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Franz Mehring 19100610 Das andere Mal

Franz Mehring: Das andere Mal

10. Juni 1910

[Die Neue Zeit, 28. Jahrgang 1909-10, 2. Band, S. 329-332]

Nach der schmählichen Niederlage, die Herr v. Bethmann Hollweg mit seinem Wechselbalg der Wahlrechtsreform erlitten hat, sucht er sich zu rehabilitieren, indem er dem preußischen Landtag eine Vorlage zugehen lässt, die eine Erhöhung der Zivilliste um 3½ Millionen Mark verlangt.

Es ist sicherlich ein origineller Gedanke, indes hat ihn Herr v. Bethmann Hollweg doch nicht aus eigenem Busen geschöpft. Er ahmt nur ein Vorbild nach, wenngleich kein Vorbild aus der preußischen Geschichte. Was der König Friedrich in seinem Testament sagt: „Ich habe die Einkünfte des Staates immer als die Bundeslage betrachtet, die keine unheilige Hand berühren dürfe. Ich habe die öffentlichen Einkünfte nie zu meinem besonderen Nutzen verwendet. Meine Ausgaben haben nie in einem Jahre 220.000 Taler überstiegen“ — das ist für den tiefsinnigen Philosophen, der augenblicklich den Posten eines deutschen Reichskanzlers und eines preußischen Ministerpräsidenten bekleidet, viel zu trivial. Immerhin ahmt er ein Vorbild aus der deutschen Geschichte nach, insoweit bleibt er ein teutscher Mann.

Es war im Herbste 1756, als der König Friedrich von Preußen das Kurfürstentum Sachsen mitten im Frieden überfiel, um es in freundnachbarschaftlicher Gesinnung in die eigene Tasche zu stecken. Im letzten Augenblick gelang es jedoch dem Kurfürsten von Sachsen, der zugleich König von Polen war, sich mit seinen Truppen ins Feldlager von Pirna zu retten, wo er alsbald von den Preußen belagert wurde. Bald wurden die eingeschlossenen Sachsen die Beute quälenden Hungers; nur der König August nebst seinem Hofgeschmeiß litt nicht darunter, denn er bedang sich von dem preußischen König aus, dass ihm täglich die ausgesuchtesten Leckerbissen geliefert würden, und König Friedrich war pfiffig genug, ihm diesen Wunsch zu gewähren.

In den loyalen Geschichtsbüchern kann man heute noch die Flamme sittlicher Entrüstung über dies Verhalten des sächsischen Kurfürsten lodern sehen. Aus guten Gründen wollen wir nur ein paar von diesen Stimmen anführen, und zwar solche, die sich noch am mildesten äußern. So schreibt Carlyle in seiner Biographie Friedrichs: „Die eigene Tafel der polnischen Majorität wird ad libitum versorgt, aber dem gemeinen Soldaten werden sofort kleinre Rationen, die immer kleiner werden, verabreicht. Das 1¼ Pfund Brot täglich war auf die Hälfte dieser Portion herabgesunken, die 2 Lot Fleisch in der Woche waren verschwunden oder Pferdefleisch von der äußersten Magerkeit geworden.“ Und Bernhardi schreibt: „Auch im Lager von Pirna dachte dieser Kurfürst-König nicht entfernt daran, etwa wie Karl XII. von Schweden Mangel und Gefahren mit seinen Soldaten teilen zu wollen; er dachte nicht einmal daran, sich das Ansehen zu geben, als wolle er das. Infolge einer besonderen Konvention kamen während der Blockade seine wohlversorgten, mit dem gewähltesten Küchenmaterial ausgestatteten Küchenwagen täglich durch die preußischen Stellungen und die preußische Vorpostenkette in sein einstweiliges ‚Hoflager‘ in dem eingeschlossenen Lager ausgefahren. Die Zeit nahm daran keinen sonderlichen Anstoß. Am Dresdener Hofe herrschte damals, wie selbst noch in Zeiten, die uns sehr viel näher liegen, entschiedener sogar als in den meisten anderen, die Ansicht, die in einem Staate nur den Landbesitz sah, der bestimmt sei, dem regierenden oder vielmehr besitzenden Haufe die Mittel einer fürstlichen Existenz zu gewähren, wie in diesem fürstlichen Dasein selbst den Zweck aller Dinge.“ Es mag an diesen Stimmen genug sein; andere Patrioten drückten sich viel kräftiger aus und trösten sich höchstens damit, dass so etwas nur einmal in teutschen Landen passiert sei.

Herr v. Bethmann Hollweg jedoch sorgt für das andere Mal. Während für die breiten Massen des Volkes, dank der fluchwürdigen Junkerpolitik, die Rationen an Brot und Fleisch immer kleiner werden, während die Mittel nicht aufzubringen sind, den Invaliden des Heeres ein menschenwürdiges Dasein zu schaffen, verlangt er eine Erhöhung der Zivilliste, die jetzt schon 15¾ Millionen jährlich beträgt, um 3½ Millionen.

Sehen wir uns indessen etwas näher die Gründe an, die er für seine Forderung vorbringt. Zunächst feiert er die „Selbstlosigkeit“ der preußischen Krone — wobei er einen gar nicht liebenswürdigen Seitenhieb auf die „meisten anderen“ deutschen Kronen wirft — weil sie die eigenen Interessen hinter die des Staates haben zurücktreten lassen und „bereits durch königliche Verordnung vom 17. Januar 1820 die sämtlichen Domänen und Forsten gegen eine feste Rente von 2½ Millionen überlassen haben“. Herr v. Bethmann Hollweg verschweigt hier schamhaft, wem die Krone die Domänen und Forsten überlassen habe. Nämlich den Staatsgläubigern.

Die Domänen und Forsten sind niemals privates Eigentum der Krone gewesen — auch nicht nach den Anschauungen des alten Absolutismus, der in ihnen vielmehr, wie wir eben durch den alten Fritz hörten, eine Bundeslade sah, an die keine unheilige Hand rühren dürfe. Allerdings wurde aus ihrem Ertrag auch der Unterhalt der königlichen Familie bestritten, aber eben nur so wie andere Staatsausgaben auch. Nun haben die preußischen Könige Friedrich Wilhelm II und Friedrich Wilhelm III mit der „Bundeslade“ sehr „unheilig“ gewirtschaftet, so dass der preußische Staat 1820 vor dem Bankrott stand. Er entging ihm dadurch, dass die Krone sich den Staatsgläubigern gegenüber verpflichtete, keine neuen Anleihen ohne Zustimmung von Reichsständen aufzunehmen, und dass sie ihnen sämtliche Domänen und Forsten verpfändete, „mit Ausnahme der Domänen, welche zur Aufbringung des jährlichen Bedarfs von 2½ Millionen Talern für den Unterhalt der königlichen Familie notwendig sind“. Also die Krone sicherte sich durch die Verordnung vom 17. Januar von 1820 für den Fall des Bankrotts, an dessen Rand ihre Politik den Staat geführt hatte, was Herr v. Bethmann Hollweg dahin erläutert, dass sie die Interessen des Staates ihren Interessen vorgezogen habe. Als Logiker steht er leider nicht ganz so hoch wie als Philosoph.

Bei dieser wirklichen Lage der Dinge ist es natürlich der reine Nonsens, wenn Herr v. Bethmann Hollweg weiter folgert, da der Wert der Domänen seit 1820 beträchtlich gestiegen sei, so müsse auch die Abfindungssumme beträchtlich gesteigert werden. Und diese Schlussfolgerung würde selbst dann ein Nonsens bleiben, wenn die Krone wirklich ein Eigentumsrecht an den Domänen besessen hätte. Mit demselben Rechte könnten, wie der „Vorwärts“ sehr richtig sagt, die Bauern, deren Großväter und Urgroßväter bei der sogenannten Bauernbefreiung einen Teil ihres Grundbesitzes für Ablösung der Fronden an die Junker abtreten mussten, von den jetzigen Junkern den Wertzuwachs einfordern.

Ferner macht Herr v. Bethmann Hollweg für seine Vorlage die allgemeine Steigerung der Lebensmittelpreise geltend, wobei er nur vergisst zu erzählen, dass diese Steigerung durch dieselbe Junkerpolitik verursacht worden ist, die den gewaltigen privaten Grundbesitz der Krone um ein gewaltiges profitabler gemacht hat. Welch ausgleichende Gerechtigkeit, die den größten Grundbesitz Deutschlands noch entschädigt für die allgemeine Verteuerung der notwendigen Lebensbedürfnisse, durch die der ganze Grundbesitz seine Schäfchen schert!

Dann beruft sich Herr v. Bethmann Hollweg auf die Vermehrung der prinzlichen Hofhaltungen. Auch hier geht er weit hinter den alten Absolutismus zurück, der, so sehr er für seine illegitime Nachkommenschaft zu sorgen pflegte, doch in seinem eigenen Interesse sowohl wie im Interesse des Staates seine legitime Nachkommenschaft in gewissen Schranken zu halten pflegte. Der alte Fritz sah in den Prinzen „unglückliche, unbefriedigte Zwitterwesen, eine Art Amphibien“, die man nicht über Gebühr vermehren dürfe, und es war ein Hausgesetz der preußischen Krone, dass nur die Söhne und Brüder von Königen „standesgemäß“ heiraten dürften, womit gesagt war, dass ihre Haushaltungen von Staats wegen unterhalten werden müssten; alle entfernteren Verwandten blieben auf morganatische Ehen angewiesen. In den letzten Jahrzehnten aber ist dies Hausgesetz oft durchbrochen worden; selbst die Urenkel von Königen, wie der Prinz Friedrich Leopold, der mit einer Schwester der Kaiserin verehelicht ist, haben schon „standesgemäß“ geheiratet, und wenn das so weitergeht, wie Herr v. Bethmann Hollweg verheißt, so eröffnen sich für die preußischen Steuerzahler freilich liebliche Aussichten.

Endlich steift sich der philosophische Staatsmann auf — künstlerische Interessen. Von den 3½ Millionen, die er fordert, sollen auf 1½ Millionen für die Hoftheater verwandt werden. Dass die preußischen Hoftheater als wahrer Krebsschaden an der Kunst zehren, das ist seit Jahrzehnten eine allgemein bekannte und beklagte Tatsache; um nur ein Item anzuführen, so sei erwähnt, dass Herr Paul Lindau, nachdem er als Leiter eines Privattheaters künstlerischen Bankrott gemacht hatte, zum Leiter des Königlichen Schauspielhauses ernannt wurde und heute noch dieses Amtes waltet. Wir wollen indes auf das traurige Kapitel nicht näher eingehen, sondern uns abermals darauf beschränken, zu zeigen, wie der alte Absolutismus in diesem Punkte dachte. Der alte Fritz, so große Freude er am Theater hatte, schrieb doch, als die Zeiten schlecht wurden, an seinen Lindau, einen gewissen Armin: “Die gegenwärtige Lage der Dinge bereitet auf ernste Szenen vor. Man kann deshalb sehr wohl auf komische verzichten, und aus diesem Grunde entziehe ich allen Schauspielern und Schauspielerinnen meines Theaters ihre Gehälter und Pensionen. Die Ihrigen sind darin einbegriffen, und nachdem Sie alle Schauspieler verabschiedet haben, wird es von Ihnen abhängen, sich ganz Ihren Liebschaften zu widmen.“ Das war die Art des alten Absolutismus, die mindestens für die Steuerzahler ihre entschiedenen Vorzüge hatte vor der Art des Herrn v. Bethmann Hollweg.

Aber freilich — jedes Volk hat Minister, die es verdient, und wenn Bernhardi von dem einen Mal des sächsischen Kurfürsten-König sagte: „Die Zeit nahm keinen sonderlichen Anstoß daran,“ so gilt das gleiche von dem andern Mal des preußischen Ministerpräsidenten. Er ist mit seiner sauberen Bescherung erst ans Tageslicht gerückt, als er sich hinter den Kulissen mit allen bürgerlichen Parteien verständigt und ihrer aller Zustimmung erhalten hatte: auch der biedere Freisinn hat sein Ja und Amen genickt, und binnen acht Tagen wird der Streich gelungen sein. Nur in der heimlichen Hast, womit er betrieben wurde, verriet sich die Scheu des bösen Gewissens.

Der einzige Fortschritt seit den Tagen des Felsenlagers von Pirna besteht darin, dass die Arbeiterklasse an solchen Dingen allerdings „sonderlichen Anstoß“ nimmt. Unsere Genossen im preußischen Landtag werden der Katze die Schelle umzuhängen wissen, auch wenn darüber der Leutnant mit zehn Mann in glorreiche Erscheinung treten sollte. Und den Rest werden die Reichstagswahlen besorgen. Wenn man sieht, wie die bürgerlichen Parteien jeden Tag für ihren künftigen Ruin sorgen, so ist man fast versucht, zu sagen: Allzu viel der Güte!

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