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Franz Mehring 19090904 Zur freisinnigen Einigung

Franz Mehring: Zur freisinnigen Einigung

4. September 1909

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Zweiter Band, S. 833-836. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 41-464]

Mit der Verschmelzung der drei freisinnigen Fraktionen will es noch immer nicht vom Flecke, soviel Tinte darüber tagein, tagaus vergossen wird. Und mit jedem Tage, den sie ausbleibt, wird sie unwahrscheinlicher oder selbst unmöglicher.

Wie verzweifelt die Sache heute schon steht, zeigt der Vorschlag eines freisinnigen Blattes, die Taktik des Jahres 1884 zu wiederholen, nämlich erst hinter den Kulissen bei nächtlicher Weile die Führer sich einigen und dann dem harrenden Volke die Einigung als Morgengabe darbringen zu lassen. Das Blatt geht dabei von dem ganz richtigen, wenn auch nicht besonders tiefsinnigen Satze aus, dass bei dem ewigen Hin- und Hergerede doch nichts herauskomme, aber die Schlussfolgerung, die es daraus zieht, ist deshalb nicht weniger hinfällig; die Fusion von 1884 erwies sich gerade dadurch als totgeborenes Kind, weil sie eine nächtliche Zangengeburt war.

Und dabei lagen die Dinge 1884 viel einfacher als heute. Der Zweck der Fusion war, dem damaligen, angeblich liberalen Kronprinzen, dessen Regierungsantritt jeden Tag erwartet werden konnte, eine große parlamentarische Partei zur Verfügung zu stellen, auf die gestützt er das Hausmeiertum Bismarcks abschütteln konnte; so illusorisch dies Ziel sein mochte, so war es doch eine Fata Morgana, die kurzsichtige Politiker blenden konnte. Heute kann das Ziel einer freisinnigen Einigung nur ein Kampf gegen das Junkertum sein, der nicht unter der Fahne eines Kronprinzen, sondern unter der Fahne der Sozialdemokratie geführt werden müsste. Und das ist für die freisinnigen Gemüter begreiflicherweise eine ganz andere Sache.

Einen solchen Entschluss aus dem eigenen Busen zu schöpfen und damit eines schönen Tages die freisinnigen Wähler zu überraschen, dazu gehört mehr, als irgendeinem freisinnigen Führer gegeben ist. Und wäre es ihnen allen gegeben, so wäre es gleichwohl ein tollkühnes Wagnis. Schon schallt es ihnen drohend entgegen aus Königsberg, der Stadt Johann Jacobys, wie aus Breslau, der Stadt Franz Zieglers: „Selbst wenn die Führer kurzsichtig genug wären, eine solche Parole auszugeben, die Wähler würden ihnen nicht folgen, sondern würden sie im Stiche lassen." Und das ist keine leere Drohung, wie niemand besser weiß als die freisinnigen Führer. Sich aber, wie der alte Römer Curtius, in einen offenen Abgrund zu stürzen, um das Vaterland zu retten, dessen ist keiner von ihnen fähig.

Eben der Umstand, dass die Stellung zur Sozialdemokratie der Knäuel ist, um den sich der Faden der langweiligen und leeren Verhandlungen über die freisinnige Einigung abwickelt, gibt diesen Verhandlungen auch für uns ein Interesse, das sie an und für sich, eben wegen ihrer Langweiligkeit und Leere, nicht beanspruchen könnten. Ein historisches Interesse nicht nur, insofern als jene brave Partei, die vor einigen vierzig Jahren auf den „Herrn Lassalle" nicht verächtlich genug herabsehen konnte und ihn als Helfershelfer des Junkertums denunzierte, nun glücklich so weit heruntergekommen ist, dass sie nur noch an der Partei Lassalles eine wirksame Unterstützung gegen das Junkertum finden kann. Sondern auch ein praktisches Interesse, insofern als es sich fragt, wie sich die Sozialdemokratische Partei zu den freisinnigen Einigungsverhandlungen eben unter dem Gesichtspunkt zu stellen hat, dass ihr eigentlicher Kern die künftige Stellung des Freisinns zur Sozialdemokratie ist.

Diese Frage lohnt schon deshalb erörtert zu werden, weil sie voraussichtlich auch den Parteitag in Leipzig beschäftigen wird. Ein Antrag eines Berliner Wahlkreises verlangt, unter schärfster Brandmarkung des ewigen Verrats, den der Freisinn an den Volksinteressen betrieben hat, die entschiedenste Absage an diese Partei. Das heißt unseres Erachtens aber übers Ziel hinausschießen. Nicht als ob der Antrag dem Freisinn irgend zu viel täte und sachlich irgendwie unberechtigt wäre! Aber taktisch empfiehlt es sich nicht, dass der Parteitag sich in dieser Weise festlegt. In politischen Dingen soll man niemals aus noch so berechtigtem Zorn Entschlüsse fassen, die für eine Zukunft binden, die sich heute noch nicht übersehen lässt. So elend die freisinnige Politik sein mag und immer gewesen ist, so gibt es doch auch für sie eine zwar sehr weit geschobene, aber immerhin nicht ganz ins Blaue zu schiebende Grenze, wo sie dem Junkertum gegenüber Fuß beim Male halten muss, wie ja eben erst der Krach des Blocks gezeigt hat. Wir wissen heute nicht, wie die Dinge bei den nächsten Reichstagswahlen liegen werden; wir wissen nicht, ob uns dann nicht wichtige Parteiinteressen gebieten werden, bei den Stichwahlen trotz alledem den Freisinnigen durchzuhelfen, was sie natürlich nicht als Bundesgenossen anerkennen, sondern in der immerhin bescheidenen Eigenschaft als Kanonenfutter verschleißen heißt. Auf dem Parteitag in St. Gallen wurde ebenfalls beschlossen, freisinnige Kandidaten in den Stichwahlen niemals zu unterstützen, und bei den nächsten Wahlen ergab sich doch die Notwendigkeit, diesen Beschluss zu behandeln, als wäre er nicht ergangen. Die Gefahr eines ähnlichen Fehlers zu laufen wäre gewiss nicht wünschenswert.

Ebenso wenig oder selbst noch weit weniger wünschenswert wäre aber, wenn die Partei dem so genannten „Selbstbesinnungsprozess", der sich augenblicklich in dem Freisinn vollzieht, irgendwie entgegenkommen wollte. Diese Zumutung hat sich zwar in keinem Antrag an den Parteitag zusammengefasst, aber sie spielt sonst hier und da in der Partei eine gewisse Rolle, und sie spielt namentlich bei den freisinnigen Einigungsverhandlungen selbst mit, indem die einen sagen: Wir können unmöglich mit einer Partei paktieren, die uns so behandelt wie die Sozialdemokratie, die anderen aber: Ja freilich ist das abscheulich genug, aber es wird schon besser werden, wenn wir nur vernünftiger werden.

Darüber ließe sich nun freilich reden. Setzen wir einmal den äußerst unwahrscheinlichen, wenn auch im Luftreich des Traumes immerhin denkbaren Fall, dass sich der Freisinn ermannte und Schulter an Schulter mit der Sozialdemokratie eine wackere Klinge gegen die Junker schlüge, so würde es unter dieser Voraussetzung sehr unpolitisch sein und selbst den eigenen Parteiinteressen zuwiderlaufen, ihm seine vergangenen Sünden vorzuhalten. Allein von diesen schönen Tagen sind wir einstweilen noch sehr weit entfernt; vorläufig handelt es sich nur darum, ob die Partei den Freisinn als eine Schar todesmutiger Helden anerkennen soll, auf die schimärische Hoffnung hin, dass er eben dadurch zu einer Schar todesmutiger Helden werden wird. Davon kann freilich keine Rede sein, sowohl deshalb nicht, weil keine Partei verpflichtet ist, sich lächerlich zu machen, als auch deshalb nicht, weil dadurch die eigenen Parteiinteressen schwer geschädigt werden würden.

Dies zeigt sich sofort, wenn wir auf die Opposition blicken, die der Freisinn seinen bisherigen junkerlichen Blockgenossen zu machen sich anschickt. Er donnert gegen die Steuerbescherung des Schnapsblocks, aber er donnert ebenso gegen die „Verhetzung" der Sozialdemokratie, weil im „Vorwärts" die Arbeiterfrauen für die bevorstehenden Landtagswahlen in Berlin – die bekanntlich dadurch notwendig geworden sind, dass der Freisinn in perfidester Weise Hand in Hand mit den Junkern vier sozialdemokratische Mandate weggemogelt hat – auf die Wirkungen der neuen Steuern aufmerksam gemacht worden sind. Die „Freisinnige Zeitung" protestiert deshalb gegen sozialdemokratischen „Terrorismus", denn bei den Berliner Landtagswahlen kämen nur freisinnige Gegenkandidaten in Frage, und die Freisinnige Volkspartei habe im Reichstag gegen die „Reichsfinanzreform" gestimmt; sie sei daher nicht verantwortlich für die Steigerung des Haushaltungsbudgets durch die Zölle und Steuererhöhungen.

Kann man sich nun wirklich eine – sagen wir weniger verschämte – Zumutung denken? Die neueste Nummer der „Sozialdemokratischen Korrespondenz" gibt darauf die trockene Antwort: „Dass die Freisinnigen mit diesem Schwindel kommen würden, war zu erwarten. Demgegenüber sei ausdrücklich festgestellt: Die Freisinnigen haben in der Kommission gestimmt für die Biersteuer, für die Tabaksteuer, und sie waren auch für die Branntweinsteuer zu haben; nur wollten sie, dass die Liebesgabe im Laufe der Jahre immer mehr ermäßigt und schließlich beseitigt werden sollte. Der Termin für die Beseitigung der Liebesgabe war aber nach dem freisinnigen Antrag so weit hinausgeschoben, dass der Vorschlag als ernst gemeint kaum aufgefasst werden konnte. Die Freisinnigen waren also für die indirekten Steuern, und wenn sie schließlich dagegen gestimmt haben, so nur deshalb, weil in der Frage der Erbschaftssteuer eine Einigung nicht erzielt worden war. Wäre es gelungen, die Erbschaftssteuer durchzusetzen, auch wenn der Ertrag nur ganz minimal gewesen wäre, so hätten die Freisinnigen im Plenum, genauso wie in der Kommission, für die indirekten Steuern gestimmt. Diesen freisinnigen Lügenbeuteleien kann nicht rasch genug entgegengetreten werden." In der Tat wäre es eine Schädigung der eigenen Partei, die Steuerpolitik des Freisinns nicht gegen ihn auszunutzen; wir würden sogar das Recht verlieren, den Junkern und Ultramontanen die Belastung der Massen mit indirekten Steuern anzukreiden, wenn wir sie beim Freisinn auch nur durch Schweigen beschönigen wollten, bei dem sie obendrein nicht nur ein Verrat an den Interessen der Massen, sondern auch ein Verrat an seinen eigenen Prinzipien gewesen ist.

Dieser eine Fall zeigt schon, wie unmöglich für die Sozialdemokratische Partei eine entgegenkommende Politik gegen den Freisinn ist. Ob er sich nach den gehäuften Sünden eines halben Jahrhunderts überhaupt noch regenerieren kann, das ist eine Frage, die aus Höflichkeit dahingestellt bleiben mag. Aber wenn er überhaupt diese Absicht hat, wofür doch erst spärliche und ungewisse Anzeichen vorliegen, so muss er schon sehen, wie er mit sich selbst fertig wird. Das törichte Schlagwort von der „Selbsthilfe", womit er einst den „Herrn Lassalle" kujonierte, wendet sich jetzt mit grausamer Schärfe gegen ihn selbst.

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