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Franz Mehring 19100226 Das neue Scheusal

Franz Mehring: Das neue Scheusal

26. Februar 1910

[Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Erster Band, S. 801-804. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 494-497]

Die Wahlrechtskommission des preußischen Abgeordnetenhauses hat zwar das Machwerk der Regierung von oben bis unten umgekehrt, aber an die Stelle des einen Wechselbalges einen anderen gesetzt, der an grotesker Hässlichkeit ebenfalls nichts zu wünschen übrig lässt. Der edle Schnapsblock hat die indirekte Wahl wiederhergestellt, dafür aber die geheime Wahl zwar nicht für die Wahl der Abgeordneten durch die Wahlmänner, aber für die Wahl der Wahlmänner durch die Urwähler beschlossen.

Man mag selbst darüber streiten, ob dieses Scheusal nicht noch widerlicher ist als das ursprüngliche. Die Beseitigung der indirekten Wahl hatte zwar nicht viel auf sich, aber eine geringe Verbesserung war sie immerhin. Ebendeshalb ist sie den Konservativen und den Ultramontanen ein Dorn im Auge; diese Parteien wollen nicht auf den Vorteil verzichten, der ihnen auf dem platten Lande dadurch entsteht, dass es für die Sozialdemokraten und selbst für die Liberalen schwierig ist, hier unabhängige Wahlmänner zu finden. Als täuschendes Entgelt dafür haben dann die Ultramontanen mit plumper Pfiffigkeit die geheime Wahl bei den Wahlmännerwahlen ausgeheckt, was – solange es bei der öffentlichen Stimmabgabe bei den Abgeordnetenwahlen bleibt – ein reines Augenverblenden ist.

Da die Wahlrechtskommission erst die erste Lesung des Regierungsentwurfes erledigt hat, so lässt sich noch nicht sagen, ob ihr Hohn auf eine „Wahlreform" wirklich ans Plenum gelangen wird. Die Konservativen sperren und zieren sich in ihrer Presse noch ein wenig, da sie so lange und so oft die geheime Wahl in Grund und Boden verflucht haben und doch nicht offen sagen dürfen, dass ihre halbe Zustimmung zu ihr nur auf ein schäbiges Manöver hinausläuft. Auch müssen sie sich deshalb allerlei Anzüglichkeiten von der industriellen Scharfmacherpresse sagen lassen, denen die Machenschaft des Schnapsblocks nicht behagt, da ihnen an der indirekten Wahl ganz und gar nichts, aber um so mehr an der skrupellosen Aufrechterhaltung der öffentlichen Wahl gelegen ist; in den industriell entwickelten Wahlkreisen fehlt es der Sozialdemokratie nicht an unabhängigen Wahlmännern, und um so schärfer muss der Terror aufrechterhalten werden, der durch die öffentliche Wahl ausgeübt wird. Einzelne reaktionäre Blätter suchen diese aufgeregten Gemüter zu beschwichtigen, indem sie sagen, es handle sich ja nur um eine vorläufige Abstimmung, die keinen anderen Zweck habe als der Wahlreform zunächst alle Zähne auszubrechen, die etwa beißen könnten. Für die endgültige Abstimmung sei damit noch nichts gesagt, und schließlich könne diese neue „Reform" wie die alte auch wohl noch in der Wolfsschlucht verschwinden.

Dies ist möglich, und es entspricht wohl auch der geheimen Sehnsucht der ostelbischen Junker, die am liebsten gar nichts an der „bewährten" Dreiklassenschmach ändern möchten. Aber die Ultramontanen haben doch andere Interessen. Die schönen Reden, die sie dermaleinst in diesem selben Abgeordnetenhaus mit ihrem berühmten Herrn Windthorst an der Spitze für das allgemeine Wahlrecht gehalten haben, sind nicht vergessen, und sie mögen es nicht verantworten, dass ihre Wähler, die schon durch die „Finanzreform" ungebärdig geworden sind, sich nun auch in Sachen der „Wahlreform" völlig den Mund wischen sollen, zumal da alsdann die Gefahr droht, dass die Wahlrechtsbewegung auch unter ihren Schäflein einen stärkeren Anhang finden wird. Den Ultramontanen muss also an irgendeinem faulen Zauber gelegen sein, der ihren Wählern Sand in die Augen streut, und insofern ist es keineswegs ganz ausgeschlossen, dass ihre Missgeburt schließlich doch aus der Taufe gehoben werden wird.

Notwendig dazu wäre natürlich die Zustimmung der Regierung, aber es kennzeichnet die deutschen Zustände, dass eigentlich niemand danach fragt, was Herr v. Bethmann Hollweg zu dem Präsent des Schnapsblocks sagt. Freilich ist ihm seine Vorlage auf den Kopf gestellt worden, soviel die Wahlrechtskommission überhaupt davon übrig gelassen hat; die Abstufungen des Wahlrechtes für ehemalige Unteroffiziere oder sonstige, durch Bildung und staatsmännische Begabung hervorragende Elemente hat sie kurzerhand in den Papierkorb versenkt, was beiläufig nicht getadelt werden soll, sondern als der einzige verdienstliche Kommissionsbeschluss gelobt werden muss. So schmählich ist selten ein Parlament mit einer Vorlage der Regierung umgesprungen; gleichwohl wird im Grunde niemand durch die Frage beunruhigt, was die Regierung darauf tun wird. Herr v. Bethmann Hollweg gilt nun einmal als der Esel, der die Säcke des Junkertums unweigerlich zur Mühle tragen muss; ob er es gern oder ungern tut, das geht schließlich nur ihn an und ist als quantité négligeable für die Öffentlichkeit ganz gleichgültig.

Es liegt eine Nemesis darin, dass die angeblich „stärkste" aller Regierungen auf diesen Grad vollkommener Nichtigkeit gesunken ist. Gewiss hat auch das Gaukel- und Schaukelspiel parlamentarischer Parteiregierungen seine schweren Schattenseiten, und am wenigsten kann es das Ideal der Arbeiterklasse sein. Allein es ist wenigstens ein ehrliches und offenes Spiel, oder wenn man etwa einwenden will, dass bei seinen Kniffen und Pfiffen auch nicht viel von Ehrlichkeit und Offenheit zu spüren sei, so verschmäht es wenigstens die dürftige Maske der Heuchelei, um seine Sünden zu verbergen. Es versteckt sich nicht so ängstlich vor der Kritik wie das preußische Regimentssystem, das Stein und Bein leugnet, eine Parteiregierung zu sein, und dabei gehorsam nach der Flöte tanzt, die hinter den Kulissen von der Clique der Junker geblasen wird. Eine schwächere Regierung, mag man nun auf Kopf oder Herz sehen, als diese preußische hat es nie gegeben, und ihre Schwäche tritt umso abstoßender hervor, je mehr sie mit ihrer „Stärke" prahlt und auf die Treu und Redlichkeit pocht, worauf sie gegründet sein will.

Es hat deshalb auch wirklich keinen Zweck, sich den Kopf des Herrn v. Bethmann Hollweg über das konservativ-ultramontane Wahlrechtskompromiss zu zerbrechen. Er wird tun, was ihm seine „gottgegebene Abhängigkeit" von den Junkern gebietet, und damit basta. Wichtiger ist immerhin noch, wie sich der Liberalismus mit dieser neuen Wendung der Dinge abfinden wird. Bisher markiert er mehr oder minder entschlossenen Widerstand; sosehr er sich in taktisch falscher Berechnung auf die geheime Wahl kapriziert hat, so ist ihm die Erfüllung dieses Wunsches durch den Schnapsblock doch gar zu ruppig. Damit ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass er schließlich, wenigstens zum Teil, umfallen wird; die elende und nichts weniger als tapfere Art, womit der freisinnige Herr Cassel neulich im Abgeordnetenhaus den sozialdemokratischen Wahlrechtskämpfen in den Rücken fiel, indem er als freiwilliger Helfer der Polizei mit den wohlfeilsten Tiraden über die Straßenkundgebungen herfiel, eröffnet in dieser Beziehung recht trübe Aussichten. Auch dass die freisinnigen Häupter mancher großen Städteverwaltungen, wie Herr Adickes in Frankfurt a. M., den Protest gegen das Machwerk der preußischen Regierung nicht mitmachen wollen, weil den städtischen Behörden verboten sei, sich mit politischen Fragen zu beschäftigen, ist ein bedenkliches Zeichen. Leute, die nicht einmal über den Schwanz wegkommen, werden ihr Lebtag nicht über den Hund wegkommen.

Indessen liegt auch daran nicht allzu viel. Man muss ja den Liberalen, wenn sie so tun, als ob sie noch könnten und möchten, wie kranken Schimmeln zureden, aber es ist eine etwas lästige und leidige Pflicht, bei deren Erfüllung bisher nicht viel herausgekommen ist und auch in Zukunft wohl nicht viel herauskommen wird. Die entscheidende Hauptsache bleibt, ob die Wahlrechtsbewegung der Massen in ununterbrochenem Flusse beharrt, und um sie zu schüren, ist das neue Scheusal geradeso gut geeignet wie das alte. Es wendet aufs glücklichste die Gefahr ab, durch ein einzelnes, halbwegs wichtiges Zugeständnis die Frage für den braven Spießbürger zu versumpfen; es kompromittiert aufs neue in der heillosesten Weise den Schnapsblock und zeigt abermals mit der wünschenswertesten Klarheit, dass es nicht mehr aufs Biegen, sondern nur noch aufs Brechen ankommen kann.

Die reaktionären Blätter glauben ihren Spott mit der „kochenden Volksseele" treiben zu dürfen, und man sagt vielleicht auch, dass die Parteien des Schnapsblocks doch sehr sicheren Boden unter den Füßen haben müssten, wenn sie ihren Verrat an den Interessen des Volkes in gar so schamloser Weise treiben. Und gewiss glauben die Konservativen und die Ultramontanen diesen Boden noch unter den Füßen zu haben. Jedoch die Geschichte lehrt allzu häufig, dass dieser Glaube ein sehr unsicherer und unzuverlässiger Gradmesser der drohenden Gefahr ist, dass er sich in dem Maße zu steigern pflegt, worin seine Berechtigung abnimmt; unter diesem Gesichtspunkt nennt selbst Treitschke ihn einmal eine unheimliche Erscheinung der Geschichte.

Worauf es ankommt ist allein, das in den Massen der Nation endlich entzündete Feuer nicht wieder erlöschen zu lassen. Mag es vorerst nur in dem morschen Gebälke schwelen, ein frischer Windstoß, komme er nun von außen oder von innen, wird die hellen Flammen zum Dache hinaus schlagen lassen.

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