn gewonnen hat, so dass seine ehrlicheren und intelligenteren Elemente demnächst wieder zum Gaudium der Welt davonlaufen oder aber in einem Kampfe unterliegen müssen, den nach Schillers pessimistischer Ansicht selbst Götter nicht siegreich ausfechten können.

Damit ist nun auch der Punkt entschieden, der uns bei dem ganzen Spektakel am meisten oder auch allein interessiert. Man braucht, wie gesagt, für die politische Zuverlässigkeit der Freisinnigen Vereinigung oder der Deutschen Volkspartei nicht die Hand ins Feuer zu legen, aber soviel politischen Blick haben diese Gruppen gerade noch gehabt, um einzusehen, dass die bürgerliche Opposition sich ein für allemal begraben lassen kann, wenn sie nicht endlich ein leidliches Verhältnis zur proletarischen Opposition findet.

Gewiss ist diese Einsicht kümmerlich und schwankend genug gewesen, und in den Tagen des seligen Blocks mag sie sogar ganz entschlummert gewesen sein, aber bis zu einem gewissen Grade und in gewissen Zeiten war sie doch da, und sie hatte jetzt gerade, wo die freisinnigen Wähler selbst der selbstmörderischen Praxis müde zu werden beginnen, in den Stichwahlen die Junker gegen die Arbeiter herauszuhauen, eine gewisse Aussicht auf Erfolg.

Die Kumpanei Fischbeck-Kopsch-Mugdan-Wiemer sah somit Hannibal vor den Toren. Und dies eine kann man ihr trotz alledem zugestehen, dass sie sich in den Kniffen und Pfiffen ihres seligen Meisters ausgekannt hat. So setzte sie fest, dass der erste Parteitag der neuen Gesamtpartei zwar in diesem Frühjahr stattfinden solle, doch nur, um über die Einigung zu beschließen, der nächste dagegen erst im Jahre – 1912, das heißt nach den Reichstagswahlen, in denen dann noch ganz nach alter Weise gemogelt, bei Stichwahlen die sozialdemokratische Hilfe angenommen und dafür die Sozialdemokratie an Junker und Pfaffen verraten werden kann. Aus diesem einen Knochen kann man das ganze Mastodon von Dummheit und Tücke erkennen.

Lassen wir indessen die Gespenster, die nach der Schlacht auf dem Schlachtfelde marodieren wollen, und begrüßen wir desto freudiger unseren preußischen Parteitag, der vor der Tür steht, wenn diese Zeilen veröffentlicht sein werden. Er hat mit jedem Male, wo er zusammengetreten ist, an Wichtigkeit gewonnen, und auch diesmal liegen ihm Aufgaben vor, von deren glücklicher Lösung viel abhängt für den siegreich fortschreitenden Kampf des Proletariats gegen das Junkertum. Die Kraft fehlt ihm sowenig wie der Wille, seinen Pflichten gerecht zu werden, und so dürfen wir hoffen, dass seine Tätigkeit ein glückliches Vorzeichen werden wird für die Arbeiten und Kämpfe des neuen Jahres.

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